60 Jahre Grundgesetz

Gibt es überhaupt etwas zu feiern?

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Den sechzigsten Jahrestag des Grundgesetzes am 23.5.2009 hat die politische Klasse Deutschlands ausgiebig genutzt, um nicht nur das ach so segensreiche Grundgesetz, sondern auch sich selbst und ihre vermeintlichen Leistungen zu feiern. Das Grundgesetz wird dabei fälschlicherweise als die Mutter des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts in Deutschland dargestellt. Dabei hat der „Glücksfall“ Grundgesetz bei keinem der ihm zugeschriebenen Erfolge eine große Rolle gespielt.

In der Beurteilung der Bedeutung des Grundgesetzes mischen sich das politische Wunschdenken der Kommentatoren und der Anspruch der politischen Klasse auf ihre Rolle als Heilsbringer. Zu den ideellen und materiellen Errungenschaften, die angeblich das Grundgesetz bewirkt haben soll, gehören u.a. der langjährige Frieden in Deutschland und Westeuropa, der stabile Rechtsstaat, das demokratische Bewusstsein der Bürger, die Stärke der deutschen Wirtschaft, der allgemeine Wohlstand, die Anerkennung Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Man vergleicht dabei immer den heutigen Zustand mit der katastrophalen Lage Deutschlands im Jahre 1945 und die heutige Rechtsordnung mit der Tyrannei des Dritten Reiches. Bei einer solchen Gegenüberstellung würde sogar die DDR gut abschneiden, wenn es sie noch gäbe.

Die Verfassung der DDR von 1949 zeigte in den zugesicherten Rechten verblüffende Parallelen zum Grundgesetz! Man käme beim Lesen nicht darauf, dass es sich dabei um einen Polizeistaat gehandelt hat. Papier ist eben geduldig. So lautete Artikel 3 der ersten DDR-Verfassung fröhlich: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das kennen wir schon aus dem Grundgesetz, und da ist es auch gelogen. Praktisch alle Grundrechte des Grundgesetzes garantierte auch die DDR-Verfassung. Es gab sogar ein Recht auf Arbeit (Art 15 DDR), und die Lohn- und Arbeitsbedingungen sollten unter maßgeblicher Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten erfolgen (Art. 18 DDR). Als die Arbeiter der DDR am 17. Juni 1953 dieses Recht einforderten, wurde auf sie geschossen. Die zweite DDR-Verfassung von 1968 gab sich zwar klassenkämpferischer, garantierte aber weiterhin zahlreiche Bürgerrechte, die jedoch nur auf dem Papier bestanden.

Am dauerhaften Frieden in Europa seit 1945 (abzüglich Balkan) hatte das Grundgesetz nicht den geringsten Anteil. Der Dritte Weltkrieg fand nur deswegen nicht statt, weil die Imperialmächte USA und Sowjetunion keinen Krieg wollten. Die Sowjetunion war spätestens nach dem Tod ihres Diktators Stalin im Jahr 1953 zu einem ausgedehnten Landkrieg gar nicht mehr in der Lage, und auch die USA waren nach dem Ende des Koreakrieges 1953 zunächst ein Jahrzehnt lang kriegsmüde. Ein Krieg mittels Atomraketen, der ab den sechziger Jahren technisch möglich war, hätte wahrscheinlich keinen echten Sieger, sondern auf beiden Seiten nur Überlebende hinterlassen.

