Die Krise der publizistischen Repräsentation

Der Finanzcrash, der Niedergang des kritischen Journalismus und warum wir keinen "Content" brauchen

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Früher, so ließe sich behaupten, war es nicht schwer, diese oder jene Sonntagsrede zu zitieren oder auf die eine oder andere Weihesstunde zu verweisen, in der das hohe Lied des Journalismus und der freien Presse gesungen wurde. Heute, so die These, werden diese Gesänge dünner und seltener. Stetig zugenommen hat hingegen ein Hintergrundgeräusch, eine Art stetes Rauschen, das die Flure und Großraumbüros der Verlage und Medienunternehmen erfüllt. Manchmal glaubt man Wörter wie „Content“ und „Einschaltquote“ herauszuhören, aber das Rauschen macht einen irgendwie auch taub und müde und es fällt immer schwerer, sich zu konzentrieren.

Zu konzentrieren? Auf was? Keine Zerstreuung? Manchmal, in den sterilen Seminarräumen der Universitäten und Fachhochschulen, in denen Kommunikationswissenschaft oder „Medienstudiengänge“ gelehrt werden, muss man mittlerweile tief mit der Schaufel ansetzen und das Erdreich der Geschichte abzutragen, um wieder Selbstverständlichkeiten an das Tageslicht zu befördern. Zumindest waren es Selbstverständlichkeiten bis – nun, sagen wir, bis zu dem Zeitpunkt, als eben jemand das Wort „Content“ in den Mund nahm, es genüsslich kaute und dann hinausspuckte in den weiten, weiten Raum der öffentlichen Publizistik, um all die dortigen Schreiberlinge mit nur einem Wort auf Dauer tief zu demütigen.

Seitdem hat der Inhalt einer Dose Erbsen – also der „Content“ – den gleichen Stellenwert wie die Nachtkritik über Lessings „Nathan der Weise“. Jedenfalls in den Augen der meist jüngeren und agilen Verlagsleiter, die genauso gut Waschmaschinen wie Zeitungen verkaufen. Nun ist es aber so, dass ein Zeitungsartikel keine Waschmaschine ist, worauf ja auch das Grundgesetz hinweist. Denn um auf die Selbstverständlichkeiten zurückzukommen, dazu gehört auch der unauflösliche Zusammenhang zwischen einer kritischen öffentlichen Meinung und der Demokratie. Letztere ist ohne Erstem nicht zu haben und umgekehrt.

Erst das im Zuge der bürgerlichen Revolution als Souverän gesetzte Volk mit Wahlen, Parteien und Parlamenten bedingte auch das Räsonnement dieser Bürger, die nun über ihre eigenen Angelegenheiten verhandeln. Und aus diesem Ur-Kern der Demokratie erwächst die fundamentale Aufgabe des Journalisten – die kritische Berichterstattung über das Weltgeschehen.

Und das Adverb „kritisch“ ist dabei wesentlich: Unter dem König gedeiht die Hofberichterstattung, unter dem Diktator die Zensur. Demokratie aber meint, dass das Volk - über die Person des Journalisten - ihren gewählten Vertretern auf die Finger schaut und über das Gesehene eine öffentliche Debatte stattfindet. Es ist also der kritische Intellektuelle als Prototyp des Journalisten, der nicht dem Interesse einer Partei oder eines Wirtschaftsunternehmens, sondern dem Allgemeinwohl und der Allgemeinheit der Bürger verpflichtet ist – auch wenn er dabei Partei ergreift.

Soweit zu den Sonntagsreden, die heute nicht mehr gehalten werden. Wie immer man auch den „kritischen Journalismus“ der Vergangenheit – also in der Vor-„Content“-Zeit – beurteilen mag, der zeitgenössische Zustand des kritischen Journalismus ähnelt mehr denn je einem Patienten auf der Intensivstation. Sicherlich gibt es sie noch, die Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen großer Zeitungen, Magazine und öffentlich-rechtlicher Sender, die Geschichten ausführlich recherchieren.

