Neurowissenschaften: "Natürlich basteln wir daran"

Auf seiner Jahrestagung mit Vorträgen und Diskussionen über Neurowissenschaften und Hirnforschung behandelte der Deutsche Ethikrat die Ethik unter ferner liefen. Grenzen? Keine!

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Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn, lautete der Titel der ersten Jahrestagung des neu konstituierten Deutschen Ethikrates – und genauso war die Tagung auch konzipiert, nur in einer etwas anderen Reihenfolge. Vormittags kamen die „Einblicke“, nach der Mittagspause die „Eingriffe“ – und zum Schluss „der steuerbare Mensch“, will sagen, die Ethik. Der Gedanke hinter dieser Tagesordnung war vermutlich: Wir müssen uns erstmal über den Stand der Forschung informieren, bevor wir sie ethisch bewerten. Eine Denkweise, die typisch dafür ist, wie der Diskurs geführt wird. Der Diskurs über Wissenschaft und Ethik. Die Ethik kommt immer am Schluss.

Zu Beginn hatte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Schmidt-Jortzig, die mehr als 450 Teilnehmer in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften begrüßt und ihnen kund getan, dass es einen echten Thriller gebe, der sich mit dem Thema des Tages beschäftige. Titel: „Kritik der mörderischen Vernunft“. Ein Mörder, der sich „Kant“ nenne, ermorde darin Hirnforscher, um den freien Willen zu retten.

Weniger mörderisch fiel die Begrüßung durch die stellvertretende Vorsitzende Christiane Woopen aus. Wir hätten es inzwischen mit einer Flut von Neurowissenschaften zu tun, sagte sie, nicht nur die Neurobiologie oder Neurophysiologie, sondern auch Neuroinformatik, Neuropädagogik, Neuromarketing, ja sogar Neurotheologie. Und natürlich auch Neuroethik. Die aber stünde vor einem besonderen Problem: Durch die Hirnforschung seien möglicherweise die Grundlagen und Voraussetzungen der Ethik selbst berührt. Müssen wir aufgrund der Ergebnisse der Forschung unser Menschenbild ändern? Darüber hätte man diskutieren können. Aber an Diskussion war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedacht.

Barbara Wild stürzte sich in ihrem Vortrag in die Geschichte der Hirnforschung und skizzierte einen weiten Bogen von Plato, Galen und Descartes bis hin zu Broca, Eccles und Damasio; von der Kartierung des Gehirns bis zur Erforschung des Limbischen Systems, von der Entdeckung des Neurons und der Synapse bis zum Fund der Spiegelzellen. Es kam in diesem Vortrag alles vor, und doch auch wieder nichts. Ethische Fragen waren ausgeklammert. Die praktischen Konsequenzen des Körper-Geist-Dualismus von Descartes, zum Beispiel. Oder: Was für Konsequenzen hatten Phrenologie und Kraniometrie (Schädelkunde und Schädelvermessung) für die Rassenkunde der Nazis? Oder: Wie war das noch mal mit der Lobotomie, mit der man eine Million Menschen in willenlose Wesen verwandelte, u. a. weil sie unter Hirnkrankheiten wie homosexuelle oder kommunistische Neigungen litten? Gehört das nicht auch zur Geschichte der Hirnforschung? Es wäre jedenfalls nützlich gewesen. Zum Beispiel dafür, hellhörig zu werden, wenn in einigen Vorträgen der Gegensatz zu „krank“ nicht mehr „gesund“ lautete, sondern: „normal“.

Mangelndes Bewusstsein für die ethischen Probleme seiner Forschung kann man John-Dylan Haynes nicht vorwerfen. Haynes war für den Programmpunkt „Einblick in das Gehirn“ zuständig. Sein Vortrag mit dem Titel „Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens“ begann mit einem Foto aus einem Science-Fiction-Film, in dem eine universelle Gedankenlesemaschine vorkommt. Soweit seien wir zwar „noch“ nicht, beruhigte er uns, „aber natürlich basteln wir daran“.

