Es ist angerichtet: Tafeln in Deutschland!

Alle Bilder: Stefan Selke

Kritik an der Verselbständigung einer Bewegung

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Lebensmitteltafeln kommen immer mehr in Mode. Gleichzeitig sind Tafeln ein äußerst ambivalentes Phänomen. Vom 11. bis 13. Juni 2009 fand die Jahrestagung des „Bundesverbands Deutsche Tafel e.V.“ – begleitet von einem angemessenen Medienecho – statt. Fast zeitgleich erscheint der erste wissenschaftliche Sammelband zu Tafeln. Ein guter Zeitpunkt also, um über den Zusammenhang zwischen der Strukturentwicklung der Tafeln und deren diagnostischer Einordnung nachzudenken.

Der neue Diskurs über Tafeln

Es ist angemessen, von einem Paradigmenwechsel in der medialen Berichterstattung und der damit verbundenen Einschätzung von Tafeln zu sprechen. Der ehemals eher monolithische (oft verklärende) Blick auf Tafeln („Gute Menschen helfen armen Menschen“) hat sich in ein Panoptikum unzähliger detaillierter Einzelbetrachtungen aufgefächert. Die Entwicklung reichte vom der meist unverstandenen Kulisse für einen Tatort, hin zu vermehrt kritischen Beiträgen in unzähligen Printmedien und zuletzt auch in Radio- und Fernsehsendungen.

Konnten vor kurzem noch Beiträge von Redaktionen als „zu kritisch“ zurückgegeben werden, so werden heute eben gerade diese Beiträge angefordert. Dies ist symptomatisch für die Auseinandersetzungs(un)kultur in Deutschland, in der kritische Meinungen über Tafeln lange Zeit einfach ausgeblendet wurden.

Sehr deutlich werden die Immunisierungsstrategien auch am Beispiel des Staatsministers der Bundeskanzlerin, Herman Gröhe, der als Herausgeber der Zeitschrift chrismon einen „Widerspruch“ gegen meine Thesen aus dem Buch Fast ganz unten veröffentlichte. In einer meinungspluralen Gesellschaft fühlte sich der Staatsminister nicht verpflichtet, meine (wohlmeinende) Gegendarstellung zu veröffentlichen. Zudem wurde nicht klar, in welcher Rolle Herr Gröhe argumentierte: als Herausgeber einer Zeitschrift oder als Politiker? Genau diese Vermischung und die Nähe der Tafeln zur Politik (durch Schirmherrschaften symbolisiert und durch derartige Medienbeiträge unterstrichen) machen deutlich, dass die Tafeln eben lange nicht so „unabhängig“ sind, wie sie gerne behaupten.

Zu den Ausblendungsstrategien gesellt sich eine weitere Strategie, die ich „Segeln am Wind“ nennen möchte. Als während der TV-Sendung „ARD-Morgenmagazin“ vom 11. Juni 2009 der Vorsitzende des „Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.“ interviewt wurde, erstaunte seine in homöopathischen Dosen vorgetragene Selbstkritik und die damit verbundene Aussage, dass es doch besser sei, wenn die Tafeln „überflüssig“ wären. Das ist ein lehrbuchmäßiges Beispiel für Wissensdiffusion. Denn eben dieses Argument verwendete ich vor einem knappen Jahr in „Fast ganz unten“ als These – und wurde dafür heftig gescholten. Dort heißt es:

Das eigentliche Ziel der Tafelbewegung müsste die Selbstabschaffung der Tafeln sein. Dann wären die Tafeln wirklich erfolgreich. Wenn die Tafeln verschwinden, bedeutet das, dass gleichzeitig der Grund für ihre Existenz verschwindet.

