Die Allgemeine Relativitätstheorie versagt an der Singularität!

Der Einfluss der Schwerkraft auf die Raumzeit ist nicht zu verachten. Bild: NASA

Interview mit dem deutschen Astrophysiker Martin Bojowald über Raumzeitatome und den Anfang der Welt, den es nicht gegeben haben soll

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Der 36-jährige Assistent Professor Martin Bojowald lehrt und forscht an der Pennsylvania State Universität in den USA. Seit knapp 10 Jahren wendet er als Erster seines Genres eine vergleichsweise junge Theorie auf den Urknall (engl. Big Bang) an. Ausgehend von der Schleifenquantengravitation (Loop-Quantum-Theorie oder kurz Schleifengravitation), ein Modell, das bereits Ende der 1980er Jahre konzipiert und seither ständig verbessert wurde, teilt Bojowald den Raum und die Zeit in kleinste Einheiten auf: in so genannte Raumzeitatome (siehe Der Zeitpfeil vor dem Urknall). Sie verhindern, dass das Universum im Urknall auf die Größe Null schrumpft. Einst als Anfang alles Seins gefeiert, kommt der Big Bang, vor allem dessen Singularität, bei dem deutschen Theoretiker sehr schlecht weg.

Die Evolution begann mit der Ur-Singularität aller Singularitäten, die das Samenkorn des Urknall war – wenigstens sprechen die meisten Indizien dafür. Martin Bojowald sieht das anders. Bild: NASA

Sie haben während ihrer Diplomarbeit den Weg zur Schleifengravitation gefunden, die ja schon etliche Jahre zuvor angedacht und in den Grundzügen entwickelt wurde.

Martin Bojowald: Roger Penrose hat bereits 1971 als Erster die Spin-Netzwerke eingeführt, ein Modell, das wir in der Schleifengravitation auch weiterhin benutzen. Den ersten richtigen Schritt zur Schleifengravitation ging jedoch Abhay Vasant Ashtekar im Jahr 1986, als er zunächst einmal mathematisch auf rein klassische Weise die Relativitätstheorie umformulierte und neue Variablen einführte. Bei meiner Arbeit konzentriere ich mich auf die Schleifengravitation, die in den 1990er Jahren in mehreren Schritten entwickelt wurde.

Die Schleifengravitation relativiert den Urknall und wertet ihn zugleich ab. Die Anfangssingularität wird gewissermaßen aufgelöst, das Urknall-Modell ad absurdum geführt. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die von Ihnen weiterentwickelte Theorie der Schleifenquantengravitation dereinst ein ähnliches Schicksal ereilen könnte?

Martin Bojowald: Das ist halt immer so in der Wissenschaft. Neue Fragen und Theorien werden aufgeworfen, weiter entwickelt und wieder verworfen. Es ist aber nicht so, dass wir mit unserer Theorie vollkommen neu in Konkurrenz zum Urknall treten. Bei uns bleibt das Big-Bang-Modell weitestgehend intakt. Wir haben nur die Anfangssingularität näher ins Visier genommen, die ohnehin schon immer vielen ein Dorn im Auge war. Es ist keineswegs neu, dass Astrophysiker mit mathematischen Modellen über diesen Punkt hinausblicken wollen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet haben wir das alte Urknall-Modell in Teilbereichen dergestalt erweitert, dass die Theorie an diesem Punkt nicht mehr zusammenbrechen kann und die mathematischen Gleichungen hier weiter funktionieren. Wir können nunmehr extrapolieren, was vor dem Urknall hätte passiert sein können. Dazu brauchen wir nur die Gleichungen zu befragen. Und die sagen uns, dass die Materie im frühen Universum eine sehr hohe, aber endliche Dichte hatte. In jedem Gebiet von der Größe eines Protons konzentrierten sich zirka ein Billion Sonnenmassen. Wir nennen das die Planck-Dichte. Die Quantengravitation besagt nun, dass sich das Kräftegleichgewicht ändert. Daher kann niemals eine Singularität – ein Zustand unendlicher Dichte - entstehen.

Martin Bojowald in seinem Zimmer im Savoy-Hotel Berlin, wo das Interview bei Kaffee und einer Tafel Schokolade stattfand. Bild: Harald Zaun

Der Urknall markiert in ihrem Modell nicht den Anfangspunkt, sondern eine Art Grenze.

