Deutsche Schulen: "Vorsortierung, Sachzwänge, deutsche Leitkultur"

Für den Pädagogen Huisken fordern Schüler im Bildungsstreik zu wenig, Schule erzieht für ihn zur Dummheit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem Montag läuft der bundesweite Bildungsstreik 2009 von Studenten und Schülern in rund 70 Städten, der bis zum 19. Juni andauern soll. Bessere Lernbedingungen und Gebührenfreiheit forderten Studenten mit Besetzungen von Hochschulgebäuden u. a. in Berlin, Hamburg, Hannover und Heidelberg, indessen bereiteten sich die Schüler zur bundesweiten Demonstration am Mittwoch vor. Kleinere Schulklassen, kostenlose Schulbücher, weniger Leistungsstress, aber auch Schluss mit Bundeswehrwerbung an ihren Schulen gehören zu ihrem Forderungspaket.

"Geld für Bildung anstatt für Banken" ist ein Motto des Schülerbündnisses. Nicht nur im Licht der Regierungspolitik mit Milliardenhilfen für marode Banken zeigt sich die Vernachlässigung des Bildungswesens. Laut jüngstem Bericht des Statistischen Bundesamtes ist der Finanzierungsanteil allgemeinbildender Schulen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in den vergangenen Jahren gesunken.

Auf spezielle Weise zeigt sich Freerk Huisken, Professor emeritus der Pädagogik in Bremen mit dem Schwerpunkt des Ausbildungssektors solidarisch mit den protestierenden Schülern. Auf seinen Vortragsreisen wendete er sich in den vergangenen Monaten u. a. gegen die staatliche Sicherheitspolitik an Schulen ("Der Staat macht sich stark für seine Früchtchen") und kritisierte nach dem Amoklauf von Winnenden: "Schule ist Teil des Problems, nicht der Lösung".

Nach Huiskens Ansicht gehen die Forderungen der Streikenden in Sachen Schule nicht weit genug. Auch seine jüngste These, die er mit dem Nachwuchs diskutierte, zielt auf sehr Grundlegendes ab. Telepolis hat ihn dazu befragt.

"Schule macht dumm" lautete die Zusammenfassung Ihrer jüngsten Thesen, als Sie in Berlin in der Woche vor dem Bildungsstreik öffentlich mit SchülervertreterInnen diskutierten. Worin liegt die Dummheit?

Freerk Huisken: Da muss ich etwas ausholen. Mit Dummheit meine ich nicht Nichtwissen und Nichtkönnen, z.B. nicht jenes Resultat von Schule, das die PISA-Untersuchungen ans Tageslicht gefördert haben. Wenn ca. 25% des Nachwuchses zu den "funktionalen Analphabeten" gezählt werden müssen, die Texte kaum lesen, geschweige denn wiedergeben können, dann ist das zwar auch ein Produkt der Schule, aber nicht das, was ich mit Dummheit meine.

Mir geht es bei dem Urteil nicht um all das, was Kinder und Jugendliche nicht lernen, sondern um einiges von dem, was sie lernen. Ich meine die systematische Aneignung von falschen Urteilen über die Welt, in der sie leben und in der sie sich um die Erzielung eines irgendwie ausreichenden Einkommens bemühen müssen. Dabei denke ich nicht an Fehlinformationen oder Irrtümer, die zu korrigieren wären, sondern an Ideologien, die zum festen geistigen Bestand des Bürgers gehören. Und mit solchen falschen Urteilen über Marktwirtschaft, Privateigentum, Geld, Konkurrenz, Demokratie, Rechtsstaat usw. wird der Jugendliche in drei Akten zu einer Parteilichkeit für diese Gesellschaft erzogen.

