Zu Ende gekocht

Der Bundesgerichtshof gibt nach drei Jahren in letzter Instanz den Film "Rohtenburg" frei

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Am 26. Mai entschied der Bundesgerichtshof, dass Martin Weisz’ Film „Rohtenburg“ nun doch in Deutschland gezeigt werden darf und stellte Kunstfreiheit vor Persönlichkeitsrechte – aber nicht grundsätzlich.

Der Fall hatte 2001 die Gemüter, mehr aber noch die Medien bewegt (siehe auch Das Fleisch soll Wort werden): Ein Mann aus dem hessischen Rotenburg lernte in einem Internetforum einen anderen Mann aus Berlin kennen, welcher sich bereitwillig verspeisen ließ. Der Täter filmte den Vorgang teilweise und verriet sich im Internet. Die Medien waren in diesem Kannibalismus-Skandal also von Beginn an „beteiligt“. Wenn derartige Skandale öffentlich werden, sind es bekanntermaßen vor allem die Boulevard-Medien, die die meisten Informationen in Umlauf bringen. Fakten sind bei Tabu-Verletzungen bares Geld wert.

Dass der Kannibalismus-Fall Gegenstand kultureller Verarbeitung werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Glücklich konnte sich schätzen, wer sich frühzeitig die Verwertungsrechte für die Geschichte sicherte, denn bei einer Straftat gibt es einige Rechtsgüter zu schützen, die eventuell durch das mediale Interesse an Veröffentlichung angegriffen werden. Dazu zählt in erster Hinsicht das Persönlichkeitsrecht der Tatbeteiligten – in diesem Fall vor allem des Täters. Dies muss aber von diesem selbst eingefordert werden – und wen er einer Verletzung dieses Rechtes bezichtigt, bleibt ihm überlassen.

Konkret hatte der Täter einer Hamburger Medienagentur frühzeitig die Verwertungsrechte „seiner Geschichte“ angeboten. Eifrig wurden ein Buch und Dokumentarfilm produziert.

Unautorisierte Fallverarbeitung

Dass sich auch andere Publizisten und Künstler für den Fall interessierten, ist bekannt: Mehrere Spielfilme haben sich den „Kannibalen von Rotenburg“ zum Haupt- oder Nebenthema gemacht. Es sind Bücher und Artikel über den Fall erschienen – allesamt „unautorisiert“. Gegen einige dieser Produktionen hatte der mittlerweile rechtskräftig verurteilte Täter Klage erhoben. Er sah seine Persönlichkeitsrechte damit verletzt.

Das größte Aufsehen hatte diesbezüglich Martin Weisz’ Spielfilm "Rohtenburg" erregt, bei dem die Anwälte des Klägers „88 Übereinstimmungen“ mit dessen Biografie feststellten – ein zu großer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte entschied das Oberlandesgericht Frankfurt und ließ den Film verbieten.

„Rohtenburg“ ist aber dennoch in die Kinos gekommen – in die ausländischen; und er hat mittlerweile auch eine Auswertung auf DVD erfahren – bei ausländischen Labels. Die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Fall ließ sich nicht mehr stoppen. Der Verleiher Senator, der den Film in Deutschland starten wollte, ließ sich von der Schlappe vor dem OLG Frankfurt nicht abschrecken und kündigte an „notfalls bis in die letzte Instanz“ gegen das Verbot zu klagen.

Diese Klage ist nun gestern durchgedrungen und „Rotenburg“ wurde vom Bundesverfassungsgericht freigegeben. Die Begründung dieser Entscheidung liest sich vernünftig und nennt zwei wesentliche Aspekte, die bereits zuvor in den Feuilletons diskutiert wurden.

Ein Grundrecht ist nicht aufteilbar

„Zwar könne der Film den Kläger als Person erheblich belasten, weil er die Tat auf stark emotionalisierende Weise erneut in Erinnerung rufe. Als Ergebnis der gebotenen Abwägung zwischen den Rechten des Klägers und der zugunsten der Beklagten streitenden Kunst- und Filmfreiheit müsse das Persönlichkeitsrecht des Klägers jedoch zurückstehen.“

So heißt es in der Pressemitteilung des BGHs zur Entscheidung. Damit ist jedoch keinesfalls ein Freibrief für die Medien erteilt, nach Lust und Laune über Verbrechen und Verbrecher unter Nennung derer Namen zu berichten (Namensnennung gehörte im Fall von „Rotenburg“ jedoch nicht zu den „88 Übereinstimmungen“ – die genaue Lokalisierung des Tatortes hatte da bereits gereicht).