Martin Bojowald: Ja. Die Allgemeine Relativitätstheorie versagt an der Singularität, wobei die Schleifenquantengravitation die dort herrschenden Extrembedingungen gut zu kontrollieren vermag. Der Urknall verliert seine Bedeutung als physikalischer Beginn und seinen Status als mathematische Singularität. Er setzt unserem Wissen eine praktische Grenze.

Wenn die Schleifengravitation den „Zeitpunkt“ vor dem Urknall zu definieren versucht, durchbricht sie zwangsläufig auch die Planck-Zeit?

Martin Bojowald: Wobei wir die Zeit aber einfach noch nicht so gut verstehen wie die Distanzen im Raum. Es kann schon sein, dass die Planck-Zeit für uns wieder eine größere Rolle gewinnt. Die Form der Zeitschritte hängt stark davon ab, welche Raumstrukturen vorliegen.

Offensichtlich ist unser Gehirn nicht mit der Fähigkeit gesegnet, die wahre Natur des Big Bang oder die anderer komplexer kosmologischer Vorgänge zu begreifen, ganz zu schweigen von Ihrer Theorie. Wie lässt sich die Schleifengravitation dennoch visualisieren?

Martin Bojowald: Das ist natürlich schwer, zumal wir die Mathematik natürlich als formalisierte Sprache nutzen, um unsere Gedanken und Modelle aufzustellen und weiterzuentwickeln. Auf diese Weise ist es leichter und zugleich schwerer, eine imaginäre Vorstellung von dem Ganzen zu bekommen. Aber selbst als Physiker benutze ich viele Bilder, um eine Erklärung für meine Theorie zu finden, oder um sie anderen besser zu vermitteln. Ein einzelnes Bild kann aber nie das Vollständige wiedergeben, dazu muss man viele Bilder generieren und darauf achten, welches davon passt und wie man diese kombiniert. Erst dann kann man ansatzweise erahnen, was das Ganze ausmacht.

Unser räumliches Denken ist evolutionstechnisch gesehen auf drei Dimensionen konditioniert. Stehen Ihnen bei ihrer Arbeit manchmal nicht die Unzulänglichkeiten des menschlichen Gehirns im Weg?

Martin Bojowald: (lächelt) Nun ja, man gewöhnt sich daran. Es war früher in der Physik üblich, den Raum als nicht-physikalisches Gebilde anzusehen. Seine Existenz wurde schlicht vorausgesetzt, bis dann Einstein kam. Er erkannte als Erster, dass die Raumzeit nicht bloß die Bühne lieferte, auf der das Drama des Universums abläuft, sondern vielmehr an dem Geschehen selbst aktiv mitwirkt.

Es gibt ja auch noch einige alternative Big-Bang-Theorien, die zyklische Universen oder auch die Existenz von Multiversen postulieren. Was halten Sie von solch metaphysisch angehauchten Konzepten?

Martin Bojowald: Ja, es gibt hier viele Spekulationen. Oft auf jenen Feldern, die außerhalb jeglicher Beobachtbarkeit und Testbarkeit liegen. Manche Kollegen berufen sich auf statistische Eigenschaften wie das Anthropische Prinzip. Letzten Endes bewegen sich derlei Modelle größtenteils noch in jenem Grenzbereich, den man gerade noch als Physik bezeichnen kann. Wenn es aber zu hypothetisch wird, lasse ich Vorsicht walten. Die Multiversum-Theorie halte ich beispielsweise für reine Spekulation.

Angesichts der Tatsache, dass die Kette der vermeintlichen Zufälle, die unsere Existenz bedingen, so enorm groß ist, fragt man sich: Gibt es auch ein deterministische Konstante in unserem Universum? Dies führt unweigerlich zu der Frage nach Gott. Wie stehen Sie dazu?

Martin Bojowald: Ich kann mir das sehr schwer vorstellen – weder aus wissenschaftlicher Perspektive noch einer anderen. Ich tue mich auch mit der Vorstellung schwer, dass alles aus dem Nichts gekommen und entstanden sein soll – auch philosophisch. Ich versuche die Frage nach Gott bei meiner Arbeit auszublenden. Meist stellt sie sich bei der Arbeit gar nicht.

Mit ihrer Theorie werten Sie die Raumzeit, die in vielen kosmologischen Theorien vernachlässigt wird, auf. Ist das Absicht?

