"Seelische, physische und materielle Wunden schlagen"

Der israelische Friedensaktivist Jeff Halper über die Landpolitik seiner Regierung

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Tagelang rätselten die israelischen Zeitungen, ob Israels neuer Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei seinem Staatsbesuch in Washington diesen Begriff über die Lippen bringen würde: „Zweistaaten-Lösung“. Nun ist klar: Er tat es nicht. Jeff Halper verstört dies nicht. Der Friedensaktivist, Mitbegründer und Direktor des Israelischen Komitees gegen die Hauszerstörungen (ICAHD) meint: Worte hin oder her - weder der jetzige israelische Ministerpräsident noch seine Vorgänger hatten je anderes im Sinn als einen Apartheids-Staat.

Was genau umfasst die „Zweistaaten-Lösung“?

Jeff Halper: Das ist seit über zwanzig Jahren, seit 1988, klar: Israel würde 78 Prozent des historischen Palästina vor 1948 erhalten und hätte somit einen jüdischen Staat – selbst wenn die jüdische Bevölkerung darin demographisch die Minderheit stellen würde. Die Palästinenser hingegen erhielten die Souveränität über 22 Prozent ihres einstigen Territoriums. Dieser Lösung hat die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) bereits 1988 zugestimmt. Ebenso die Arabische Liga im Jahr 2002 wie die gesamte so genannte internationale Gemeinschaft.

Weshalb hat Israel diesen Vorschlag von 1988 nicht akzeptiert?

Jeff Halper: Gute Frage – die aber meistens nicht gestellt wird. Israels Mantra vom Frieden wäre längst obsolet, hätte es damals eingewilligt. Die andere Frage aber ist: Will Israel überhaupt Frieden? Oder leiert es sein Mantra nicht unermüdlich herunter, um von etwas anderem abzulenken. Was Israel tatsächlich verfolgt ist das, was ich den „Anspruch der Exklusivität“ nenne. Drei Überzeugungen fallen darunter.

Erstens: das Land gehört den Juden. Die Palästinenser leben nur dort, weil die Juden so tolerant sind – und nicht, weil sie es de facto seit Jahrhunderten tun. Das geht soweit, dass sich viele Israelis scheuen, überhaupt von „Palästinensern“ zu sprechen und somit eine lokale Zugehörigkeit in Anschlag zu bringen. Sie ziehen ein generalisierendes „die Araber“ vor. Das impliziert eine weitere Heuchelei: Israel präsentiert sich dem Westen – und sich selbst – als „einzige Demokratie im Nahen Osten“. De facto ist es eine Ethnokratie. Denn egal, welche Ethnie auf diesem Boden in welcher Proportion lebt: das Sagen sollen immer die Juden haben.

Das zweite Diktum lautet: die nebulöse Masse namens „Araber“ sind die Feinde der Juden. Es ist völlig gleichgültig, welche Friedensvorschläge von welcher Seite kommen, ob Yassir Arafat einen Friedensnobelpreis erhält oder nicht oder wie oft die Hamas indirekt das Existenzrecht Israels akzeptiert. Der Nenner läuft immer auf dasselbe hinaus: „die Araber sind unsere Feinde. Punkt.“

Die dritte Überzeugung geht dahin, dass die Besatzung nur vorübergehend ist. Tatsächlich soll sie einer dauerhaften Kontrolle über alle Palästinenser weichen.

Wie macht sich diese Strategie in der Verteilung des Bodens manifest?

Jeff Halper: 95 Prozent der Palästinenser in den besetzten Gebieten leben in Zone A oder B, die zusammen 40 Prozent des Gebietes ausmachen. Nach dem Oslo II-Abkommen von 1995 wird Zone A, die ca. 17 Prozent des Territoriums in der Westbank ausmacht und Städte wie Jenin, Tulqarem, Nablus, Ramallah und Bethlehem einschließt, von den Palästinensern militärisch und zivil regiert. Zumindest auf dem Papier, denn all diese Städte hält das israelische Militär, wann immer es will und vor allem seit Ausbruch der zweiten Intifada, weiter im Würgegriff.