Der „Kalte Krieg“, der bis Anfang der neunziger Jahre herrschte und der kein eigentliches Kriegsziel, außer der gegenseitigen Abschreckung hatte, bestand nur aus militärischem Imponiergehabe, bei dem die Sowjetunion sich zu Tode rüstete. Die Bundesrepublik, in ihrer Eigenschaft als Bündnispartner in der NATO, war hierbei nur eine Schachfigur, die im Ernstfall bedenkenlos geopfert worden wäre. Zum Ernstfall kam es nicht, denn die beteiligten Mächte hatten keinen Anlass zum Krieg führen. Die Bundesrepublik war nicht etwa durch das Grundgesetz, sondern durch ihren Vasallenstatus, genannt „Einbindung in das atlantische Bündnis“, grundsätzlich an einem Krieg verhindert. Eine Wiederbewaffnung war in den ersten Jahren der Bundesrepublik sogar völlig undenkbar und erst nach einer Änderung des Grundgesetzes formal zulässig. Als die USA erkannten, dass die willfährigen Deutschen bereit waren, in ihre Fremdenlegion namens NATO einzutreten, wurden sie dazu aufgefordert. Die Belohnung bestand in der in der Lockerung des Besatzungsregimes ab 1955, die man euphemistisch „Wiedererlangung der Souveränität“ nannte.

Das Grundgesetz beginnt in seiner Präambel mit einer faustdicken Lüge

Die Bundesrepublik, Nachfolgestaat der Weimarer Republik, wird in den Jubelreden der Politiker zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes gern als gelungenes Beispiel für Demokratie und sozialen Fortschritt gelobt. Die allgemeinen Lebensumstände haben sich in der Tat in den letzten sechzig Jahren in einer Weise verbessert, die unmittelbar nach dem Krieg nicht vorstellbar waren. Aber dazu bedurfte es des Grundgesetzes nicht. Die meisten Bürger können sich - mangels besserer Information - nicht vorstellen, dass die Fortgeltung der Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 (Weimarer Verfassung), die - zumindest auf dem Papier - auch in der NS-Zeit bis 1945 galt, die gleichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbesserungen gebracht hätte wie das Grundgesetz. Die nötigen Anpassungen der Weimarer Verfassung an die Zeit wären nach dem Krieg problemlos möglich gewesen, aber die Alliierten wollten dem Deutschen Reich ein für alle mal den Garaus machen (nach einer noch nicht revidierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 besteht das Deutsche Reich fort).

Die neue Republik mit ihrer provisorischen Verfassung erwies sich für die besitzende und politische Klasse zweifellos als Glücksfall, und das bekommen wir auch regelmäßig zu hören. Jedoch fragt man sich: Wie konnten andere europäische Staaten ohne unser Grundgesetz politisch stabil bleiben und wirtschaftlich prosperieren? Vielleicht braucht ein gelungener Staat gar kein Grundgesetz, sondern nur eine innerlich und äußerlich befriedete, fleißige und gesetzestreue Gesellschaft. Die gewöhnliche Bevölkerung hat vom Grundgesetz jedenfalls nicht mehr, als sie von einer modifizierten Weimarer Verfassung gehabt hätte. Von sozialer Gerechtigkeit, Wohlstand für alle oder wenigstens Chancengleichheit -unabhängig von der sozialen Herkunft- sind wir jedenfalls weiter denn je. Das Grundgesetz steht auf der Seite der Mächtigen, und die Schwachen dürfen um ihre Rechte betteln.

Das Grundgesetz beginnt in seiner Präambel mit einer faustdicken Lüge, indem es behauptet, dass das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben habe. Das Grundgesetz war weder in seiner ursprünglichen Form noch in seinen bisher 52 Änderungen ein Werk des Volkes, vielmehr wurde das Volk bisher daran gehindert, sich selbst eine Verfassung zu geben, wie es der Artikel 146 des Grundgesetzes ausdrücklich vorsieht. Die Funktionsaristokratie aus den Systemparteien hat sich der Souveränität des Staates bemächtigt und weigert sich, diese dem Volk herauszugeben. Die Staatsbemächtigten der BRD wissen, dass sie ihre Macht und vor allem ihre Pfründe verlieren, wenn sie sich auf direkte Demokratie einlassen, und sie werden vor nichts zurückschrecken, um dies zu verhindern. Um ihr Machtssystem gegen den Anspruch des Volkes auf demokratische Teilhabe abzusichern, hat die politische Klasse mit dem Lissabon-Vertrag geeignete Vorkehrungen getroffen. Sollte dieser Vertrag unverändert in Kraft treten, wird das Grundgesetz zu Makulatur.