Ähnlich gelagerte Fälle haben in der Vergangenheit zu vielfachen Abmahnungen geführt.

Nein, im Falle des „Kannibalen von Rotenburg“ sah das Gericht die Klage als unbegründet und konstatierte in der Pressemitteilung, es „seien sämtliche Einzelheiten der Öffentlichkeit auch durch Mitwirkung des Klägers bereits bekannt gewesen. Dass die Darstellung neue oder zusätzliche nachteilige Folgen für den Kläger - insbesondere im Hinblick auf seine Resozialisierung - hätte, habe er nicht dargetan.“ Der Argumentation des Klägers ist damit entschieden entgegen getreten worden: Entweder man fordert sein Persönlichkeitsrecht ein oder man fordert es nicht – es einem Dritten „abzutreten“, einen Vierten jedoch deswegen zu verklagen ist unglaubwürdig.

Im Interesse der Öffentlichkeit

Die kurz nach Bekanntwerden der Tat einsetzende „Boulevardisierung“ des Geschehens hat eine breite Öffentlichkeit erreicht und teilweise Debatten losgetreten, die sich weit vom eigentlichen Geschehen entfernt haben. Es wurde (wieder einmal) über stärkere Kontrollen des Internets nachgedacht und es fanden (wieder einmal) Diskussionen um Zwangssterilisationen und sogar die Todesstrafe bei Sexualstraftaten statt.

Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass das erste Gerichtsurteil des Landgerichtes Kassel, das den Täter wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilte auch aufgrund des öffentlichen, das heißt boulevard-medialen Drucks von der nächsten Instanz aufgehoben und in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe wegen Mordes und Störung der Totenruhe umgewandelt wurde.

Das öffentliche Interesse an einem solchen Fall ist verständlich und durchaus legitim. Verbrechen entstehen in einer spezifischen Kultur und daher aus einem kulturellen (Selbst)Verständnis heraus. Wenn ein Fall wie dieser zwei zentrale Tabus, den Kannibalismus und die Selbsttötung bzw. Tötung auf Verlangen, berührt, dann muss die Kultur darauf reagieren. Nur so stellt sich ein Verstehensprozess ein. Das sah auch das BGH so und verlautbarte:

„Auch bestehe an der Tat ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Der Spielfilm enthalte keine Verfremdungen oder Entstellungen und stelle den Achtungsanspruch des Klägers als Mensch nicht in Frage. Zwar berührten die Darstellungen den besonders schutzwürdigen Kern der Privatsphäre des Klägers. Weil diese Informationen sich unmittelbar auf die Tat und die Person des Täters bezögen, dürften aber auch solche Details geschildert werden.“

In diesem speziellen Fall wurde das Recht auf „Kunst- und Filmfreiheit“ (sic!) also über das Persönlichkeitsrecht gestellt. Eine grundsätzliche Entscheidung ist dies nicht, auch wenn Helge Sasse, der Vorstand des Verleihers Senator, das anders in einer Pressemitteilung via E-Mail interpretiert: „Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugunsten der Kunstfreiheit ist richtungsweisend. Sie ist auch ein positives Signal an die gesamte Filmbranche.“

Ob „Rohtenburg“, der durch den damaligen Hype um sein Verbot sicherlich zu etlichen DVD-Eigen-Importen geführt haben dürfte, durch seinen „Freispruch“ jetzt noch zu einer verspäteten Sensation wird, muss sich zeigen.

Senator hatte die Rechte an “Rohtenburg” während des Rechtsstreites an die Produktionsfirma Atlantic Streamline zurückgegeben und sich laut Aussage gegenüber Telepolis zu einem neuerlichen Erwerb bislang noch nicht entschlossen. Grundsätzlich sieht Verleih-Vorstand Sasse die Entwicklung aber positiv: „Ich freue mich, dass der Weg für diesen preisgekrönten Film nun auch in Deutschland frei ist und Marco (Webers) Film endlich das eigentliche Licht der Welt erblicken darf.“