Zone B mit ca. 23 Prozent verblieb gleich offiziell unter israelischer Militärherrschaft, wenngleich mit einer papierenen palästinensischen Verwaltungshoheit. Zone C, die übrigen 59 Prozent des Westjordanlandes, fielen unter alleinige israelische Kontrolle. 93 Prozent von Gesamtisrael gelten als „off-limit“ für Nichtjuden, wovon ganze 50 Prozent ausschließlich dem Militär vorbehalten sind. Zeitgleich machen die in Israel lebenden Palästinenser ca. 20 Prozent der Bevölkerung aus. Dennoch ist ihre Präsenz per Gesetz auf 3,5 Prozent des Territoriums beschränkt. Sie leben regelrecht eingepfercht in 70 Inseln in den Zonen A und B.

Der zuvor erwähnte Friedensvorschlag von 1988 gewährt den Palästinensern 22 Prozent ihres einstigen Landes. Doch selbst das ist dem jetzigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu – wie all seinen Vorgängern – 22 Prozent zuviel. Bereits Ariel Sharon führte den Begriff der „Kantonisierung“ im Mund.

Israel kontrolliert das Wasser zu 100 Prozent; Palästinenser dürfen nicht einmal Regenwasser ohne spezielle Genehmigung aufsammeln

Vergleiche mit dem südafrikanischen Apartheidsregime, den „Bantustans“ oder „Kantonisierungen“ werden oft herangezogen, auch von Ihnen. Wie machen Sie das anhand der israelischen Realpolitik fest?

Jeff Halper: Es gibt mehrere große israelische Siedlungsblöcke, die das gesamte Territorium aufspalten. Der erste ist im Jordantal und umschließt den Fluss Jordan und die Grenze zu Jordanien, womit ein potentieller Palästinenserstaat niemals eine unbeaufsichtigte Grenze zu einem arabischen Nachbarland hätte, denn das Gleiche geschieht im Westen beim Übergang von Rafah im Gazastreifen nach Ägypten.

Der zweite Siedlungsblock ist der so genannte Ariel-Block, der eine der größten Wasserressourcen der Region umfasst, wodurch Israel zu 100 Prozent das Wasser regiert. Palästinenser dürfen übrigens nicht einmal Regenwasser ohne spezielle Genehmigung aufsammeln.

Der dritte Block erstreckt sich um Modi’in Illit und Jerusalem. Modi’in soll die größte Stadt Israels werden und erstreckt sich über die Grüne Linie hinaus.

Der vierte Block besteht aus dem so genannten „Großjerusalem“. Mit ihm wird das Zentrum des Westjordanlandes kontrolliert und Ost-Jerusalem vom Rest der West-Bank isoliert. Das hat einen enormen wirtschaftlichen Effekt, da sich 40 Prozent der palästinensischen Wirtschaft um Ost-Jerusalem abspielen. Allen voran wird so ihr größtes Potential, der Tourismus, abgewürgt.

Der fünfte Siedlungsblock erstreckt sich südlich nach Hebron.

Seit 1967 wurden 24.000 Häuser zerstört

Zur Aufstückelung des Territoriums und der Verhinderung von Bewegungsfreiheit durch Checkpoints und Straßensperren kommen noch die Häuserzerstörungen hinzu. Seit 1967 sind es 24.000 Häuser. Nur ca. 10 Prozent davon standen in Zusammenhang mit irgendwelchen verdächtigen Personen. Der Rest gehört normalen Leuten, deren Häuser jedoch Israel im Wege stehen. Allein im vergangenen Jahr zerstörte Israel dreimal so viele Häuser innerhalb seines Territoriums als in den besetzten Gebieten. Ebenso walzte es darin bislang 500 Dörfer nieder – ein Beduinendorf im Negev, das immer wieder aufgebaut wurde, war 18 Mal betroffen.

