Gehen Folter und Misshandlungen in Guantánamo weiter?

Nach dem Freitod eines Guantánamo-Häftlings aus dem Jemen stellt sich diese Frage mit wachsender Dringlichkeit. Auch nach dem Regierungswechsel in den USA sollen IRF-Teams Gefangene in Guantánamo brutal zusammengeschlagen haben.

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Die Wärter hätten den 31 Jahre alten Mohammad Ahmed Abdullah Saleh al Hanashi am Montagabend ohne Bewusstsein und Atmung in seiner Zelle vorgefunden, teilten die US-Streitkräfte am Mittwoch mit. Der Jemenit habe „offenkundig Selbstmord“ begangen, ließ die Militärführung verlauten. Nach „umfangreichen Wiederbelebungsversuchen“ sei der Mann dann für tot erklärt worden. Die Leiche des Häftlings soll nun obduziert werden. Bestätigt sich die Darstellung des US-Militärs, so wäre es der fünfte dokumentierte Fall von Selbsttötung in dem US-Sonderlager auf Kuba. Dutzende Insassen haben seit 2002 versucht, sich das Leben zu nehmen.

Der in Masar-i-Scharif in Afghanistan festgenommene mutmaßliche Taliban-Kämpfer Saleh als Hanashi, dessen Alter mit etwa 31 Jahren angegeben wird, wurde seit Februar 2002 ohne Anklage in Guantánamo festgehalten. Beamte des US-Verteidigungsministeriums erklärten, der Verstorbene habe beteuert, nie jemanden getötet zu haben. 96 der noch 239 in dem Lager festgehaltenen Männer kommen aus dem Jemen – das sind mehr als aus jeder anderen Nation. Einige von ihnen sollen bereits seit Jahren freigelassen werden, allerdings weigern sich die USA, sie in den Jemen abzuschieben, weil sie befürchten, die dortige Regierung könne die Männer nicht unter Kontrolle halten.

David H. Remes, ein Rechtsanwalt, der noch 16 andere jemenitische Guantánamo-Häftlinge vertritt, sagte, Hanashi sei einer von sieben Gefangene gewesen, die in der psychiatrischen Abteilung des Lagers festgehalten und dort zwangsernährt worden seien. Die Obama-Regierung, die vor zwei Wochen im Kongress mit ihrem Plan gescheitert war, das Sonderlager Guantánamo auf Kuba zu schließen, weil ihr der Senat die Finanzmittel dafür verweigerte, woran sich jetzt auch das Repräsentantenhaus anschloss, ließ verlauten, das Lager sei nun ein gut geführtes Gefängnis, das internationalen Standards entspreche.

Die Anwälte der Gefangenen und Menschenrechtsgruppen verweisen demgegenüber darauf, dass die Haftbedingungen nach wie vor trostlos seien und viele Gefangene weiterhin in Einzelhaft gehalten würden. Viele Häftlinge seien verzweifelt, so David H. Remes. „Sie hegten einige Hoffnung“, sagte er, „dass Präsident Obama die Situation rasch lösen würde, aber sie können bislang keinen Fortschritt erkennen und sehen kein Licht am Ende des Tunnels.“ Bei einem Besuch im vergangenen Monat hatte sich einer von Remes’ jemenitischen Klienten am Handgelenk geschnitten und den Anwalt mit dem Blut bespritzt. Gefängnisbeamte werteten dies jedoch nicht als Suizidversuch.

Spanische Ermittlungen bringen neue Details über Folterungen ans Licht

Mitte Mai hatte Baltasar Garzón, Untersuchungsrichter an Spaniens Nationalem Gerichtshof, Ermittlungen aufgenommen, um herauszufinden, wer in Guantánamo gefoltert und wer die Folterer zu ihren Taten angestiftet hat (allerdings dürften die Ermittlungen eingestellt werden: Spanien: Abschaffung der universellen Gerichtsbarkeit durch die Hintertür). Garzón war international bekannt geworden, als er Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in London unter Hausarrest setzen ließ. Bereits jetzt brachte die Untersuchung erschreckende Details über das Bild der Folter innerhalb und außerhalb des US-Sonderlagers Guantánamo an den Tag. Darunter „Schläge auf die Hoden“; unterirdische Haft in totaler Dunkelheit über einen Zeitraum von drei Wochen mit Nahrungs- und Schlafentzug“; die „Bedrohung … durch Injektionen von Zysten des Hundebandwurms“; das Beschmieren von Gefangenen mit Exkrementen, sowie „Waterboarding“. All diese Folterungen geschahen laut den spanischen Ermittlungen „unter der Autorität des amerikanischen Militärpersonals“ und wurden manchmal in Anwesenheit medizinischer Fachleute durchgeführt.