Darin schließt sich aber auch die Frage an, auf wie vielen Ebenen eigentlich über Tafeln gesprochen wird. Tafeln fordern heraus, weil sie ein ambivalentes und hochkomplexes System sind. Ein Narr, wer da erwartet, dass man diese Komplexität in fünf Minuten in einer TV-Sendung adäquat abbilden kann. Der mediale Diskurs hat vielmehr eine andere Funktion: Das Thema wird „warm“ gehalten und die Aufmerksamkeit für eine hoffentlich tiefer gehende Beschäftigung erzeugt. Genau hierfür gibt es einen analytisch-theoretischen Diskurs über Tafeln. Beispiel hierfür ist der gerade erschienene Sammelband Tafeln in Deutschland (der übrigens auch drei Beiträge von Tafelpraktikern enthält). Hierbei geht es darum, die relevanten Fragen im Zusammenhang zu sehen und von der Ebene einzelner Tafeln zu abstrahieren und stattdessen das „System der Tafeln“ auf einer Metaebene zu betrachten. Der praktische Diskurs über Tafeln wird letztlich hauptsächlich von den „Tafelnmenschen“ selbst geführt. Hierbei geht es um pragmatische Probleme wie Logistik und Hygiene. Das ist wichtig, allein aber noch keine umfassende Sicht aus den Gegenstandsbereich. Alle drei Ebenen verhalten sich weitgehend inkompatibel zueinander. Der neue Diskurs über Tafeln findet in einem normativen Raum statt. Oder anders: Über Tafeln lässt sich nicht interessensfrei sprechen. Dies ist der Grund für eine Reihe der zwischenzeitlich entstandenen Missverständnisse.

Aus der distanzierten Beobachterposition sind zwei Dinge möglich: Respekt und Kritik. Aus dieser Position heraus stellen sich folgende Fragen: Welche Rolle spielen Tafeln in diesem Land? Worin besteht der Sinn – und vorsichtig gefragt: der „Unsinn“ von Tafeln? Und: Helfen Tafeln wirklich? Und wenn ja, wem eigentlich? Die Strukturentwicklung der Tafeln nimmt auf diese Fragen kaum Rücksicht sondern beantwortet diese mit der Normativität des Faktischen. Wie aber sieht die Strukturentwicklung aus? Vereinfacht gesagt können gegenwärtig drei Trends erkannt werden:

  • Fehlendes ersetzen statt Überflüssiges zu verteilen: Die Tafeln starteten einst mit der Idee, überflüssige aber noch verzehrfähige Lebensmittel an Menschen umzuverteilen, die diese benötigen. Auch hier ist ein Paradigmenwechsel eingetreten. Das neue Leitbild lautet oft (ausgesprochen oder unausgesprochen): Tafeln ersetzen das Fehlende. Wer aber einmal anfängt, so zu denken, der begibt sich auf dünnes Eis, denn dann fehlt prinzipiell alles. Dies führt zum nächsten Trend.
  • Mehrwert-Konzepte: Die Tafeln bieten längst nicht nur Lebensmittel an, sondern auch andere Waren und gar andere Dienstleistungen. Damit schafft die Tafelbewegung einen neuen Markt, in dem Bedürftigkeit die Funktion von Kundenbindung hat. Es verwundert kaum, dass die Angebote dieses Marktes dann auch nachgefragt werden und in der Folge immer wieder auf’s Neue bedient werden: Dies habe ich an anderer Stelle mit „Erwartungsspiralen“ bezeichnet.
  • Verstetigung statt Bekämpfung der Armut: Es gibt keinen positiven Zusammenhang zwischen der Existenz von Tafeln und Armut in diesem Land. Armut entsteht vor und neben allen Tafeln, egal nach welchem Prinzip diese arbeiten. Tafeln verhindern keine Armut. Tafeln werden aber zunehmend Teil der Hilfsindustrie und beschäftigen sich zunehmend mit sich selbst. Und damit verstetigen sie den status quo der Armut. Tafeln dürfen aber nicht nur zur „Heimat der Helfer“ und zum „Umschlagplatz für Hoffnungen“ der Kunden werden. Helfen darf nicht zum Selbstzweck verkommen. Es geht um Wachsamkeit für das eigentlich Problem: Armut als Skandal in einem der reichsten Länder der Welt.