Vielfach ist der Grund der, dass Palästinensern keine Baugenehmigungen erteilt werden. Bauen sie dennoch, werden ihre Häuser niedergerissen. Eine weitere offizielle Erklärung für die Häuserzerstörungen lautet, dass das Land für landwirtschaftliche Zwecke vorgesehen sei, doch vielfach ist kein einziger Baum darauf gepflanzt. Das alles ist vorgeschoben. Sie errichten, wie während des südafrikanischen Apartheidsregimes, Bantustans, mittels derer sie die Palästinenser einpferchen und kontrollieren.

Symbolische Wunden: Der Weiterverkauf alter Olivenbäume von palästinensischen Bauern an hippe Israelis

Zu dieser physischen und materiellen Zerstörung kommt noch eine perfide seelische hinzu: Israel entwurzelt gerne die alten Olivenbäume der palästinensischen Bauern – und das überaus sorgsam. Denn die Bäume werden an Israelis weiterverkauft. Es gilt als ausgesprochen schick im hippen Nord-Tel-Aviv einen alten Olivenbaum im Garten stehen zu haben. Bis zu 4000 Euro werden dafür bezahlt. Oder aber man pflanzt sie in den israelischen Kreisverkehr. Das nenne ich „symbolische Wunden in die Menschenwürde“ schlagen.

Last but not least: die Mauer. Dieses weitere monströse Kontrollelement , das fünfmal länger als die Berliner Mauer ist und stellenweise acht bis neun Meter hoch, bezeichnet Israel als “Zaun”. Tatsächlich aber schließt die Mauer die Palästinenser in Zellen ein, denn sie teilt das Land im Gegensatz zur Berliner Mauer nicht gerade durch, sondern sie verläuft um die illegalen israelischen Siedlungen herum – zieht diese somit auf israelisches Territorium illegal herüber. Mitunter durchquert sie auch palästinensisches Eigentum. Sie läuft beispielsweise quer durch den Campus der Al Quds-Universität in Jerusalem. Somit sitzen die Palästinensern auf beiden Seiten der Mauer. Nun frage ich Sie: Wenn sich Israel wirklich um seine Sicherheit ängstigt, würde es dann seine „Feinde“ auf beiden Seiten der Mauer ansiedeln?

Netanjahu hat bei seinem Besuch in Washington nicht von einer Zweistaaten-Lösung gesprochen – Obama hingegen besteht darauf. Was glauben Sie, wie die neue israelische Regierung weiter verfahren wird?

Jeff Halper: Ich weiß nicht, wie Netanjahu sich aus der Sache winden will. Aber selbst wenn er jemals den Begriff „Zweistaaten-Lösung“ ausspricht, wird er tatsächlich „Apartheid“ meinen und das Ganze auch als solches dem Westen verkaufen wollen. Ich weiß aber auch nicht, ob Obama nicht letztlich ähnliches versuchen wird: nämlich etwas mehr als die jetzigen paar Landfetzen den Palästinensern als eigenen Staat verkaufen wollen…

Jeff Halper (59) gründete 1997 das Israelische Komitee gegen Hauszerstörungen (ICAHD). Das Komitee gehört zu den ersten israelischen Friedensgruppen, die mit Palästinensern in Israel und in den besetzten Gebieten zusammenarbeiten. Das ICAHD widersetzt sich mit juristischen Mitteln und gewaltfreien Aktionen der Zerstörung palästinensischer Häuser.

Seit 9. Mai ist Halper zudem Träger des Kant-Weltbürgerpreises 2009, den die Freiburger Kantstiftung alljährlich verleiht und mit dem sie sich für die Einhaltung eines weltbürgerfähigen politischen Ethos im Sinne Immanuel Kants einsetzt.