Postzensur und Telefonüberwachung

Interview mit dem Historiker Josef Foschepoth

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Josef Foschepoth forscht am Historischen Seminar der Universität Freiburg. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlichte er einen Aufsatz1 über eine kaum bekannte Tatsache: Dass es nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik von 1949 bis 1968 zu großflächiger Postzensur und Telefonüberwachung kam.

Im 1949 angenommenen Grundgesetz heißt es in den Artikeln 5 und 10, dass keine Zensur stattfindet und das Postgeheimnis geschützt ist. Wie konnte es angesichts dieser Vorschriften trotzdem zu Zensur kommen?

Josef Foschepoth: Das Grundgesetz gilt als die freiheitlichste Verfassung, die die Deutschen jemals hatten. Zu Recht. Erstmals genießen die Grundrechte Verfassungsrang und sind unmittelbar geltendes Recht. Dazu gehört auch die Unverletzlichkeit des Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnisses. Wer dieses Grundrecht missachtet und verletzt, macht sich strafbar. Dass dieses Grundrecht schon wenige Monate nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland sogar von Staats wegen massiv verletzt wurde, hatte seinen Grund darin, dass es seit 1949 zwei deutsche Staaten gab, wovon einer kommunistisch und einer antikommunistisch regiert wurde. Um Propaganda der jeweils anderen Seite abzuwehren, griff man zum Mittel der Zensur, hüben wie drüben.

Was war das Material, um das es ging?

Josef Foschepoth: Die DDR benutzte ebenso wie die Bundesrepublik den Postweg, um Propaganda in den Westen beziehungsweise Osten Deutschlands zu schicken. Hierbei handelte es sich um Broschüren und kleine Schriften, Zeitungen und Zeitschriften, aber auch um Hand geschriebene Briefe, Postkarten oder Telegramme. Um die westdeutsche Zensur möglichst zu umgehen, wurden in der DDR ganze Betriebe angewiesen, Briefe nach Westen zu schicken, die vielfach politische Fragen kommentierten und die Politik der SED unterstützten und erläuterten. Unter der beschlagnahmten Post waren allerdings auch viele private Briefe.

Was geschah mit der beschlagnahmten Post?

Josef Foschepoth: Das Hauptproblem war zunächst einmal festzustellen, ob in verschlossenen Briefen oder Paketen so genannte staatsgefährdende Propaganda war. Der widerrechtliche Akt bestand also in dem unbefugten Öffnen von Postsendungen. Dies geschah auf Verdacht hin oder weil Post beschädigt war, so dass man den Inhalt erkennen konnte. Hatte man aus der Fülle der Postsendungen derartige staatsgefährdende Schriften heraus gefischt, wurden sie von den Postbeamten dem Zoll, der Polizei oder der Staatsanwaltschaft übergeben. Dieses Verfahren hat sich im Laufe der Jahre verschiedentlich geändert. In den ersten Jahren, etwa 1951 und 1952, wurde die beschlagnahmte Post direkt der örtlichen Polizei übergeben, die sie an Ort und Stelle vernichtete. Später ließ die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte Post vernichten. Dies geschah oft in Gefängnissen, wo die Strafgefangenen diese Aufgabe übernahmen.

Hatte das Verhalten für irgendwelche Beteiligten - Postbeamte, Staatsanwälte, Richter, Politiker - Konsequenzen?

Josef Foschepoth: Nein, sieht man einmal von Dienstaufsichtsbeschwerden oder Anzeigen gegen Postbeamte ab, die in der Regel sämtlich abgewiesen wurden. Begründet wurde dies mit der Treuepflicht der Beamten, die verpflichtet waren, Gefahren für den Staat abzuwehren. Da die Einfuhr staatsgefährdender Schriften strafrechtlich verfolgt werden konnte, so die Argumentation der Juristen in den Ministerien, war der Beamte nicht nur befugt, sondern sogar verpflichtet, derartige Vorgänge zu melden, damit der Vorgesetzte weitere Maßnahmen veranlassen konnte. Strafbarkeit allein begründet jedoch nicht die Verletzung eines Grundrechts. So kann etwa auch nicht der Verdacht auf Steuerhinterziehung dazu benutzt werden, die Post des Verdächtigten zu öffnen oder gar zu beschlagnahmen. Im Übrigen wurden eine Fülle von Rechtsgutachten, gesetzlichen Regelungen und Verordnungen erlassen, um die ausführenden bzw. die Zensur planenden und rechtfertigenden Beamten vor einer möglichen Strafverfolgung zu schützen.