Einige. Die Großzahl der festangestellten Journalisten aber hat mit dieser Tätigkeit nur noch wenig zu tun: Vielmehr sichten sie Material der Nachrichtenagenturen, wählen aus und redigieren, erstellen das Layout und laden Bilder herunter. Sie verarbeiten vorgefertigtes Material und auf dieser Grundlage schreiben sie auch ihre Kommentare. Und dies mit immer weniger Zeit und mit immer weniger Kollegen, der Arbeitsdruck auf festangestellte Journalisten ist größer geworden. Dazu zählt nicht nur, dass der zu bewältigende Informationsfluss durch technische Möglichkeiten wie dem Internet angewachsen ist und sich die Zahl der Informations-Kanäle vervielfacht hat. Dazu zählt auch die wachsende Verunsicherung durch eine Personalpolitik der Verlage, die nicht mehr vor dem Ausstieg aus dem Tarifvertrag, vor dem Auslagern kompletter Redaktionsteile und dem Auswechseln ganzer Lokalredaktionen zurückschrecken.

Anstatt wie früher das gehätschelte Lieblingskind des Arbeitmarktes zu sein, wird heute der Journalist zum beliebig auswechselbaren Content-Lieferanten degradiert. So wundert es wenig, dass angesichts wachsenden Arbeitsdruckes in den Redaktionen die für eigene Recherche aufgewendete Zeit schrumpft und ein kritische Prüfung von Sachverhalten teilweise gänzlich auf der Strecke bleibt. Und dies angesichts einer wachsenden Heers von Pressesprechern, Kommunikationsberatern, Marketingexperten und Öffentlichkeitsarbeitern, die alles daransetzen, ihre Botschaft beziehungsweise die Botschaft ihrer Brötchengeber in den Medien unter- und so an den Mann und die Frau zu bringen.

Ein mittlerweile fast klassisches Beispiel für die Unterwanderung oder Durchsetzung von Medien durch Propaganda-Material und für eine unkritische Haltung von angestellten Journalisten gibt die Praxis der sogenannten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). Diese im Jahre 2000 gegründete Initiative gibt sich als überparteiliche Bürgerbewegung, entstand aber auf Initiative des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, wird von diesem bisher mit rund 100 Millionen Euro finanziert und dient der Verbreitung der gesellschaftspolitischen Ansichten des Arbeitgeberlagers, wie zum Beispiel die Forderung nach Lockerung des Kündigungsschutzes.

Mit Hilfe von professionellen Werbeagenturen, in Auftrag gegebenen Studien und von eingekauften Journalisten versendet die Initiative nun keine schlichten Presseerklärungen, sondern produziert über die „wissenschaftlichen“ Studien Ereignisse (und damit eine bestimmte Meinung), die über sogenannte „Medienkooperationen“, über geschaltete Anzeigen und über sogenannte Botschafter (oft Prominente aus Politik und Wirtschaft), Eingang in die Medien und somit in die öffentliche Sphäre finden. Das problematische daran ist, dass die geistige Urheberschaft dieser Botschaften – der Arbeitgeberverband – meist für den Leser nicht erkenntlich ist. Etwas plakativ verkürzt ausgedrückt: Draußen steht „HÖR ZU“ oder „FOCUS“ drauf und drinnen ist Gesamtmetall.

In welchen Zustand sich der Patient kritischer Journalismus befindet, darüber gibt eine Studie des Instituts für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster Auskunft, die sich mit der Öffentlichkeitsarbeit dieser „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ beschäftigt.1 Die Ergebnisse sind kein Ruhmesblatt eines verantwortungsvollen Journalismus: Insgesamt wird von den Medien über die INSM „wenig differenziert“ und in der großen Mehrzahl der Fälle „völlig unkritisch“ berichtet. Nur sehr selten wird die Initiative als Ableger des Arbeitsgeberverbandes beschrieben, entsprechend selten auch Angaben über die Finanzierung.