Die Erarbeitung des Grundgesetzes war in der Zeit von 1948/49 eine Strafarbeit für ausgewählte deutsche Beamte der westdeutschen Länder, die von den West-Alliierten als Parlamentarischer Rat dazu dienstverpflichtet wurden. Ein Verfassung wollte man damals auf keinen Fall, sondern höchstens eine den Alliierten genehme Übergangsregelung zur Verbesserung der Rechtssicherheit in einem Weststaat, der eigentlich von den meisten Deutschen seinerzeit abgelehnt wurde. Man befürchtete damals zu Recht, dass die Teilung Deutschlands und die Annexion der Ostgebiete durch Polen und die Sowjetunion endgültig würden. Man hatte damals den Flüchtlingen eingeredet, dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren würden. Das Grundgesetz ist keine Volksverfassung, sondern ein von den Besatzungsmächten oktroyiertes Regelwerk, das die Fremdbestimmung Deutschlands scheinbar legitimierte.

Der Auftrag - oder vielmehr Wunsch - zur deutschen Einheit, im ursprünglichen Artikel 23 ausgedrückt, wurde jahrzehntelang von konservativen Politkern als lästige rhetorische Pflichtübung betrieben und von vorgeblich progressiven Kreisen als friedenstörender Revisionismus gegeißelt (dass es 1989 eine Wende zur Einheit Deutschlands gab, konnte sich bis kurz vorher keiner der „Verantwortlichen“ vorstellen). Von den übrigen angeblichen Willensäußerungen des deutschen Volkes in der Präambel kann nur der Friedenswille als mutmaßliche Grundstimmung nach dem Krieg unterstellt werden, während ein vereintes Europa zu dieser Zeit als weltfremde Utopie betrachtet wurde.

Abgeschrieben aus früheren Verfassungen

Man feiert den Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt, als bahnbrechende politische Innovation, als ob in der Weimarer Republik (vor Hitler) totale Rechtlosigkeit geherrscht hätte. Man reduziert die Geschichte der Rechtsentwicklung in Deutschland auf die finsteren Jahre zwischen 1933 und 1945, um den angeblichen Fortschritt durch das Grundgesetz umso strahlender erscheinen zu lassen (die Rechtssysteme der politischen Vorbilder USA und Großbritannien sind übrigens auf dem Stand von vor 200 Jahren stehen geblieben).

Die Grundrechte des Grundgesetzes, die man als zivilisatorischen Fortschritt bejubelt, stecken voller Widersprüche und Halbheiten, und vor allem können sie unter undurchschaubaren Voraussetzungen eingeschränkt oder gar genommen werden. Niemand nimmt gewahr, dass die Grundrechte und sogar die Menschenwürde sehr wohl antastbar sind, wenn es die Staatsräson der Bundesrepublik befiehlt. Der Begriff „Menschenwürde“ ist nur die verbale Verdichtung von Grundrechten, die in den folgenden Artikeln des Grundgesetzes aufgezählt werden. Dabei scheint es keinem der Rede wert, dass die meisten Grund- und Bürgerrechte des Grundgesetzes schon in der Weimarer Verfassung gewährt wurden. Man hat bei der Abfassung des Grundgesetzes wenig demokratische Phantasie aufgebracht, sondern aus früheren Verfassungen, bis zurück nach 1848, einfach abgeschrieben.

Systempolitiker der BRD tun so, als hätte erst das Grundgesetz Grund- und Bürgerrechte und einen Sozialstaat gebracht. Man unterschlägt dabei, dass der Sozialstaat schon in der Kaiserzeit eingerichtet wurde (Krankenversicherung 1884, Renten- und Unfallversicherung 1889). In der Weimarer Republik kam 1927 die Arbeitslosenversicherung dazu. Nicht einmal im Dritten Reich wurde der Sozialstaat abgeschafft, vielmehr die Krankenversicherung für Rentner eingeführt. Die wichtigsten sozialen Verbesserungen in der Bundesrepublik waren 1957 die lohnparallele Rente, 1969 die Sozialhilfe statt Fürsorge, 1995 die Pflegeversicherung.