Der Forschungsstand zu Tafeln

Wachsamkeit ist eine Form der Weltbegegnung, die nicht schon dadurch gegeben ist, dass man nicht schläft. Deshalb ist die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Tafeln wichtiger denn je. Wenn der Vorsitzende des „Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.“ verkündet, dass die Kritik an den Tafeln „überzogen“ sei, dann ist das lediglich ein Ausdruck für die schläfrige Selbstbezogenheit einer Hilfsbewegung, die sich zunehmend institutionalisiert und damit verselbständigt. Wer so redet, der hat primär seine eigenen Interessen im Blick. Dabei sollte es doch um die Interessen derjenigen Menschen gehen, die in Not sind. In allen Diskussionen geht es (noch) viel zu viel um die Tafeln selbst und viel zu wenig um die Menschen, die eine Tafel benötigen.

Strukturentwicklung und Reflexion der Tafeln: Wer überholt wen?

Zeiten der Krise sind auch immer Zeiten des beschleunigten Strukturwandels. Zeiten, in denen die Eindeutigkeit der Vieldeutigkeit weicht. Damit stellen sich Fragen, deren Beantwortung immer dringlicher wird. Dies gilt auch für die Tafeln.

Noch immer wissen wir zu wenig über die Menschen, um die es eigentlich geht. Noch immer gibt es eine informationelle Versorgungslücke bezogen auf die Perspektive der „Kunden“. Die Perspektive der Betroffenen ist noch immer eine terra incognita, die dringend fundiert und empirisch untersucht werden sollte. Der Weg zu Tafeln, der Kundenblick auf Tafeln und die Folgen einer Tafelkundschaft in Abhängigkeit der Zeit sind offene Forschungslücken. Nur eine echte transdiziplinäre Forschung – als Zusammenspiel von Praxis und Theorie – kann dies leisten. Vielleicht lassen sich dazu ja einzelne Brücken zwischen wachsamen Tafeln und wachsamen ForscherInnen bauen.

In einem Gespräch mit einer sog. „Kundin“, brachte diese die Funktion der Tafeln markant auf den Punkt: „Tafeln sind die angenehmere Abhängigkeit“, so ihre Worte. Tafeln sind also, in der hilflosen Gesellschaft und im Vergleich mit der „kalten“ (weil bürokratischen und unpersönlichen) Hilfe, lediglich „das kleinere Übel“, so die Kundin weiter. Tafeln versuchen, so viel ist sicher, eine Form der direkten Begegnung. Auf der Ebene von Angesicht zu Angesicht mag das gelingen. Doch die typische Struktur einer jeden einzelnen Tafel verhindert, quer zu allen individuellen Bemühungen einzelner Helfer, die Konstitution echter Menschenwürde. Wenn aber das, was Tafeln erreichen, nicht mehr ist, als ein „Quäntchen Glück“ oder eine „angenehmere Abhängigkeit“, dann ist das, gemessen am kollektiv betriebenen Aufwand, zu wenig.

Mehr Informationen
Offizielles Portal des „Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.“: www.tafel.de
Unabhängiges Portal zu Tafeln und Kritik an Tafeln in Deutschland: www.tafelforum.de

Aktuelle Publikationen
Stefan Selke (Hg.): Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention. VS-Verlag: Wiesbaden. ISBN: 978-3-531-16139-6
Stefan Selke: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Westfälisches Dampfboot: Münster. 2. Auflage. ISBN 978-3-89691-754-6

Zum Autor
Stefan Selke, Dr. phil., Studium der Luft- und Raumfahrttechnik, Studium der Soziologie, Projektleiter beim infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft. Er ist gegenwärtig Professor an der Hochschule Furtwangen University. Sein Hauptinteresse gilt der Frage, mit welchen Strategien Menschen ihre Lebenswirklichkeit bewältigen. Dazu untersucht er Bilder- und Medienwelten ebenso wie die Welt der Tafeln. Nach der Veröffentlichung der ersten soziologisch-analytischen Reportage über Tafeln „Fast ganz unten” (2008) initiierte er das Onlineportal www.tafelforum.de zum Thema Tafeln in Deutschland.
Kontakt: ses@hs-furtwangen.de