Martin Bojowald: Ja, was aber auch damit zusammenhängt, dass die Schleifengravitation hauptsächlich Forscher postulieren, die einen relativistischen Hintergrund haben, während viele String-Theoretiker, die von der Teilchenphysik kommen, mehr Wert auf die Materie legen. Wir hingegen vernachlässigen die Materie. Manche sehen darin einen Nachteil, wir dagegen können uns auf diese Weise besser auf das Wesentliche, sprich auf Raum und Zeit, konzentrieren.

Die Raumzeitatome kreieren laut Schleifengravitation den Raum. Sie existieren nicht in einem bestehenden Raum wie „normale“ Atome!

Martin Bojowald: Ja, richtig. Stellen wir uns einfach zwei Punkte in einem Raum vor, die aufgrund des Fehlens von Raumzeitatomen zueinander eine Distanz von Null haben. Fügen wir nun einige Raumzeitatome hin zu, vergrößert sich die Entfernung zwischen den beiden Punkten. Je mehr Raumzeitatome hinzu stoßen, desto größer wird die Distanz der Punkte zueinander.

Stadien des expandierenden Universums. Bild: ESA

Unter normalen Bedingungen bemerken wir die Existenz der Raumzeitatome überhaupt nicht; das Gewebe ist so dicht, dass es wie ein Kontinuum wirkt. Wodurch unterscheidet sich denn ein Raumzeit-Atom von einem materiell-normalen Atom?

Martin Bojowald: Ein materielles Atom ist immer noch irgendwie im Raum angegliedert; man hat unterschiedliche Bausteine, die unterschiedlich von einander entfernt sind. Es ist eine ganz andere Situation, wenn man den Raum mit Bausteinen selbst aufzubauen versucht. Zum einen ist dies mathematisch komplizierter, zum anderen lässt sich dieser Prozess nur schwer vorstellen und visualisieren. Es gibt Illustrationen, auf denen das Ganze als Gitter abgebildet ist. Aber selbst das ist irreführend, weil ein Gitter unserer Vorstellung nach selbst nur in einem bestehenden Raum existieren kann. Zwischen den einzelnen Gitterpunkten existiert schlichtweg Raum.

Wie lassen sich potenzielle Raumzeitatome nachweisen? Sie schreiben, dass man Indizien ihrer Existenz mithilfe von Neutrinos, Gravitationswellen und Gamma-Ray-Bursts finden kann.

Martin Bojowald: Ja, das sind die Möglichkeiten. Aber diese basieren letzten Endes nur auf Überlegungen. Gravitationswellen und Neutrinos könnten sich tatsächlich als viel versprechende Werkzeuge entpuppen, weil sie kaum mit Materie interagieren und daher das uranfängliche Plasma nahezu ohne Verlust durchquerten. Sie sind Boten des Urknalls und könnten uns Nachrichten aus der Zeit davor übermitteln.

Auf diesem Hubble-Bild ist das Nachglühen eines Gammastrahlenausbruches zu sehen. Das „Ereignis“ fand vor mehreren Milliarden Jahren in einer fernen Galaxie statt. Am 11. Dezember 2001 registrierte der Forschungssatellilt Beppo-SAX die Strahleneruption. In ihr könnten indirekte Hinweise auf Raumzeitatome schlummern. Bild: HST Image: D.W. Fox, J.S. Bloom, S.R. Kulkarni (Caltech), et al. XMM Result: J.N. Reeves, D. Watson, J.P. Osborne (University of Leicester), et al.

Glauben sie, dass sich Raumzeitatome direkt nachweisen, geschweige denn fotografieren lassen?

Martin Bojowald: Nein, auf keinen Fall. Direkt nachweisen werden wir diese ebenso wenig wie von ihnen jemals Fotos machen. Es gibt zwischen Atomen der Raumzeit ja keinen Raum, in dem sich Licht oder sonstige Wellen zum Abbilden ausbreiten könnten. Wenn Raumzeitatome existieren, werden wir mit etwas Glück innerhalb des nächsten Jahrzehnts auf indirekte Weise Indizien für ihr Vorhandensein sammeln.