Darüber hinaus steht erstmals die sogenannten Immediate Reaction Force (IRF) oder Emergency Reaction Force im Focus einer Untersuchung. Dabei handelt es sich um Einheiten des US-Militärs, die auf die kleinsten Regelverletzungen und Zeichen von Widerstand durch Guantánamo-Häftlinge mit exzessiver Gewaltanwendung reagieren. Innerhalb der Gefängnismauern von Guantánano werden diese mit Helmen und schweren Schutzanzügen ausgestatteten Einheiten deshalb auch als „Extreme Repression Force“ bezeichnet. Manche der Gefangenen und ihre Verteidiger haben ihr Outift mit der Ausrüstung von „Darth Vadder“ aus „Krieg der Sterne“ verglichen.

Eines der Opfer, auf deren Aussagen sich Garzón stützt, ist Omar Deghayes, libyscher Staatsbürger, der lange Zeit in Großbritannien gelebt hat. Deghayes war nach dem 11. September in Lahore (Pakistan) festgenommen worden. Bereits in pakistanischer Haft hatte man ihn „systematisch geschlagen“ und mit Elektroschocks traktiert, wie sein Anwalt Stafford Smith berichtet. Nach seiner Befragung durch US- und britisches Personal wurde er in das US-Foltergefängnis auf dem Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan verbracht und schließlich im September 2002 nach Guantánamo überstellt, wo er zum Ziel brutaler, auch sexueller, Übergriffe durch die gefürchteten IRF-Teams wurde. „Das IRF-Team besprühte Herrn Deghayes mit Pfeffer; sie warfen ihn in die Luft und ließen ihn auf sein Gesicht fallen“, heißt es im Bericht der spanischen Untersuchungskommission. Stafford Smith beschreibt den Vorfall:

„Sie brachten ihr Pfefferspray und hielten ihn unten. Sie öffneten seine Lider und sprühten es in beide Augen, und später nahmen sie ein mit Pfefferspray getränktes Handtuch und rieben es in seine Augen.“ Infolge dieser brutalen Misshandlung ist Omar Deghayes „auf dem rechten Auge total erblindet“, so Stafford Smith. „Ich kann berichten, dass das rechte Auge völlig weiß und milchig ist – er kann damit nicht mehr sehen, weil er von den USA in Guantánamo geblendet wurde.“

Stafford Smith zufolge war die Blendung das Ergebnis einer Kombination von Pfefferspray und der Tatsache, dass ein Mitglied des IRF-Teams seinen Finger in Deghayes Auge gedrückt habe.

Trotz Präsident Obamas öffentlicher Versprechungen, Guantánamo zu schließen und Folter zu beenden, sollen die IRF-Temas in Guantánanmo nach wie vor sehr aktiv sein.

Extraglegale Terrorschwadronen

Die Existenz dieser Einheiten wurde seit der Eröffnung des Foltergefängnisses immer wieder dokumentiert. Ausführlich berichtet darüber auch Murat Kurnaz in seinem Buch „5 Jahre meines Lebens“. Dennoch wurden sie in den US-Medien wie auch im Rahmen von Untersuchungen des US-Kongresses über Folterpraktiken nur selten erwähnt.

Offiziell bestehen dieses IRFs aus fünf Beamten der Militärpolizei, die sich in ständiger Einsatzbereitschaft befinden, um auf Notfälle zu reagieren. „Das IRF-Team soll vorrangig eingesetzt werden als ein „forced-extraction team“, das darauf spezialisiert einzuschreiten, wenn sich ein Gefangener als unbotmäßig [combatativ] oder widerständig [resistive] erweist oder wenn die Möglichkeit gegeben ist, dass sich während des Aus-der-Zelle-Holens des Gefangenen eine Waffe in der Zelle befindet“, wie es in dem freigegebenen Exemplar der Standard Operating Procedures für Camp Delta vom 27. März 2003 heißt. Falls das IRF-Team nach entsprechenden Vorwarnungen an einen nicht fügsamen Gefangenen zum Ergebnis kommt, dieser widersetze sich weiterhin, ist es autorisiert, dem Betreffenden zweimal Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen, bevor es in die Zelle eindringt.

Das Dokument wurde von Generalmajor Geoffrey Miller unterzeichnet, dem Mann, der später die „Gitmoisierung“ von Abu Ghraib und anderen US-Gefängnissen auf den Weg gebracht hatte und seine Untergebenen angehalten hatte, Gefangene „wie Hunde“ zu behandeln. Miller befehligte Guantánamo vom November 2002 bis August 2003, bevor er 2004 in den Irak beordert wurde.

