Schwache Schultern tragen mehr

Die OECD liefert schwarz auf weiß, was viele schon wussten - das deutsche Steuersystem ist unsozial und ungerecht

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Außer in Belgien werden in keinem der dreißig OECD-Staaten Geringverdiener so hoch besteuert wie in Deutschland. Während Alleinerziehende und Doppelverdiener unter hohen Abgaben leiden, subventioniert das deutsche Steuersystem in einer Art Herdprämie Familien, in denen nur ein Partner berufstätig ist. Ein besonderer Effekt des deutschen Steuer- und Abgabensystems besteht darin, dass die relative Abgabenlast ab einem bestimmten Grenzwert mit steigendem Einkommen sinkt – dieser Sondereffekt ist lediglich in drei OECD-Staaten festzustellen. Dies sind die Ergebnisse der aktuellen Studie "Taxing and Wages", die gestern von der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) vorgestellt wurde.

Von den Arbeitskosten eines alleinstehenden Normalverdieners ohne Kinder, die von der OECD als Bruttolohn plus Sozialkostenanteil des Arbeitgebers definiert werden, müssen in Deutschland 52% in Form von Steuer- und Sozialabgaben abgeführt werden. Hierbei belegt Deutschland hinter Ungarn und Belgien den dritten Platz in der OECD. Während die Einkommenssteuer sich mit 18,6% im Mittelfeld bewegt, nehmen die Sozialabgaben mit 33,4% einen Spitzenplatz in der OECD-Skala ein.

Herdprämie für das klassische Familienmodell

Wenn dieser Normalverdiener einen nicht berufstätigen Partner heiratet, ändert sich dies rapide. Mit 36,4% Abgabenlast nimmt der deutsche Normalverdiener dann einen Mittelplatz im OECD-Ranking ein. Anders als die meisten Industrieländer subventioniert Deutschland das klassische Familienmodell mit der Hausfrau am Herd, die sich um die Kinder kümmert.

Steuerlich wird eine Familie sogar oft bestraft, wenn der zweite Partner eine Arbeit aufnimmt. So liegt die Abgabenlast bei gleichem Familieneinkommen bei Doppelverdienern höher als bei Familien mit nur einem Verdiener.

Zahlemann Geringverdiener

So sehr die klassische Familie in Deutschland entlastet wird, so sehr wird der Geringverdiener belastet. Ein Alleinstehender, der zwei Drittel des Durchschnittsgehalts von 44.000 Euro verdient, muss hierzulande 47,3% seines Bruttolohns in Form von Einkommenssteuern und Sozialabgaben wieder abführen. Nur in Belgien müssen Geringverdiener noch mehr zahlen. Damit werden Geringverdiener in Deutschland höher besteuert als gutverdienende Paare, bei denen ein Partner es sich leisten kann, nicht zu arbeiten.

Der Unterschied in der Belastungsquote zwischen einem Geringverdiener, und einem Single mit 63.000 Euro Jahresverdienst, der relativ die höchsten Abgaben zu leisten hat, liegen bei lediglich 6,4 Prozentpunkten – in anderen Ländern kriegen Geringverdiener sogar Zuschüsse vom Staat, so dass sie netto mehr in der Tasche haben, als sie brutto verdienen. Wer Gering- und Normalverdiener derart hoch besteuert wie Deutschland, braucht sich nicht über eine mangelnde Binnennachfrage zu wundern – woher soll das Geld auch kommen?

Eine deutsche Besonderheit stellt der Umstand dar, dass ab einem Einkommen von 63.000 Euro pro Jahr bei Alleinstehenden die relative Abgabenlast sinkt. Eigentlich müsste bei einem progressiven Steuersystem die Abgabenlast zwar steigen, zumal dieser Grenzwert weit unter dem Einkommen liegt, für das der Spitzensteuersatz anfallen würde, aber ein besondere Regelung macht es möglich, dass Besserverdiener entlastet werden. Verantwortlich dafür sind die Beitragsbemessungsgrenzen, ab denen die Sozialabgaben nicht mehr relativ zum Einkommen steigen.

Dies führt zur paradoxen Situation, dass ein Spitzenmanager prozentual weniger von seinem Bruttogehalt abführen muss als ein Geringverdiener. Außer Deutschland leisten sich nur Österreich und Spanien ein derart ungerechtes Steuer- und Abgabensystem. Die politische Floskel, nach der die Starken mehr schultern, lässt sich durch die OECD-Zahlen ad absurdum führen. Den Schwachen wird in Deutschland mehr aufgebürdet als den Starken – dass die Schwachen durch die hohen Abgaben noch weiter geschwächt werden, wird dabei billigend in Kauf genommen.

Was die OECD verschweigt

Die Zahlen der OECD beziehen sich nur auf die Einkommen aus sozialversicherungspflichtiger Arbeit. Eine weitere Spezialität des deutschen Steuer- und Sozialsystems ist allerdings, dass Einkommen aus anderen Quellen weder zum vollen Satz versteuert werden müssen, noch zur Finanzierung des Sozialsystems herangezogen werden. Sowohl der Spekulant, als auch der Milliardär, der sein Einkommen aus Kapitaleinkünften wie beispielsweise Dividendenzahlungen bezieht, wird in Deutschland mit pauschal 25% Abgeltungssteuer (plus Solidaritätszuschlag) besteuert.

Die höheren Einkommenssteuersätze gelten nicht für Kapitalerträge. Das Ergebnis dieser ungerechten Politik ist, dass ein Normalverdiener prozentual doppelt so viel von seinem Einkommen an den Staat abführen muss, als ein Milliardär, der sein Geld für sich arbeiten lässt. Während ein Geringverdiener rund ein Drittel seines Einkommens für das Sozialsystem abführen muss, entzieht sich dieser Milliardär komplett aus dessen Finanzierung.

Die Mär vom Hochsteuerland

Wer sich durch die hohe Abgabenlast für Gering- und Normalverdiener dazu verleiten lässt, generell die zu hohe Besteuerung in Deutschland zu kritisieren, der irrt. Wenn man die gesamten Steuereinnahmen der OECD-Staaten in Verhältnis zu deren Bruttoinlandsprodukt betrachtet, so nimmt Deutschland mit einer Staatsquote von 36,2% einen der hintersten Ränge ein. Staaten wie Österreich (41,9%), Frankreich (43,6%) oder Dänemark (48,9%) nehmen wesentlich mehr Steuern ein als Deutschland.

Anders als hierzulande werden in diesen Ländern allerdings nicht die Gering- oder Normalverdiener fürstlich zur Kasse gebeten. Deutschland ist kein Hochsteuerland, sondern ein Steuerparadies – wenn auch nicht für Gering- und Normalverdiener.

Ausweg Bürgerversicherung

Die Ungerechtigkeit des deutschen Steuer- und Abgabensystems ist allerdings nicht in Stein gemeißelt. Es gäbe praktikable Wege, die Abgabenbelastung im unteren und mittleren Einkommensbereich zu mindern, ohne gleichzeitig die Steuern zu senken, was anlässlich der katastrophalen Situation in den öffentlichen Kassen kaum möglich ist. Wenn man nur alle Einkommen zur Finanzierung des Sozialsystems heranziehen und die Beitragsbemessungsgrenzen wegfallen lassen würde, würden die Solidarabgaben für Gering- und Normalverdiener kräftig sinken.

Solche Konzepte liegen bereits in unterschiedlichen Fassungen als „Bürgerversicherung“ in den Schubladen der SPD, der Grünen und der Linken. Der politische Wille, diese Konzepte umzusetzen, fehlt allerdings.