Im Laufe der Zeit wurden hin und wieder soziale Bonbons verteilt, wie Behindertenversorgung, Kindergeld, Mütter- und Jugendhilfe usw. In allen Fällen war nicht das Grundgesetz die treibende Kraft, sondern die Jagd nach Wählerstimmen. Zwar gebietet der Artikel 20 des Grundgesetzes - die Fundamentalnorm -, dass die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Bundesstaat zu sein habe, aber das Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit hätte, bei fehlender wirtschaftlicher Grundlage, genauso eine hohle Phrase bleiben können, wie die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums nach Artikel 14 oder die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln nach Artikel 15.

Der Ausbau des Sozialstaates, der für die besitzlose Klasse (also für die überwiegende Mehrheit) so etwas wie die Staatsräson der Bundesrepublik geworden ist, war nur möglich, weil der verteilbare Kuchen stetig gewachsen ist. Niemand scheint zu merken, dass der Sozialstaat nur auf einer Verteilung von unten nach ganz unten beruht. Die Kapitalbesitzer wurden über Jahrzehnte massiv steuerlich verschont, während überwiegend die Werktätigen und Verbraucher den Staat finanzierten.

Für eine florierende Wirtschaft ist keine demokratische Ordnung nötig

Für das erfreuliche Wirtschaftswachstum - und den damit gewachsenen nationalen Zugewinn - war das Grundgesetz allenfalls eine stille Stabilitätsreserve, aber nicht die Ursache. Eine ertragreiche Wirtschaft braucht selbstverständlich eine gut funktionierende Rechtsordnung, d.h. vernünftige Gesetze und eine zuverlässige Rechtspflege. Ein Staat ohne starke Rechtsordnung kann nur als Banditenstaat existieren, wo wenige Oligarchen und Profiteure sich den größten Teil des Sozialproduktes an sich reißen und der Rest des Volkes darben muss. Das beste Beispiel sind die Nachfolgestaaten der zerfallenen Sowjetunion. Soweit sind wir in Deutschland zwar noch nicht, aber die Zeichen für einen moralischen und wirtschaftlichen Staatsbankrott mehren sich.

Für eine florierende Wirtschaft ist keine demokratische Ordnung nötig, wie man am Beispiel vieler autoritär regierter Länder in Asien sehen kann. Allgemeiner Wohlstand braucht entweder eine starke Regierung oder eine zuverlässige, unbestechliche demokratische Rechtsordnung. Allerdings benötigt eine Demokratie ein gewisses Maß an Wohlstand und natürlich Frieden. Der demokratische Staat ist ein Schönwetterstaat, der von Bedingungen lebt, die er zwar unterhalten, aber nicht schaffen kann, und die auch einer Diktatur Stabilität verleihen.

Das Grundgesetz hat weder das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit bewirkt noch ist es geeignet, einen Wohlstand für alle, auf dem grundsätzlich erreichbaren Niveau zu garantieren. Vielmehr konnte das Grundgesetz nicht verhindern, dass die Gesellschaft wirtschaftlich gespalten ist in 20% Wohlhabende bis Superreiche, denen 80% des Volksvermögens gehören, und 80 % unterprivilegierte Menschen, die sich den Rest von 20% des Volksvermögens teilen müssen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Hand in den Mund, und ihre Zukunftschancen sinken täglich im Strudel der Krisen des Finanzkapitalismus. Mindestens 10% der werktätigen Bevölkerung sind derart überschuldet, dass es sich für sie gar nicht mehr lohnt, zu arbeiten, denn ihre Arbeitseinkommen würden vom Gerichtsvollzieher beschlagnahmt.

