Rechtsstaat gegen Schönheit?

Am Wahltag wollten Aktionskünstler dem Bundespräsidenten ein Gedicht vortragen - und wurden abgeführt

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„Wir haben nicht mit einer Festnahme gerechnet. Zumal wir eine Woche zuvor mit Pferd vor den Bundestag geritten sind, um 10 Thesen im Namen der Schönheit ans Hauptportal anzuschlagen. Wenn wir einmal als Gruppe von Aktionskünstlern wahrgenommen werden, warum sollten wir dann für das Rezitieren eines Gedichtes verhaftet werden?“, fragt Philipp Ruch, Initiator der Aktion am vergangenen Sonntag.

Ruch ist Mitglied der Aktionskünstlergruppe Zentrum für politische Schönheit, die als Partei auch zur Bundestagswahl im September antreten will. In der vergangenen Woche hatten Mitglieder der Gruppe, angelehnt an Martin Luther, ihre 10 Schönheisthesen vor dem Berliner Reichstag ausgerufen. Die Presse hatte das Ereignis mit Ver- und Bewunderung aufgenommen – wohl mehr aufgrund der originellen Idee und Umsetzung als aufgrund der politischen Schlagkraft der Thesen, die kaum jemand hinter dem Ofen hervorlocken dürfte. Eine der Parloen lautet: "Wenn man das Wort 'Schönheit' gegen das Wort 'Politik' schlägt, erzeugt man den Funken für eine Revolution."

Nina und Ruch van Bergen beim Verlesen des Gedichtes. Bild: Zentrum für politische Schönheit

Als Ruch und seine Kollegin Nina van Bergen am Sonntag nach Verkündigung des Wahlausganges Bundespräsident Horst Köhler per Gedichtlesung gratulieren wollten, schritt die Polizei ein. „Die Beamten wollten zunächst wissen, was wir vorhaben. Wir erklärten den genauen Ablauf der Aktion. Es wurde viel hin und her gefunkt. Schließlich kam die offizielle Genehmigung: es sei uns gestattet, eine Aubade für Horst Köhler vorzutragen“, so Ruch. Sie verlasen das Gedicht An die Schönheit des im ersten Weltkrieg von einer Granate getöteten Expressionisten Ernst Stadler.

„Nachdem wir mit dem Gedicht für Horst Köhler fertig waren, stürmten aufgebrachte Polizisten auf uns zu und erklärten die Aktion für beendet. Das Gedicht habe "meinungsäußernde Inhalte" enthalten.“

Eine Gruppe Passanten, so Ruch, sei ihm und seiner Kollegin beigesprungen und habe mit den Polizisten zu diskutieren versucht, deren Schulbildung sie für einen derartigen Einsatz offenbar nicht ausreichend gewappnet habe.

„Wenige Minuten später hieß es: Strafanzeigen gegen uns alle. Als wir die Beamten darauf hinwiesen, dass sie selbst das Gedicht abgesegnet hatten, reagierten sie sehr aufgebracht. In sichtlicher Hilflosigkeit hieß es - offenbar wieder von oben: Festnahme“, erzählt Ruch und lässt dabei ein Schlagwort fallen: Hilflosigkeit. Das Schema kennt man aus Diktaturen. Auch dort wurden und werden Kunst und Künstler repressiv behandelt, eben weil die Staatsführung Angst vor unentdeckten politischen Botschaften hat. Dass Ähnliches nun in der Demokratie Deutschland, 60 Jahre nach ihrer Gründung, geschieht, rückt die ganze Aktion in ein Licht, in dem sie nie geplant war. Was als origineller Gruß gedacht war, wird zum Politikum, was wiederum den Künstlern erst die gewünschte Aufmerksamkeit bringt.

Laut Ruch hätten die Beamten angekündigt, dass gegen die Gruppe Strafanzeige ergehen werde. „Ich freue mich auf den Staatsanwalt, wenn es darum geht, Ernst Stadlers Gedicht "An die Schönheit" zu interpretieren. Lange ist es her, dass Verse im Gerichtssaal ausgelegt werden mussten.“