Man hätte erwarten können, dass an dieser Stelle ein Raunen durch die bis auf den letzten Platz gefüllten Zuhörerreihen im Leibnizsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie gehen würde. Aber so war es nicht. Entweder glaubte keiner, dass es jemals dahin kommen könnte oder alle dachten: Gedankenlesen, was soll’s? Die wissen doch sowieso schon alles. Um es noch einmal zu betonen: Professor Haynes warnt ausdrücklich vor „Missbrauch“ seiner Forschung - vor allem durch Wirtschaftsunternehmen –, aber die an ihn gerichtete Frage eines Teilnehmers, ob er sich vorstellen könne, aus ethischen Gründen diese oder jene Forschung gar nicht erst zu beginnen, beantwortet er mit einem klaren Nein.

Zum gleichen Ergebnis kam Tade Matthias Spranger, Privatdozent für Jura an der Universität Bonn. Sprangers Vortrag über „Das gläserne Gehirn. Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren“ beschäftigte sich mit den Schutzpflichten und den Schranken staatlichen Handelns, und damit auch mit der Frage, ob die Anwendung des – allerdings technisch noch nicht ausgereiften – MRT-Lügendetektors nicht der Menschenwürde widerspräche.

Die Anwendung des klassischen Polygraphen war in Deutschland lange Tabu. Seit 1998 wird sie aber geduldet, wenn der Delinquent ausdrücklich zustimmt. Im Übrigen sei der Lügendetektortest mit dem MRT-Scan durchaus nicht zuverlässiger oder unbedenklicher als der Test mit dem Polygraphen, sagte Spranger. „Wer einmal der Auswertungsprozedur solcher Bilder beigewohnt hat, der weiß, wie sehr die Forscher da im Nebel stochern.“ Daher sei auch Vorsicht geboten, wenn Hirnforscher vor Gericht als Gutachter auftreten.

Sprangers Lieblingsthema waren jedoch die „Zufallsfunde“. Der Problemfall: Ein Forscher, der zu nichtmedizinischen Zwecken MRTs macht, entdeckt zufällig einen Tumor im Hirn des Probanden. Was soll er tun? Sagt er es ihm? Aber was, wenn der das partout nicht wissen will? Es gibt schließlich ein Recht auf Nichtwissen! Sprangers Lösungsvorschlag: Man lässt den Probanden vorher unterschreiben, dass er auf dieses Recht verzichtet.

Danach begann eine Diskussion, deren wichtigstes Ergebnis hier schon berichtet wurde: Forschung aus ethischen Gründen begrenzen – niemals!

In der Mittagspause sprach ich mit einem Tischnachbarn über meine Verwunderung, dass die Vorstellung von einer universellen Gedankenlesemaschine so wenig Schrecken hervorruft. Ihn beunruhige der Gedanke auch nicht, sagte der Nachbar, der übrigens Psychologe war. Er sei vor allem „fasziniert von den technischen Möglichkeiten“.

Der Patient steht permanent unter Strom

Nach der Pause stieg der Erregungspegel aber doch ein wenig. Die Medizinerin Isabella Heuser von der Charité Berlin gab mehr oder weniger unverhohlen zu Protokoll, dass sie die bisher gebräuchlichen Psychopharmaka zum Neuro-Enhancement für unbedenklich hält. Alle Bedenken, sowohl medizinischer Art, als auch die Verteilungsgerechtigkeit oder die Verschiebung der Grenze zwischen „normal“ (!) und „krank“ betreffend, konnte sie nicht nachvollziehen. Retalin, Prozac, Modifil, Donepezil – alles kein Problem. Das Publikum war hier entschieden anderer Meinung. Neuro-Enhancement, das kommt nicht gut. Da hilft auch nicht der Hinweis auf Alkohol und Nikotin.