Das Grundgesetz konnte nicht verhindern, dass sich eine Klasse von Funktionsaristokraten gebildet hat, die sich den Staat zur Beute machte und die Bürger von ihren demokratischen Rechten fernhält. Für die Elite der Besitz- und Bildungsbürger sowie für die Beamten und Beschäftigten des mittleren und höheren öffentlichen Dienstes hat sich das Grundgesetz als unangreifbare Legitimationsquelle ihrer politischen und wirtschaftlichen Privilegien erwiesen, und deshalb haben sie gute Gründe, dieses Regelwerk zu verteidigen.

Das Grundgesetz konnte nicht verhindern, dass die Staatsverschuldung mittlerweile eine nicht mehr rückzahlbare Höhe erreicht hat, wobei voraussichtlich in den nächsten Jahren die Staatsverschuldung regelrecht explodieren wird und entweder ein Staatsbankrott oder eine Hyperinflation wie 1923 droht. Die Aufnahme eines Verschuldungsverbotes in das Grundgesetz stellt eine Täuschung der Öffentlichkeit dar, denn in Artikel 110,1 ist bereits vorgeschrieben, dass staatliche Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen zu sein haben. Kredite dürfen nach Artikel 115 nur in Höhe der Investitionen vorgenommen werden, mit Ausnahme zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Eine solche scheint seit vielen Jahren zu bestehen, denn die Nettoverschuldung des Staates liegt regelmäßig über den echten Investitionen.

Das Grundgesetz ist kein Garant der sozialen Marktwirtschaft

Es war nicht das Grundgesetz, das uns die soziale Marktwirtschaft gebracht hat, denn die Wirtschaftsform ist im Grundgesetz offen gelassen. Die Überzeugung aller Parteien nach dem Krieg, dass der Kapitalismus sich als schädlich erwiesen habe, fand im Grundgesetz keinen Niederschlag, und man hat in der BRD der hergebrachten kapitalistischen Wirtschaft ihren Lauf gelassen. Dabei ist es den meisten Kriegsgewinnlern des NS-Regimes gelungen, mit ihrem über den Krieg geretteten Vermögen weiter zu wirtschaften, als wäre nichts gewesen. Die wirtschaftlichen Chancen standen von Anfang an ungleich, zugunsten der besitzenden Klasse, und das Grundgesetz sorgte hier für keine Korrektur.

Sofern in der Verfassungswirklichkeit der Nachkriegszeit soziale Zugeständnisse gemacht wurden, sind diese nicht dem Grundgesetz, sondern der einstigen Macht der Gewerkschaften zu verdanken. In dem Maße, wie im Zuge der Globalisierung die Bedeutung der Gewerkschaften abgenommen hat, wurden soziale Sicherungen in den letzten Jahren wieder einkassiert, und das Grundgesetz steht dem nicht entgegen. Während im Grundgesetz die Machtausübung bis ins Kleinste geregelt ist, fehlen für die mindestens genauso wichtige Wirtschaftsordnung jegliche Gebote und Verbote. Und dieses Defizit wurde vom Gesetzgeber nur widerwillig und lückenhaft gefüllt, sodass die - dafür weder befugte noch befähigte - Arbeitsgerichtsbarkeit viele vernachlässigte Probleme lösen musste, die für die wirtschaftliche Existenz des Staates und des Volkes wesentlich sind.

Allgemein wird übersehen, dass es schon ab Juni 1948, ein Jahr vor dem Grundgesetz, eine freie, erstaunlich ertragreiche Marktwirtschaft gab, die sich hauptsächlich auf eine Rechtsordnung aus dem Kaiserreich stützte. Die Marktwirtschaft wurde von den Westalliierten ab 1948 gefördert, als der Ost-West-Konflikt sich verstärkte - Ludwig Erhard, der damalige Wirtschaftsdirektor der westlichen Besatzungszonen, war nicht Urheber des Wirtschaftswunders, sondern nur Anhänger der freien Marktwirtschaft und ein erklärter Gegner des Sozialstaates.

