Verglichen mit dem Netz ist das Leben ein rechtsfreier Raum

"Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" lautet eine wohlbekannte Floskel von Anwälten, Politikern oder Lobbyisten. Dabei ist das Internet so stark reglementiert, dass das "reale Leben", damit verglichen, wie Sodom und Gomorrha wirkt.

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My name is... my name is... my name is... Slim Shady

Wer Mottoparties mag, der wird nicht selten auf eine Vielzahl von Damen und Herren stoßen, die, je nach Motto, Andrea Jürgens, Gottlieb Wendehals, Slim Shady/Eminem, Axl Rose, Nana Mouskouri oder Dieter Bohlen heißen. Während der Party sprechen sich die Gäste gerne mit diesen Namen an, erfreuen sich an den oft sehr detailverliebten Kostümen und freuen sich, gemeinsam mit "Andrew Eldritch" zu "Temple of Love" tanzen und über die gute alte Zeit plauschen zu können. Bei den Faschingsparties nennt sich jemand schon einmal B.Ahlsen und schwenkt die Kekstüte, während er als Prinzenrolle verkleidet durch die Lande tanzt.

Kaum jemand würde auf die Idee kommen, diese Herrschaften wegen "ihrer" Namen abzumahnen. Anders in Onlineforen - dort kann schon die Verwendung eines Markennamens als Pseudonym zu einer Abmahnung führen. Nutzungsbedingungen weisen oft genug darauf hin, dass Pseudonyme so gewählt werden sollen, dass keine Verwechslung mit Personen des öffentlichen Lebens stattfinden kann und keine Markenrechte berührt werden. Natürlich ist es möglich, gegen eine solche Abmahnung rechtlich vorzugehen und gegebenenfalls wird dieser Fall sogar vom Abgemahnten gewonnen. Da die Rechtsschutzversicherungen im allgemeinen Markenrechtsstreitigkeiten nicht abdecken und die Gerichte sehr uneinheitlich entscheiden, ist dies jedoch ein hohes Risiko. Daher sichern sich die Forenbetreiber ab, so dass derjenige, der noch bei der letzten Tanzparty Slim Shady oder "der Neckermann" war, sich hüten sollte, diesen Namen auch in einem Forum zu benutzen.

We don´t play guitars

Wer Gitarrespielen lernen möchte, der ist am Anfang häufig frustriert. Dies resultiert aus der Tatsache, dass sich die Träume vom "schnell über die Saiten fahren und einen tollen Sound hinkriegen" mit der gleichen Geschwindigkeit verflüchtigen, wie sich Blasen an den Fingern bilden. Insbesondere jene, die Probleme mit dem Notenlesen haben, sind dann oft geneigt, aufzugeben. Gitarrenlehrer nutzen daher Gitarrentabs, die es ermöglichen, auch ohne Kenntnisse im Notenlesen zu spielen. Oft wird eine Seite eines Buches schnell einmal kopiert und dem Lehrling diese Kopie in die Hand gedrückt, auf dass er zu Hause fleißig übe.

Gleichermaßen geben Gesangslehrer ihren Zöglingen Kopien der Noten und Texte der Stücke in die Hand, welche bis zum nächsten Mal einstudiert werden sollen. Wer dieses Verfahren online anwendet und seinen Schülern auf der eigenen Homepage Texte und Noten von populären Musiktiteln oder Gitarrentabs erfolgreicher Rocksongs zur Verfügung stellt, hat gute Chancen auf eine kostenintensive Abmahnung.

Der Räuber und der Prinz

Peinliche Videos, die einen beim ersten Töpfchengang, dem Spielen mit der Quietscheente oder aber beim Imitieren der ersten großen Popstarliebe zeigen, sind leider ein Highlight bei Familienfesten.

Während Torte und Kaffee in Massen verschlungen werden, zeigen sich die Verwandten begeistert ob der vielen Erinnerungen, die durch diese Videos entstehen, während die Protagonisten nicht selten in guter alter Pharisäertradition Rum oder Baileys in ihren mit Schlagsahne verzierten Kaffee gießen um zu vergessen, dass sie tatsächlich dort auf dem Bildschirm oder der Leinwand zu sehen sind, "Holiday" von Madonna, "You can win if you want" von Modern Talking oder "Boys don´t cry" von The Cure trällernd beziehungsweise zum Sound von "New kids on the block" ein Tänzchen wagend. Wohl kaum ist damit zu rechnen, dass in einem solchen Moment jemand aufspringt um die Erziehungsberechtigten des kindlichen Raubkopierers zu verklagen, da er mit seinem Auftritt ja gegen Urheberrechte verstößt. Im Internet dagegen ist damit zu rechnen, dass selbst ein Kurzauftritt des Sprösslings als Verstoß gegen den Digital Millenium Copyright Act geahndet wird, so im Hintergrund unautorisiert ein Musikstück läuft.