Ein ähnliches Erregungsniveau erzeugte Thomas Schläpfer von der Universität Köln, der für seinen Kollegen Volker Sturm einsprang. In seinem Vortrag ging es um Tiefenhirnstimulation zur Behandlung von schwersten Depressionen. Schon die Abbildung der feinen Elektrode mit den vier Andockstellen war unheimlich. Auch die Information, dass der invasiv mit diesen Elektroden bestückte Patient gar nicht merkt, ob er gerade unter Strom steht oder nicht, konnte das Unbehagen nicht vertreiben. Der Patient steht allerdings permanent unter Strom.

Die Erfolge dieser Behandlungsmethode sind eher bescheiden. Der depressive Patient fühlt sich nicht einmal besser, er äußert nur mit einem Mal Wünsche wie: „Ich würde gern mal den Kölner Dom besichtigen“. Wer freilich den Zustand absoluter Interesselosigkeit kennt, weiß, was für ein Fortschritt das ist. Beeindruckt war man aber, als Schläpfer in einem kurzen Vorher-Nachher-Film einen Patienten zeigte, der unter dem Tourette-Syndrom litt. Vorher gebeutelt von grässlichen Zuckungen, nachher mit feinem Lächeln in einem nur gelegentlich tickartig bewegten Gesicht.

Übrigens war es Schläpfer, der nun doch die „zu Recht verfemte“ Lobotomie erwähnte. Nicht so, dass er das ganze Ausmaß dieses bisher schwersten Makels der Hirnforschung deutlich gemacht hätte, aber immerhin: Er hat es erwähnt. Ebenso wie die beschämende Tatsache, dass bis in die 60er Jahre hinein viele Patienten (bzw. Opfer) gegen ihren Willen lobotomiert worden sind. Daher die unbedingte Forderung nach dem „informed consent“, also der Zustimmung des wohlinformierten Patienten.

Danach war wieder ein Jurist dran. Henning Rosenau, Professor an der Universität Augsburg, ging es vor allem um die Frage des Neuro-Enhancement. Kann nicht der Einzelne selbst entscheiden, ob er sich chemisch verbessern will? Im Prinzip ja, aber was, wenn die Eingriffe so weit gehen, dass die Menschenwürde davon betroffen ist? Und was für Probleme ergeben sich daraus, dass sich durch massenhaften Gebrauch von Neuro-Enhancern, die Grenzlinie zwischen „krank“ und „normal“ (!) verschiebt? Und schließlich: Wenn ein Patient aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr entscheiden kann, wer soll dann für ihn entscheiden?

In der Diskussion mit dem Publikum kam vor allem der Unmut über das Technokratische zum Ausdruck. Finanzielle Aspekte wie das Interesse der Pharmafirmen seien bisher sorgsam ausgeblendet worden. Ebenso die Probleme für das Gesundheitssystem. Und was bedeutet es eigentlich, dass wir zunehmend Normalität mit Glück verwechseln? Dass der traurige Mensch immer mehr als unnormal gilt? Darüber nachsinnend ging man in die Kaffeepause.

Junge Forscher – alte Ethiker

Danach – sieben Stunden hatte man schon in den Knochen - wurden Verstand und Aufmerksamkeit aufs Höchste gefordert durch den intellektuell anspruchsvollsten Vortrag des ganzen Tages. Der Philosoph Ludger Honnefelder hielt eine an Habermas’ Zwei-Räume-Theorie (Raum der Ursachen, Raum der Gründe) orientierte Vorlesung über „Die ethische Dimension moderner Hirnforschung“. Die große Frage ist ja: Um was für ein „Gut“ handelt es sich eigentlich beim Gehirn? Und welche Wertmaßstäbe legen wir an, wenn wir mit ihm umgehen?

Manche Hirnforscher wollen uns dazu verführen, das „Ich“ mit dem Gehirn gleichzusetzen. Was sie dabei übersehen, ist die Unvereinbarkeit der zwei Perspektiven: Die des Akteurs und die des Beobachters. Wer glaubt, er könne die Akteursperspektive aus der des Beobachters ableiten, das Subjektive aus dem Objektiven, der irrt. Was wir naturwissenschaftlich erforschen sind Abläufe, nicht Handlungen oder Entscheidungen. Wenn jedoch der Raum der Gründe auf den der Ursachen reduziert wird, „dann muss sich der Mensch unverständlich werden“.