Die als IRF bezeichneten Strafkommandos prügeln Berichten zufolge auf Gefangene ein oder üben in anderer Form Gewalt aus. Am 24. Januar 2003 wurde ein Mann in einem orangefarbenen Overall in Guantánamo so brutal zusammengeschlagen, dass er eine Hirnverletzung davongetragen haben soll. Es handelte sich hierbei nicht etwa um einen Gefangenen, sondern um einen US-Militärwachmann, der sich bereit erklärt hatte, bei einer Übung einen unkooperativen Häftling zu spielen. Dem Fünf-Mann-Team, das zu ihm geschickt wurde, um ihn aus seiner Zelle zu holen, war allerdings nicht mitgeteilt worden, dass es sich um eine Übung handelte. Der Wachmann gab an, die Männer hätten ihn zu Boden geworfen, in einen schmerzhaften Würgegriff genommen und seinen Kopf mindestens drei Mal auf den Boden geschlagen.1

Während in der „Folter-Debatte“ die sogenannten „verbesserten Verhörtechniken“ im Zentrum standen, wie sie die Juristen der Bush-Administration definiert hatten, operieren die IRF-Teams in Guantánamo als extralegale Terrorschwadronen, die Gefangene außerhalb der Verhörräume regelmäßig drangsalieren und misshandeln. IRF-Teams schlagen Gefangene brutal zusammen, zwängen ihre Köpfe in Kloschüsseln, brechen ihnen die Knochen, attackieren ihre Augen bis hin zur Blendung, pressen ihre Hoden, urinieren auf ihre Köpfe, schlagen ihre Köpfe gegen den Betonboden und fesseln sie an Händen und Füßen – manchmal lassen sie Gefangene stundenlang in qualvollen Positionen gefesselt zurück.

Die IRF-Teams „wurden von den höchsten Ebenen [der Bush-Administration] gebilligt, einschließlich des Verteidigungsministers und bei externer Beratung durch das Justizministerium, so Scott Horton, einer der führenden Experten für US-Militär- und Verfassungsrecht. Diese Teams „wurden geschaffen, um den Gefangenen jeden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, dass sie in US-Gewahrsam frei von physischen Attacken seien“. Die Mitglieder dieser Teams seien darin trainiert worden, „Gefangene in kürzester Zeit brutal zu bestrafen“; zur „Rechtfertigung“ dieser Prügelorgien dienten „lächerliche Vorwände“, sagte Horton weiter.

Allein „bis zu 15 Personen haben versucht, sich infolge der Misshandlungen durch IRF-Beamte in Camp Delta zu töten“, so die spanische Untersuchungskommission.

Misshandlungen dauern an

Am 22. Januar erließ der neu gewählte US-Präsident Barack Obama eine Anweisung mit der Forderung, Guantánamo solle innerhalb eines Jahres geschlossen werden. Außerdem ordnete er eine Überprüfung des Status der Gefangenen sowie die Schaffung „humaner Haftbedingungen“ in Übereinstimmung mit den Genfer Konventionen an.

Einen Monat später jedoch veröffentlichte das Center for Constitutional Rights (CCR) einen Bericht mit dem Titel Current Conditions of Confinement at Guantánamo: Still In Violation of the Law, in dem festgestellt wurde, dass die Misshandlungen andauern. Einer der Guantánamo-Anwälte, Ahmed Ghappour, sagte laut der Nachrichtenagentur Reuters, seine Klienten hätten von einer „Steigerung des Missbrauchs“ seit der Wahl Obamas zum US-Präsidenten berichtet, einschließlich „Schlägen, dem Verrenken von Gliedmaßen, dem Einleiten von Pfefferspray in geschlossene Zellen, dem Besprühen von Klopapier mit Pfefferspray und der übermäßig gewaltsamen Zwangsernährung von Gefangenen, die sich im Hungerstreik befinden“.

„In der Tat gibt es meines Wissens nach viel, viel mehr berichtete Vorfälle von Missbrauch seit der Inauguration [Obamas]“, sagte Ghappour.

Während die führenden Medien in ihren Berichten über den US-Folter-Apparat diese Techniken als Teil des Systems der Bush-Ära darstellen, mit dem Obama nun Schluss gemacht habe, gilt dies jedenfalls nicht für die IRF-Teams. „Gefangene leben in ständiger Angst vor physischer Gewalt. Häufige Attacken von IRF-Teams verstärken diese Angst und machen deutlich, dass die Wachen zu jeder Zeit und wegen jeder beobachteten Regelverletzung oder manchmal auch ohne jede Provokation oder Erklärung Gewalt anwenden können“, so das CCR.