Chemicals between us

Die öffentlichen Bibliotheken, so sie denn gut bestückt sind, bieten in den Chemiebüchern diverse Versuchsanleitungen, bei denen es wahlweise zu einem Knall, Rauchentwicklung oder Funkenstieben kommt. Sich mit anderen über derartige Versuche auszutauschen ist kein Problem. Auf diese Weise können Fehler vermieden und neue Ideen entwickelt werden. Veröffentlicht jemand im Netz beispielsweise die "Einführung in die Sprengchemie", muss er dagegen mit einer Hausdurchsuchung sowie einer Anklage wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz rechnen.

H-i-t-l-e-r/Sweet Sixteen

Weder bei einem der diversen Aufmärsche von Neonazis, noch bei deren Kundgebungen, ist es den Zuhörern verboten, sich durch das Anhören der "Argumente" der Damen und Herren ein eigenes Bild über die dahinterstehende Ideologie zu verschaffen. Wohl kaum jemand käme auf die Idee, eine Hundertschaft einzusetzen, die sämtlichen Zuschauen die Ohren und Augen zuhält, auf dass zwar weiterhin die Reden gehalten, jedoch nicht mehr wahrgenommen werden können.

Anders im Netz - dort werden seit langem Forderungen nach Netzsperrungen laut, die nicht etwa erreichen sollen, dass bestimmte Inhalte nicht mehr verbreitet, sondern vielmehr nicht mehr wahrgenommen werden sollen. Ob bei rechtsradikalen Inhalten oder bei der Kinder- und Jugendpornographie: der Politik, den Strafverfolgern und den Lobbyisten fällt diesbezüglich viel ein. Besonders absurd sind solche Regelung für selbstgemachte Posingphotos, die seit kurzem als "Jugendpornographie" verboten sind.

Wer in der wärmeren Jahreszeit an FKK-Stränden, im Freibad oder in der Stadt Jugendliche in engen Tops, knappen Bikinis, Mini-Stringtangas oder hüllenlos sieht, der fragt sich, inwiefern es legitim sein kann, dass das Betrachten von Jugendlichen und Kindern im realen Leben, auch wenn diese wenig bis gar nichts tragen, kein Problem darstellt, während es im Internet als Begründung für Netzsperren dient. Es geht hier ja nicht, wie suggeriert wird, nur um die Bilder von "live vergewaltigten Kindern", es geht auch um Bilder von Kindern und Jugendlichen, die in "aufreizenden Posen" zu sehen sind, egal ob bekleidet oder nicht (von den Schriften usw. ganz zu schweigen)

Hear no bullshit, say no bullshit...

Wer einen Diskussionsabend initiiert, der wird, auch bei kontroversen Themen, nicht wissen, ob es nicht auch zu gegebenenfalls strafrechtlich relevanten Äußerungen kommt. Es ist unwahrscheinlich, dass er verpflichtet wird, sämtliche Redebeiträge vorab zu prüfen und gegebenenfalls abzulehnen. Gleichermaßen ist nicht damit zu rechnen, dass er zur Verantwortung gezogen wird, wenn es zu Redebeiträgen kommt, die strafbar sind. Wer über eine bestimmte Softwarefirma referiert, der muss damit rechnen, dass auch Kommentare wie "legt die doch mit einem DoS lahm" getätigt werden. Wird der Sachverhalt auf das Internet übertragen, so kann nicht nur der Forenbetreiber als "Störer" belangt werden, er muss vielleicht sogar sämtliche Beiträge vorab prüfen, ob sie eventuell strafrechtlich relevant sein könnten.

Verglichen mit dem Netz ist das Leben ein Sündenpfuhl. Das Gerede vom "rechtsfreien Raum" kann also nur von Menschen kommen, die sich nicht einmal entfernt mit dem Internet und den Urteilen zu Störerhaftung, Urheberrecht, Markenrecht usw. befasst haben. Der Kampfbegriff des "rechtsfreien Raumes" wird exzessiv genutzt, obgleich er erwiesenermaßen falsch ist. Hierbei wurde die Tatsache, dass Länder versuchen, ihre Rechte auf sämtliche Inhalte des Netzes auszudehnen, nicht einmal erwähnt. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass z.B. bei YouTube je nach Landesauswahl manche Videos nicht zur Verfügung stehen. Im realen Leben wäre dies so als würde eine Disco in den USA die deutschen, französischen, italienischen... Gäste bei manchen Stücken herausbitten.

Manches Verhalten ist im Netz weitaus gefährlicher als im realen Leben. Wer sich ein Fahndungsplakat ansieht, wird nicht vom nächsten BKA-Mann beschattet, wer sich dagegen eine Webseite des BKA ansieht, muss schon einmal damit rechnen, dass die digitale Spur aufgenommen wird. Wer angesichts all dieser Urteile, Regelungen und Ideen noch vom rechtsfreien Raum spricht, der nutzt diesen Begriff lediglich, um das ohnehin schon viel zu stark und unübersichtlich reglementierte Internet mit all seinen Diensten noch weiter in gesetzliche Fesseln zu legen, auf dass eine der wenigen Möglichkeiten, sich gegebenenfalls noch mit anderen zu solidarisieren oder sich unabhängig zu informieren, weiter eingeschränkt wird. Denn Solidarität ist nicht erwünscht und freie Information ebenso wenig.