Könnten die Täter heute noch belangt werden?

Josef Foschepoth: Nein, strafrechtlich relevante Verstöße gegen das Grundgesetz wären heute verjährt. Nur Verstöße gegen das Recht auf Leben, also Mord verjährt nicht. Im Übrigen gab es damals ebenso wenig wie heute ein öffentlich ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein. Die Ursache dafür war der kalte Krieg, der derartige Eingriffe legitimierte, solange es sich um die Abwehr einer kommunistischen Gefahr und sei es auch nur um einen verdächtigen Brief aus der DDR handelte.

Warum wurde solch rechtlich fragwürdiges Vorgehen trotzdem in den Akten festgehalten?

Josef Foschepoth: Der Grundkonflikt bestand in der Frage, was war höher zu gewichten, der Staatsschutz oder die Grundrechte. Da es 1949ff. vor allem darum ging, einen neuen und starken Staat aufzubauen, wurde diese Frage von den Vertretern der Exekutive mit einem klaren Ja für den Staatsschutz beantwortet. Der Schutz des Staates setzte den Schutz der Grundrechte voraus, wie es in einem Rechtsgutachten des Justizministeriums von 1952 hieß. Der Staatsschutz galt somit als ein höherwertiges Gut. Eine solche Position bedurfte natürlich der Begründung. Also entstanden viele Papiere, Notizen und Entwürfe, anhand derer man die Diskussion innerhalb der Bundesregierung sehr schön nachvollziehen kann. Aus Sicht der Akteure ging es darum, Recht und nicht etwa Unrecht zu begründen, zumindest nach rechtlich einwandfreien Lösungen zu suchen. Diese waren erst gefunden, als 1968 ein Gesetz zur Einschränkung des Brief- und Fernmeldegeheimnisses verabschiedet wurde.

Wann und über wen kam der Grundsatz der Güterabwägung auf?

Josef Foschepoth: Der Grundsatz der Güterabwägung spielt immer dann eine wichtige Rolle, wenn zwei Rechtsgrundsätze miteinander konkurrieren beziehungsweise einander ausschließen. In unserem Beispiel machte sich der Postbeamte in jedem Falle schuldig. Entweder verletzte er die Treuepflicht des Beamten gegenüber dem Staat, oder er verletzte das Grundrecht auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Da es kein Gesetz gab, das diesen Konflikt im Falle der Postzensur regelte, führten die Juristen des Bundesjustizministeriums in einem Rechtsgutachten den Grundsatz der Güterabwägung auch in das Verfassungsrecht ein und relativierten damit die Bedeutung der Grundrechte in unserer Verfassung. Dass dies höchst problematisch war, geht schon daraus hervor, dass die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses unmittelbar geltendes Recht ist. Mithin gilt es solange, bis es mit der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat geändert worden sind, was, wie gesagt, erst 1968 geschah.

Gab es eine öffentliche Debatte um die Zensurmaßnahmen?

Josef Foschepoth: Eine wirkliche öffentliche Debatte gab es in den Fünfzigerjahren nicht. Zwar wurden im Bundestag immer wieder parlamentarische Anfragen der Opposition gestellt, aber wirklich beantwortet wurden diese nicht. Zumeist bestanden die Antworten aus wenigen Sätzen. In den Ausschüssen wurde allerdings mehrfach sehr heftig und intensiv debattiert und gestritten. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag - die Regierung Adenauer verfügte seit 1953 über klare Mehrheiten - blieb dies jedoch ohne politische und gesetzgeberische Konsequenzen. Erst 1963 kam es zu einer erregten öffentlichen Debatte, als der Vorwurf laut wurde, der Verfassungsschutz habe unrechtmäßig Telefonate abgehört und Post beschlagnahmt. Die Sensibilität für die Bedeutung der Grundrechte hatte nach der soeben erst überstandenen Spiegelaffäre von 1962 deutlich zugenommen. Nach diesen Affären blieb nichts mehr so, wie es früher einmal war. Die Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft war nicht aufzuhalten. Die Grundrechte lösten in der öffentlichen Debatte den Staatsschutz als höherwertiges Gut mehr und mehr ab. Dies schlug sich dann in den Reformgesetzen der ausgehenden Sechzigerjahre deutlich nieder.