Als Resultat des ersten Aktes der Dummheitserziehung soll er nicht nur Ja sagen zu all den Einrichtungen des Systems, die ihm alternativlos als Sachzwänge gegenübertreten. Er soll sich einbilden, dass sie alle letztlich gut dazu taugen, dass er hierzulande etwas aus sich machen kann: Bekanntlich sei ja jeder seines Glückes Schmied. Erfahrungsgemäß gehen solche Rechnungen aber nicht auf. Hierzulande bringt Konkurrenz in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt und im Berufsleben stets mehr Verlierer als Sieger hervor. Zur Spielregel gehört es auch, dem System der demokratischen Wahl zuzustimmen: Da wählt man Machthaber, die einem dann die in der Regel sehr bescheidenen Existenzbedingungen buchstäblich diktieren. Und es gehört dazu, dass der Rechtsstaat das produktive Kapitaleigentum vor der Aneignung durch diejenigen schützt, die es täglich unter unsäglichen Bedingungen und mit unzureichenden Arbeitsentgelten herstellen.

Aber wenn nun Jugendliche selbst merken, dass Mühe und Ergebnis auseinanderklaffen? Wenn sie z. B. bei immer zahlreicher verordneten Prüfungen kaum noch den Lernstoff bewältigen und sich "wie im falschen Film" vorkommen?

Freerk Huisken: Das leitet zum zweiten Akt der Dummheitserziehung über. Wenn die eigenen Lebensziele auf der Strecke bleiben, dann soll der Bürger zunächst einmal die Schuld bei sich und seiner Leistungsbereitschaft suchen und nicht danach fragen, inwieweit das nicht zum Funktionieren jener Einrichtungen gehört, die über Siege und Niederlagen im Leben entscheiden: Schule, Betriebe, staatliche Behörden.

Es gibt noch einen dritten Akt, der es ebenfalls in sich hat: Der Bürger darf sich auch beschweren. Immer nur die Schuld bei sich suchen, so etwas geht eben nicht auf Dauer. Und bei wem dürfen sie sich beschweren? In der Regel bei den Instanzen, die ihnen den Grund für ihre Beschwerden liefern, z.B. bei staatlichen Stellen. Denen wird dann Versagen oder ähnliches vorgeworfen. Das ist deswegen dumm, weil kaum anzunehmen ist, dass der gesamte" demokratische" Kapitalismus ein Missverständnis derer ist, die ihn organisieren. So etwas belegt letztlich, wie sehr der erzogene Bürger sich inzwischen die herrschende Ordnung als seine Heimat zurechtgelegt hat - egal wie übel ihm in ihr mitgespielt wird. Kein Wunder, dass bei ihm dann auch der Konter verfängt, mit dem ihm das Maul gestopft werden soll: "Sei doch froh, dass du dich hier überhaupt beschweren darfst." Das heißt im Klartext:" Also lass es!"

Um welche Bildung geht es bei den Streiks?

Was heißt Lernen für Sie, wie können Schüler noch etwas Nutzbringendes lernen?

Freerk Huisken: Ich will ja gar nicht behaupten, dass sich alles, was Schüler lernen, auf solche Dummheit reduziert. Ich will sagen, dass die ein ganz zentrales und leider viel zu gut angeeignetes Element des nationalen Curriculums ist, auf das von den Machern der Bildungspolitik großer Wert gelegt wird. Daneben lernen Kinder z.B. lesen und schreiben. Das kann ziemlich nützlich sein. Denn dann können sie nämlich auch dieses Interview lesen und ein Flugblatt gegen Notenterror und Dummheitserziehung schreiben.

Können? Besser: könnten sie! Denn dafür werden ihnen diese "Kulturtechniken" ja gar nicht beigebracht. Es ist nämlich dem staatlichen Schulwesen weniger wichtig, dass der Heranwachsende sich selbst per Lektüre kundig machen und per Text seine abweichenden Auffassungen niederlegen kann. Wichtig ist erst einmal, dass und an welchem Stoff deutsch gelesen und geschrieben wird, dass also die Amtssprache beherrscht wird und deutsche Leitkultur eingetrichtert wird. Damit hat man schon wieder ein Stück "Heimat", das dann im Auslandsurlaub genossen wird, wenn es heißt: "Hier spricht und kocht man deutsch!"

Das allgemeine Motto des Bildungsstreiks vom 15. bis zum 19. Juni lautet "Geld für Bildung, nicht für Banken". Was wollen Sie dagegen einwenden!