Anfang Februar 2009 waren zuletzt 16 Männer im Hungerstreik in Camp 6 und verweigerten ihre Zellen zur „Zwangsernährung“ zu verlassen. IRF-Teams zwangen sie gewaltsam zum Verlassen ihrer Zellen, wobei die Männer „gezerrt, geschlagen und getreten wurden, und ihre Arme und Finger wurden schmerzhaft verdreht“. Daraufhin wurden Schläuche in ihre Nasen gezwängt, was ein Gefangener als „Folter, Folter, Folter“ beschrieben hat.

Im April schaffte es Mohammad Al-Qurani, ein 21 Jahre alter Gefangener aus dem Tschad, den Sender Al-Jazeera anzurufen, wobei er eine neuerliche Misshandlung beschrieb: „Diese Behandlung begann 20 Tage bevor Obama an die Macht kam, und seither bin ich ihr beinahe jeden Tag ausgesetzt“, sagte er. „Seit Obama das Amt übernommen hat, hat er uns nicht gezeigt, dass sich irgendetwas ändern wird“.

Gegenüber Al-Jazeera berichtete Al-Qurani von einem konkreten Vorfall, bereits unter der neuen US-Regierung. Er habe sich geweigert, seine Zelle zu verlassen, weil sie „meine Rechte nicht achten“, beispielsweise herumgehen zu dürfen, mit anderen Insassen zu kommunizieren und „normales Essen“ zu erhalten.

Eine Gruppe von sechs Soldaten in Schutzkleidung und Helmen sein daraufhin in seine Zelle gestürmt, begleitet von einem Soldaten mit einer Kamera und einem anderen mit Tränengas.

„Sie hatten einen dicken Gummistock oder Polizeiknüppel aus Plastik, mit dem sie mich schlugen. Sie entleerten zwei Kanister Tränengas über mir“, erzählte er Al-Jazeera. „Dann hörte ich auf zu sprechen, und meine Augen waren tränenüberströmt, ich konnte kaum sehen oder atmen.“ Doch die Männer hätten ihn „wieder zu Boden geschlagen, einer von ihnen hielt meinen Kopf und schlug ihn auf den Boden. Ich flehte seinen Vorgesetzten an, doch zu sehen, was er da tue“, doch dieser „begann zu lachen und sagte, er tue seinen Job.“

In einem anderen Fall, ebenfalls nach Obamas Inauguration, wurde Khan Tumani bestraft, nachdem er als Protest gegen seine Behandlung, Exkremente an die Wand seiner Zelle geschmiert hatte. Als er sich weigerte, diese zu säubern, wurde seinem Anwalt zufolge „ein 10-köpfiges IRF-Team zu seiner Zelle beordert und verprügelte ihn massiv. Danach versprühten die Wachen so viel Tränengas oder andere giftige Substanzen, dass schließlich sogar einer der Wachen übel wurde. Herrn Khan Tumanis Haut war noch Tage danach rot und brannte.“

Das CCR hat die Obama-Regierung aufgefordert, den Einsatz von IRF-Teams in Guantánamo sofort zu beenden. Scott Horton forderte, „die Gefangenen sollten einen Anspruch auf Entschädigung für die erlittenen Verletzungen“ erhalten.

Nachdem es Präsident Obama unter dem Druck des Militär- und Geheimdienstapparates abgelehnt hat, die Folterer und ihre Auftraggeber in der Bush-Regierung strafrechtlich zu verfolgen, sprechen sich inzwischen führende Vertreter beider Parteien im Kongress, aber auch das Weiße Haus selbst, sogar gegen die Einsetzung eines unabhängigen Sonderermittlers aus. Den Opfern des US-Folterapparats bleibt demnach nichts anderes übrig, als ihre ganzen Hoffnungen auf die Ermittler jenseits des Atlantiks, auf der Iberischen Halbinsel, zu setzen. Aber hier übt die US-Regierung großen Druck aus.

Von Alexander Bahar ist vor kurzem das Buch "Auf dem Weg in ein neues Mittelalter. Folter im 21. Jahrhundert" (dtv, 300 Seiten, 16,90 Euro) erschienen, das sich mit der Geschichte der Folter, der unter der Bush-Regierung eingeführten Foltertechniken sowie der Folterdebatte in Deutschland beschäftigt.