Wir denken wie Maschinen

Das Gehirn denkt offenbar stets alle möglichen Handlungspfade bis ans Ende - und bezieht die Konsequenzen daraus in seine Entscheidungen ein

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Wenn man über den Unterschied zwischen einer Schach-Software und einem menschlichen Spieler räsoniert, benennt man oft als entscheidenden Unterschied diesen: Während die Maschine alle Handlungsbäume bis an ihr Ende durchdekliniert und die Ergebnisse vergleicht, benutzt ein Schachspieler eine mysteriöse Funktion namens Intuition, um sich den Weg entscheidend abzukürzen. Mal davon abgesehen, dass moderne Schachsoftware weit ausgefuchster funktioniert, als es diese Vereinfachung beschreibt, ist offenbar auch die Vermutung fragwürdig, nach der sich ein biologisches Gehirn auf einen bestimmten Entscheidungszweig konzentriert.

Tatsächlich hat die Wissenschaft sogar einen Namen für diesen eigentlich „maschinenhaften“ Denkprozess, den man mit „fiktives Denken“ übersetzen könnte. Gemeint ist dabei nicht „ausgedachtes“ Denken - eindeutig ein Pleonasmus - sondern Denken, das sich mit rein fiktiven Konsequenzen befasst, eine Betrachtung der Aktionen, die man eben nicht ausgeführt hat. Das beherrscht nicht nur der Mensch, auch Primaten sind dazu durchaus fähig - und an diesen haben Forscher nun untersucht, wie fiktives Denken überhaupt funktioniert.

Das ist deshalb bedeutsam, weil es im Alltag gesunder ebenso wie kranker Menschen eine wichtige Rolle spielt. Dabei geht es darum, auf Reize - also etwa auch Belohnungen oder Strafen - zu reagieren, die man gar nicht selbst erlebt hat oder die nur anderen widerfahren sind. Allein die fiktive Möglichkeit, im Lotto den Jackpot zu knacken und Multimillionär zu werden, bringt viele Menschen schon dazu, den Topf der Lotteriesteuer aus freien Stücken zu füllen. Fiktives Denken kann auch gestört sein - Angststörungen könnten fiktive Konsequenzen derart überbewerten, dass gar keine Entscheidung mehr möglich ist. Bei gestörter Impulskontrolle hingegen fallen Entscheidungen, ohne andere mögliche Folgen überhaupt noch zu beachten.

Im Wissenschaftsmagazin Science beschreibt jetzt ein Forscherteam der amerikanischen Duke University, wie fiktives Denken organisch funktioniert. Dazu untersuchten sie den Entscheidungsprozess von Rhesusaffen. Die Tiere mussten aus acht in einem Kreis angeordneten Zielen wählen. Sieben der Ziele enthielten geringe Mengen einer Belohnung, das achte Ziel hingegen enthielt variable, aber große Mengen der Belohnung. Nachdem der Affe ein Ziel ausgesucht hatte, wurden die Werte aller acht Ziele aufgedeckt, eine halbe Sekunde später erhielt das Versuchstier die Belohnung aus dem von ihm gewählten Ziel. Vor der nächsten Runde wurde das Ziel mit der großen Belohnung (für den Affen nicht erkennbar) mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent in Uhrzeigerrichtung verschoben, zu 60 Prozent verblieb es an seinem Platz.

Die Forscher konnten zunächst zeigen, dass die Affen die Grundlagen des Versuchs durchaus verstanden. Sie verdienten sich im Mittel 88,5 Prozent der Belohnungsmenge, die ein allwissender Beobachter sich verdient hätte - ein Wert, der eine clevere Strategie impliziert. Allerdings änderte sich die Wahrscheinlichkeit, mit der unsere Varianten Risiken eingingen, mit der Höhe der potenziellen Belohnung - einer fiktiven Belohnung, den der bekannte Wert stammte ja stets aus dem vorhergehenden Versuch, über den aktuellen Versuch hatten die Affen stets keinerlei Kenntnisse.

Interessant war aber auch, was sich derweil im Gehirn der Versuchstiere abspielte, das die Forscher mit Hilfe einer implantierten Aufnahmekammer ("recording chamber") untersuchten. Der vordere cinguläre Cortex wurde insgesamt umso stärker aktiviert, je höher die fiktive und tatsächliche Belohnung waren. Ein Teil (und zwar der größere) der Neuronen verhielt sich dabei proportional zur tatsächlich erhaltenen Belohnung. Ein weiterer Neuronenanteil jedoch reagierte umso kräftiger, je größer die fiktive Belohnung ausgefallen war. Offenbar werden beide Informationen gleichberechtigt im cingulären Cortex verarbeitet und zur Entscheidung herangezogen - und zwar von denselben Neuronen. Die Forscher leiten daraus ab, dass der vordere cinguläre Cortex womöglich ein Modell der künftigen Belohnungs-Situation aufbaut, das er aus allen vorhandenen Informationen generiert.