Freerk Huisken: Zunächst einmal: Nichts gegen Streiks gegen Leistungsstress, Notenterror etc. Für mich kommt es jedoch schwer darauf an, wie die Gegnerschaft gegen die heutige Schule begründet wird. Und da hat das Motto "Geld für Bildung statt für Banken" meiner Ansicht nach mehrere Haken. Erstens: Welche Bildung ist da eigentlich gemeint? Soll die stattfindende Bildung besser finanziert werden? Die Bildung mit Notenterror, ihrer Sortierungsfunktion und der Erziehung zum funktionierenden Staatsbürger? Wenn die nicht gemeint ist, welche denn? Eine ganz andere, alternative, die die Menschen in die Lage versetzt, sich ein vernünftiges Urteil über die Welt zu bilden, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was die Ursachen von Ausbeutung, Unterdrückung, Kriege usw. sind? Und solche Anleitung zur Aufsässigkeit soll ausgerechnet der Staat bezahlen, der bekanntlich bei all dem Elend seine Finger im Spiel hat?

Zweitens liegt der Parole eine Vorstellung vom Staatshaushalt zugrunde, die nicht Kenntnis, sondern Staatsvertrauen verrät. Als ob es beim Staat einen großen Haufen Geld gäbe, der dann nur noch nach den Vorstellungen der kleinen und großen Bürger "gerecht" verteilt werden müsste. Ist denn nicht bekannt, dass Merkel und Steinbrück als die Damen und Herren des nationalen Geldes je nach Bedarf der Marktwirtschaft in der Krise immer wieder Gelder "locker" machen, die sie gar nicht haben? Sie legen Schulden auf, wenn ihre politischen Anliegen ihnen das wert sind.

Damit ist drittens zugleich die Vorstellung kritisiert, man müsse die Politik nur auf eine falsche Verteilung aufmerksam machen, und schon würde ihnen das Ungerechte oder Menschenfeindliche ihres Tuns auffallen. Schüler - und nicht nur die - leben offenbar in der absurden Vorstellung befangen, dass Politiker mit ihren Taten und ihrem Geld eigentlich den Wünschen der "kleinen Leute" zu entsprechen hätten. Zu fragen hat man sich vielmehr, warum der Politik das Bankensystem so unendlich viel mehr Geld wert ist, als das hiesige Schulsystem- was das für ein nationales Anliegen ist, das da gemeinschaftlich von allen Parteien in der Finanzkrise verfolgt wird? Und noch ein Wort abschließend dazu: Vernünftige Bildung ist ohnehin keine Frage des Geldes.

Im Kapitalismus ist für die Mehrheit der Menschen das ganze Leben ein ständiges Sortiertwerden

Konkret werden u. a. kleinere Klassen, mehr Lehrer, Wiedereinführung der Lehrmittelfreiheit gefordert Das klingt doch nach Lösungsansätzen.

Freerk Huisken: Das klingt nach Arbeitserleichterung für Lehrer, über die ich hier aber nicht reden will. Und nach Lösungsansätzen für solche Schüler, die sich irrtümlicherweise davon eine Abschwächung der Leistungskonkurrenz versprechen, die zugegebenermaßen enorm angezogen wurde. Es klingt nur nach Veredelung der Leistungskonkurrenz, nicht nach ihrer Kritik.

Wäre die geforderte Abschaffung des dreigliedrigen Systems - Haupt-Realschule und Gymnasium- nicht ein Schritt in Richtung demokratischer Schule?

Freerk Huisken: Es stimmt, die Schule sortiert den Nachwuchs für die kapitalistische Berufshierarchie, besser: sie sortiert ihn vor. Resultat: Die Mehrheit des Nachwuchses wird von Ausbildungsgängen ausgeschlossen, nach deren Absolvierung man auf Zugang zu besser dotierten Posten spekulieren kann. Was wäre nun bei einer gleichen Schule für alle, wenn alle etwas dem Abitur Vergleichbares erreichen würden? Dann würde das Hauen und Stechen, sprich: die Konkurrenz um bessere Jobs eben erst nach der Schule losgehen, auf dem Arbeitsmarkt und im Berufsleben…