Der Mensch ist also immer zugleich ein biologisches und ein personales System, er verhält sich zu sich selbst, als Person zu seinem Körper – aber der Eingriff in den Körper verändert das Ich. Ganz besonders natürlich, wenn es sich um das Gehirn handelt. Da liegt das Problem. Denn es gilt zu entscheiden: „Was müssen oder wollen wir an unserer Natur festhalten?“ Das Risiko des Missbrauchs bei Eingriffen in das Gehirn ist gewaltig – nicht weniger als der Eingriff in die Keimbahn, über den eine viel intensivere ethische Diskussion geführt wird.

Ist es Zufall, dass auf dieser Tagung die Forscher und Juristen alle jung waren und die Ethiker alt? Alle drei Professoren, die für ethische Fragen antraten, waren emeritiert. Es schien beinahe so, als sei die Ethik selbst emeritiert. Der dem Jahrgang nach jüngste der drei Ethiker war der Theologe Dietmar Mieth, Jahrgang 1940. Er trat in dem „Streitgespräch“, das diesen Tag abschloss, gegen den 1939 geborenen Wolfgang van den Daele an, emeritierter Professor für Soziologie an der FU Berlin.

Alt oder nicht – es war erfrischend, Mieth zuzuhören. Er wagte es als einziger an diesem Tag, den stillschweigenden Konsens der Wissenschaftsgemeinde in Frage zu stellen, nämlich den, dass Forschung ein quasi naturgesetzlicher unaufhaltsamer Prozess sei. Man dürfe und müsse, so Mieth, sehr wohl darüber nachdenken, welche Forschungsprojekte wünschenswert und welche aus ethischen Gründen abzulehnen seien. Wohlgemerkt: Nicht welcher Umgang mit den Forschungsergebnissen – sondern welche Forschung! Den Präzedenzfall für ein Verbot bestimmter Forschungsaktivitäten hatte ja bereits das Stammzellengesetz geliefert. Aber war das nicht ein Angriff auf die Freiheit der Forschung und die Freiheit der Individuen?

Gebetsmühlenartig hielt Wolfgang van den Daele dem Theologen das Freiheitsargument entgegen – ohne je auf den Hinweis einzugehen, dass es ja nicht eine Frage von „Freiheit“ ist, ob diese oder jene Forschung finanziell begünstigt wird. Es gehe ihm ja nicht um Verbote, sagte Mieth, es gehe um die Bewertung der Ziele. Die ethische Frage beginne schon da, wo wir eine bestimmte Forschung fördern - oder eben nicht. Und nicht erst, wenn die Forschung bereits Fakten geschaffen hat.

Vielleicht wäre es an dieser Stelle hilfreich gewesen, daran zu erinnern, dass der unaufhaltsame Aufstieg der Hirnforschung nicht zuletzt damit begann, dass Präsident Georg Herbert Bush das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zum „Jahrzehnt des Gehirns“ ausrief, womit ein Füllhorn von Forschungsgeldern über die Hirnforschung ausgeschüttet wurde. Oder daran, dass Bundeskanzler Schröder es ihm nachmachte, als er das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends der Hirnforschung widmete. In beiden Fällen ging es nicht um Freiheit oder Unfreiheit, sondern um ein wissenschaftspolitisches und ökonomisches Ziel.

Wolfgang van der Daele hielt es aber sowieso für unrealistisch, unter ethischen Gesichtspunkten über Forschungsziele zu streiten. Die Wissenschaft mache sowieso, was sie wolle. „Wir können den Optionsraum nicht beeinflussen“, sagte er, und: „Wir müssen immer hinterherlaufen.“

Das aber ist gerade das Problem.

Jens Johler ist freier Autor. Zuletzt ist sein herausragender Thriller: Kritik der mörderischen Vernunft erschienen, der auch auf der Tagung erwähnt wurde.