Das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1900 ist noch heute ein Grundpfeiler unserer Wirtschaftsordnung. Die Rechtspflege der Nachkriegszeit berief sich noch bis in die siebziger Jahre überwiegend auf Entscheidungen der Reichsgerichte, und dies gestattet der Artikel 123 des Grundgesetzes ausdrücklich bis heute. Danach gilt sogar Recht aus der NS-Zeit –vorbehaltlich seiner Vereinbarkeit mit Fundamentalnormen- so lange weiter, bis es durch ein neues Gesetz abgelöst wird. Bei zahlreichen Gesetzen ( u.a. betreffend die Energiewirtschaft oder Rechtsberatung) hat dies sehr lange gedauert. Die Denkweise der Justiz wurde in den ersten dreißig Jahren der Bundesrepublik nicht vom Grundgesetz, sondern vom vordemokratischen Weltbild der Besitz- und Bildungsbürger des Reiches geprägt. Nach wie vor gilt für die Rechtsprechung der Staat nicht als Erzeugnis und Werkzeug des Volkes, sondern als Wesen aus eigener Daseinsberechtigung, und die Staatsbemächtigten behandeln das Volk als unmündigen, weil unwissenden, launischen und potenziell gefährlichen Pöbel.

Für Systemparteien maßgeschneidertes Wahlrecht

Das Gebot im Artikel 20 des Grundgesetzes, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, wird nicht einmal in der legislativen Staatsgewalt angemessen erfüllt. Die Wähler können ihr Kreuz machen, wo sie wollen, es hat keine politischen Folgen, die der Wahlentscheidung zuzurechnen wäre. Welche Regierung nach der Wahl gebildet wird und welche Politik sie betreibt, wird nach dem Bruch der Wahlversprechen entschieden. Wählen ist in der BRD mittlerweile so sinnlos geworden, wie Faltengehen in der ehemaligen DDR. Bei der exekutiven Staatsgewalt auf kommunaler Ebene bestehen immerhin gewisse politische Teilhaberechte des Volkes, ansonsten erlaubt man dem Volk keine Wahl (und Abwahl) von wirklich Verantwortlichen.

Von der judikativen Staatsgewalt ist das Volk so gut wie ausgeschlossen, wenn man von der symbolischen Beteiligung der Bürger als Schöffen absieht. Über allen Staatsgewalten thront ein heimlicher Diktator auf Anruf, nämlich das Bundesverfassungsgericht, dass de facto nicht nur unangreifbar quasi rechtsetzende Befugnisse hat, sondern die Legislative lähmen oder aushebeln kann. Dabei ist das Verfassungsgericht verfassungswidrig bestellt, d.h. unser schönes Grundgesetz kann nicht einmal seine Hüter in die Schranken weisen (eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Machenschaften würde den Täter als Richter anrufen).

Das im Artikel 20 des Grundgesetzes festgelegte Demokratiegebot ist zweifellos die wichtigste Norm. Danach soll die Staatsgewalt vom Volk nicht nur durch Wahlen, sondern auch durch - noch nie stattgehabte - Abstimmungen ausgeübt werden. Nicht einmal Wahlen können dem Volk die für eine Demokratie notwendige Teilhabe bei der Ausübung der Staatsgewalt verschaffen, da im Grundgesetz unbegreiflicherweise das Wahlrecht völlig außer Betracht blieb.

Aufgrund dieser unverzeihlichen Unterlassung konnten sich die Systemparteien ein Wahlrecht maßschneidern, das ihre Macht sichert und das Volk regelrecht entmachtet. Die Verteilung der Mandate im Bundestag (und in den Länderparlamenten) erfolgt praktisch durch Wahllisten, auf denen die vorderen Kandidaten schon vor der Wahl wissen, dass sie ein Mandat erhalten werden. Die Kandidaten der Wahllisten unterliegen, sowohl bei der Aufstellung wie bei der Mandatsausübung, der totalen Kontrolle durch die Nomenklatura der Parteien. Dafür sorgt auch der sogenannte Fraktionszwang, der durch offene Abstimmungen im Parlament ausgeübt wird. Auch hier haben die Urheber des Grundgesetzes versagt, indem sie diese nicht ausdrücklich untersagten. Da hilft auch nicht die treuherzige Beteuerung im Artikel 38, wonach die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen seien.