Eines darf man nämlich nicht vergessen: Im Kapitalismus ist für die Mehrheit der Menschen das ganze Leben eine einzige Bewährung in Konkurrenzbeziehungen, d.h. ein ständiges Sortiertwerden. Da wird nach Karrieren in den Berufen, und da werden die Menschen aus den erlernten Berufen ausgemustert und findet schließlich permanent die an die Existenz gehende Sortierung zwischen Arbeitskräften statt, die gebraucht und solchen, die für überflüssig erklärt werden. Eines der Protestworte der Schüler: "Gegen Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit" verweist also allemal über die Skandale der Schule hinaus, meint: dass gerade diese letzte Parole schwer ins Zentrum der Leistungen trifft, für die die Schule im Kapitalismus eingerichtet ist.

Gibt es nicht kleine Chancen auf etwas freie Meinungsbildung an Schulen? Z. B. wenn Schüler der Klasse ihr Lieblingsbuch vorstellen dürfen, oder Lehrer auch schon mal die Sozialpolitik kritisieren?

Freerk Huisken: Was heißt hier "kleine Chance". Freie Meinungsbildung wird in der Schule sehr groß geschrieben. Sie passt in den Kanon der genannten Dummheiten. Es werden nämlich hierzulande keine braven, buckelnden Untertanen gebraucht, sondern mündige Staatsbürger, die sich "ihre Meinung" bilden und dann aus freien Stücken und in voller Überzeugung das tun, was ihnen zur Pflicht gemacht oder per Sachzwang vorgesetzt wird.

Wohlgemerkt, es geht bei der freien Meinungsbildung schon wieder ums "Dürfen"! Der Staat erlaubt das freie Meinen. Als ob es das Meinen ohne diese Erlaubnis nicht gäbe! Was da als Freiheit geschützt wird, hat folglich seine Grenzen, die man im GG Art18 nachlesen kann, und hat seinen vorgeschriebenen Gehalt: Das Runterbringen jeglicher Urteile auf bloß subjektive Meinungen, die niemand so ernst nehmen soll - man selbst eingeschlossen. Wie es denen ergeht, die das nicht mitmachen, sondern auf der Ernsthaftigkeit ihres Anliegens bestehen, weiß man: "Dogmatismus" lautet noch die harmloseste Form ihrer Ausgrenzung aus dem erwünschten politischen Meinungspluralismus.

Hat Schule immer schon dumm gemacht? Demnach müssten etliche Reste von Dummheit in uns Erwachsenen schlummern, umso mehr, je länger wir zur Schule gegangen sind.

Freerk Huisken: Dem will ich nicht widersprechen. Allerdings hängt das Ausmaß der Dummheit, mit der der Mensch durchs Leben läuft, nicht von der Länge der Schuldauer ab, sondern schlicht davon, wie sehr er sie sich einleuchten lässt. Und das ist ein Dauerprogramm, das mit der Schulzeit nicht beendet ist, sondern danach, angeleitet durch BILD, SZ , Spiegel usw., munter weiter geht. Weiter gehen muss, denn alle Erfahrungen, die der Mensch besonders in seinem beruflichen Leben macht, widerlegen die Ideologien, mit denen er "groß" wird!

Es wird also immer im Kapitalismus daran gearbeitet, Urteile über die Welt zu erzeugen, die diese gar nicht korrekt treffen, auch gar nicht treffen sollen. Urteile wie zum Beispiel die Behauptung von der Souveränität des Volkes, das per Wahl seine Interessen in die Politik einbringen darf. Das soll den Menschen anleiten, alle erfahrenen Beschränkungen des eigenen Interesses zu verarbeiten und dabei noch brav zu bleiben. Damit das funktioniert, muss man sich das irgendwann als unerschütterlichen Standpunkt zurechtgelegt haben. Z.B. so: "Hier habe ich es immer noch besser als...." Was übrigens die Geburtsstunde von deutschen Nationalisten ist. Nur der Sache mit den "Resten von Dummheit" muss ich widersprechen. Unterwegs sind bei den guten Deutschen leider mehr als nur Reste von Dummheit und außerdem schlummern die keineswegs.