Das Urknall-Modell ist nach wie vor das Standard-Modell der Kosmologie, das dank Indizien wie der Mikrowellen-Hintergrundstrahlung oder der Rotverschiebung (u.a.) den Anfang des Universum immer noch am besten beschreibt. Es hat zwar die meisten seiner Geheimnisse mit in die Inflationsphase genommen, ist aber immer noch Mainstream. Glauben Sie dennoch, dass es eines Tages ganz kippen könnte?

Martin Bojowald: Die Indizien, die sie genannt haben, werden so schnell nicht kippen. Es gibt aber in der Hintergrundstrahlung einige Details, Fluktuationen und Abweichungen, die viele Forscher wirklich irritieren, und sie vor großen Problemen stellt. Leider haben wir nur diesen einen Urknall und können folglich unsere Beobachtungen nicht beliebig wiederholen. Es könnte schon sein, dass Modelle der Schleifenquantengravitation diese Abweichungen besser erklären. Wir müssen aber noch genauer nachrechnen.

Die Entdeckung und Messung der Hintergrundstrahlung im Bild. Bild: NASA/WMAP

Sie stellen in ihrem Buch Zurück vor dem Urknall ihre These detailliert vor. Werden ihre Leser die Schleifengravitation komplett verstehen?

Martin Bojowald: Über ein solches Thema zu schreiben, ist natürlich ein Wagnis. Es kann dann kritisch werden, wenn man als Wissenschaftler und Autor notgedrungen vereinfachen muss, ohne den roten Faden zu verlieren und banalisieren. Aber genau genommen verstehe ich die Theorie der Schleifengravitation selbst noch nicht so ganz. Wir müssen noch viel nachrechnen.

Lesen Sie Science-Fiction-Romane?

Martin Bojowald: Nein!

Was ist die inspirierende Quelle ihrer Kreativität? Hören Sie klassische Musik während ihrer Arbeit?

Martin Bojowald: Nein, ich höre auch keine Musik bei der Arbeit. Ich lese lieber klassische Literatur, in denen manchmal auch philosophische Fragen aufgeworfen werden, die mich durchaus inspirieren.

Wer hat sie von den bekannten Astrophysikern, Kosmologen am meisten beeinflusst!

Martin Bojowald: Schwer zu sagen. Ich würde mich hier auf keinen festlegen wollen.

Definieren Sie ihre Arbeit als Grundlagenforschung?

Martin Bojowald: Ja, auf jeden Fall.

Was würde wohl der Entdecker der Raumzeit von Raumzeitatomen halten?

Wie reagieren ihre Kollegen auf die von ihnen weiterentwickelte Schleifengravitation. Gab es offene Kritik? Sie stehen schließlich zurzeit im Fokus und dürften auch in diversen Elfenbeintürmen einige Neider haben?

Martin Bojowald: Kritik belebt das Geschäft. Ich habe bislang eine Reaktion erhalten, die positiv war, die aber interessanterweise von einem String-Theoretiker stammte. Ich warte noch auf erste Reaktionen in Deutschland.

Wie viele hoch entwickelte außerirdische Zivilisationen werden sich wohl mit der Schleifengravitation beschäftigen wie wir?

Martin Bojowald: Halten wir uns die zahlreichen Galaxien im Universum vor Augen, sollte man zumindest stark mit der Existenz intelligenter Zivilisationen rechnen. Wir können uns ja gar nicht vorstellen, wo und wie sich Intelligenz im Kosmos überall ausgebreitet hat. Es gibt sicherlich Lebensformen, die ganz anders sind als all das, was unseren Planeten belebt. Ob diese wirklich die gleichen Theorien wie wir entwickeln, halte ich eher für unwahrscheinlich.

Angenommen, Sie hätten die Gelegenheit, einem Wissenschaftler einer hochtechnisierten außerirdischen Kultur, die uns im Wissensstand um Tausende Erdjahre voraus ist, eine einzige Frage zu stellen. Welche würde es sein?

Martin Bojowald: Ich würde ihn wahrscheinlich direkt nach der Raumstruktur fragen, weil diese ja nicht unbedingt Theorie gebunden ist. Wenn sich mein Gegenüber schon Jahrhunderte oder Jahrtausende mit dem Problem herum geschlagen hat, erwarte ich von ihm spannende Antworten.

Ist die Schleifenquantengravitation ein potenzieller Kandidat für die Weltformel, die alles erklären soll und kann?

Martin Bojowald: Zurzeit nicht. Ich sehe das eher pessimistisch.