Als zusätzliche Machtstütze zur Fernhaltung von politischer Konkurrenz hat man sich die - im Grundgesetz gar nicht vorgesehene - 5%-Klausel bei der Berücksichtigung von gewählten Parteien einfallen lassen. Auf diese Weise wird einer nicht unbeträchtlichen Menge von Wählern der Wahlerfolg vorenthalten, und - viel bedenklicher- der für eine Demokratie lebenswichtige politische Wettbewerb auf ein Oligopol von Systemparteien beschränkt.

Unerwünschte Volksabstimmungen

In Bezug auf die politische Teilhabe des Volkes durch Abstimmungen behaupten Systempolitiker, dass damit nur Abstimmungen über die Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29 gemeint seien, keinesfalls aber Abstimmungen über sonstige politische Belange. Um Volksabstimmungen einzuführen, bedürfe es daher einer Verfassungsänderung. Dies ist eine völlig willkürliche Interpretation, die nur dem Zweck dient, die Volksentmachtung aufrecht zu erhalten.

Bei einer derart wichtigen Bestimmung, wie der politischen Teilhabe durch Abstimmungen, muss ihre Bedeutung aus dem Wortlaut erschlossen werden, und wenn dort keine Einschränkung zu erkennen ist, gilt der Wortlaut im umfassenden Sinn. Es macht auch demokratietheoretisch gar keinen Sinn, dass eine fundamentale Verfassungsbestimmung, wie das Demokratiegebot nach Artikel 20, erst nach einer Verfassungsänderung Geltung erhalten soll.

Eine falsche historische Auslegung ist auch die - von den Urhebern des Grundgesetzes gar nicht geäußerte - Ansicht, dass Volksabstimmungen angeblich den Untergang der Weimarer Republik verursacht hätten. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss verstieg sich sogar zu der polemischen Behauptung, Abstimmungen des Volkes seien eine Prämie für Demagogen. Das Gegenteil trifft zu: Es waren die damaligen konservativen Abgeordneten des Reichstages, darunter auch Theodor Heuss, die dem Ermächtigungsgesetz zur Diktatur Hitlers zustimmten. Die Scheu vor Plebisziten nach dem Krieg war sicherlich auch dadurch begründet, dass die Kommunisten bei verschiedenen Anlässen Volksabstimmungen forderten. Auch heute rufen sogar konservative Politiker nach einer Volksabstimmung über bestimmte umstrittene Themen, wie dem Lissabon-Vertrag, um damit ihre Volksnähe zu unerstreichen.

Parlament als Hilfsorgan der Regierung

Ein weiteres Verfassungsgebot aus Artikel 20, die Gewaltenteilung, wird schon dadurch unterlaufen, dass Parlamentsabgeordnete gleichzeitig auch Regierungsmitglieder sein dürfen. Damit wird das Parlament zum Hilfsorgan der Regierung.

Die zweite Bedrohung der Gewaltenteilung beruht auf der Zusammensetzung des Bundestages (und der Länderparlamente), wo die Hälfte aller Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst kommt. Dieser Umstand und die Privilegierung der Beamten aus Artikel 33 GG hat im Laufe der Jahrzehnte dazu geführt, dass die Beamtenschaft gewissermaßen einen Staat im Staate mit unentwindbaren Befugnissen bildet, also etwas, das es in einer Demokratie nicht geben sollte. Im Grundgesetz wurde 1949, im Rückblick auf die Gefügigkeit der Beamtenschaft in der NS-Zeit, auf Veranlassung der Alliierten der Artikel 137 eingefügt, der eine gesetzliche Beschränkung der Wählbarkeit von Angehörigen des öffentlichen Dienstes vorsieht. Ein Ausführungsgesetz hierzu wurde allerdings bis heute nicht erlassen. Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass es weder auf den Geist noch auf den Buchstaben des Grundgesetzes ankommt, wenn die herrschende Klasse ihre Macht behalten will.

Die Staatsbemächtigten behaupten unverdrossen, wider besseres Wissen, das Grundgesetz sei die beste aller Verfassungen, aber nur, weil sie damit machen können, was sie wollen. Das wird vor allem beim Verbot friedenstörender Handlungen nach Artikel 26 deutlich. Schon die Vorbereitung und nicht bloß die Führung eines Angriffskriegs ist verboten, und es wird sogar - einmalig innerhalb des Grundgesetzes!- dafür eine Strafe gefordert. Damit bleibt jeder erlaubte Krieg auf die Verteidigung der Bundesrepublik beschränkt. Das bedeutet, dass die Bundeswehr grundsätzlich erst nach einem Angriff auf die Bundesrepublik und nur zur Verteidigung des Staates in Marsch gesetzt werden darf. Um jeden Machtmissbrauch mithilfe der Streitkräfte zu verhindern, darf die Bundeswehr im Bundesgebiet nur unter strengen Ausnahmebedingungen eingesetzt werden. Die Herstellung wünschenswerter politischer Verhältnisse in einem fremden Land mithilfe der Bundeswehr ist vom Grundgesetz nicht gedeckt, aber die „Verantwortlichen“ setzen sich über solche Kleinigkeiten souverän hinweg.

Eine weitere Kriegserlaubnis gibt der Bündnisfall, wenn nämlich ein NATO-Mitglied angegriffen wird. Hier haben die „Verantwortlichen“, als treue Vasallen des US-Imperialismus, alle Definitionswillkür bemüht und die Landesverteidigung auf Gebiete weit außerhalb des Bundesgebietes verlegt, obwohl kein anderer Bündnispartner der NATO von einem militärischen Angriff betroffen war. Die Art und Weise, wie strenge Verfassungsverbote übertreten werden, zeigt exemplarisch die Untauglichkeit, wenn nicht sogar Überflüssigkeit des Grundgesetzes.

Ein schweres Versäumnis der Urheber des Grundgesetzes war ihre Blindheit gegenüber den menschlichen Schwächen von Mandatsträgern, insbesondere deren Gewinnstreben und Bestechlichkeit. Lobbyismus und Korruption waren 1949 sicherlich kein Thema, aber so etwas gab es schon immer, und man hätte im Grundgesetz Vorkehrungen dagegen einbauen müssen. Abgeordnete dürfen sich völlig legal von Einflussträgern mit Scheinbeschäftigungen versorgen lassen, und man kann davon ausgehen, dass sie die Interessen ihrer privaten Brotgeber bei ihrer Gesetzgebungsarbeit angemessen berücksichtigen. Die Einflussnahme der Privatwirtschaft auf die Gesetzgebung geht mittlerweile so weit, dass Vertreter von Privatfirmen als Gastarbeiter in Ministerien die Gesetzesvorlagen ausarbeiten, von denen die entsendenden Unternehmen unmittelbar betroffen sind. Man begründet dies mit dem besonderen Sachverstand der privaten Hilfskräfte der Gesetzgebung.

Die Unvollkommenheiten und Widersprüchlichkeiten des Grundgesetzes und die daraus resultierenden Störungen der Gemeinwaltung sind inzwischen so zahlreich, dass es dringend durch eine bessere Verfassung abgelöst werden muss, zumal das Verfallsdatum des Grundgesetzes mit der deutschen Einheit von 1990 eigentlich abgelaufen ist. Reparaturen am Grundgesetz, wie etwa Reformen des Föderalismus, helfen nicht weiter, denn es gibt so gut wie keinen Artikel im Grundgesetz, der nicht grundsätzlich zu überarbeiten oder gar zu entfernen wäre. Eine Volksverfassung gemäß dem Auftrag aus Artikel 146 ist deshalb längst überfällig.

Eckhard Koch ist seit 1996 engagiert in der Bürgeraktion Mehr Demokratie e.V.