In mehr als zwei Fünftel der untersuchten Berichte waren keine zusätzlichen Recherchen der Redaktionen erkennbar. Überdies sind in weniger als der Hälfte der Beiträge, die überhaupt zusätzliche Recherchen enthielten, alternative Sichtweisen dargestellt worden. Das Fazit der Studie: „Die Berichterstattung verbleibt daher überwiegend in der durch die INSM vorgegebenen Perspektive.“ Durch das Verschweigen der ursprünglichen Quelle werde dem Leser „notwendige und orientierende Informationen zur Einordnung der Berichterstattung vorenthalten“. Der Autor der Studie erkennt richtig, eine derartige Praxis dürfe auch „dann nicht der Fall sein, wenn man im Grundsatz mit vielen Zielen einverstanden sein kann“, denn dadurch gerät der Journalismus massiv in Glaubwürdigkeits- und Legitimationsprobleme.

Wer nun glaubt, diese Lücke in der Recherche und bei der kritischen Hinterfragung von Botschaften werde von Freien Journalisten geschlossen, der irrt. Zwar gilt das selbe wie bei den festangestellten Kollegen – natürlich gibt es Beispiele von engagierten Journalismus - , doch die berufliche Realität der „Freien“ ist wahrlich kein Humus, auf dem unabhängige Recherche und Meinung gedeihen könnten. Dafür sorgen alleine schon die nur erbärmlich zu nennenden Honorare, die auf dem „freien Markt“ für Artikel gezahlt werden.

Wer für einen Bericht von normaler Länge sich auch von renommierten Tageszeitungen (wie zum Beispiel der „Neuen Zürcher Zeitung“) mit 150 Euro abspeisen lassen muss, dem vergeht diese Art Journalismus ganz schnell, es sei denn, sie wird als Liebhaberei betrieben. Eine aufwendige mehrtätige Recherche im Ausland gar, mit Reise- und Unterkunftskosten neben den ohnehin anfallenden sonstigen betriebswirtschaftlichen Kosten wie Büromiete oder Sozialversicherung ist im Grunde für Freie ökonomisch über die Honorare kaum zu leisten.

So verwundert es nicht, dass zum Beispiel der Reisejournalismus nahezu zu 100 Prozent durch Agenturen, Fremdenverkehrsbüros oder Reiseunternehmen gesponsert wird. Und es wundert nicht, dass ein Großteil der vollberuflich tätigen freien Journalisten sich mit Aufträgen von Werbeagenturen, Unternehmen, Organisationen, Verbänden, Verlagen oder Parteien über Wasser hält – nicht ehrenrührig, aber eben auch kein kritischer Journalismus, sondern PR-Arbeit.

Aber auch diejenigen „Freien“, die an einem aufklärerischen Anspruch festhalten, sind weniger frei als abhängig: Von der Gunst der einzelnen Redakteure, denen sie ihre Artikel anbieten und von der grundsätzlichen politischen Ausrichtung des Mediums. Wirklich frei wäre der freie Journalist nur, wenn er sich für seine Meinung auch eine eigene Zeitung oder einen eigenen Sender leisten könnte. So wie es eben das große oder mittelgroße Kapital gerne macht.

Der kritische Journalismus in der Krise

Es wäre unzulänglich, nur den Befund zu liefern, ohne die Entwicklungslinien hin zu dieser Krise zu benennen. Dies soll im Folgenden unter den Stichworten des Bedeutungsverlustes der Intellektuellen, der Hegemonie des Neoliberalismus und der Transformation der Universität unternommen werden.

Greifen wir das erste Thema auf und stellen zunächst fest, dass Macht, Ohnmacht und Verrat der Intellektuellen bisher ja durchaus in zahlreichen Debatten hin und her gewendet wurden: Von Julien Bendas „Verrat der Intellektuellen“ von 1927 über C. Wright Mills, der in den 1950er Jahren diesen Intellektuellen zunehmend im Dienste des Establishment sah, bis zu Régis Debray, der 2001 nur noch die Form des degenerierten Fernseh-Intellektuellen kennt. Dazwischen und davor lagen all die historischen Typologisierungen des Geistesarbeiters, vom „organischen“ bis zum „natürlichen“ Intellektuellen. An all diesen Debatten lässt sich zumindest eines festmachen: Dass dem Intellektuellen damals immerhin eine gewisse Bedeutung zugeschrieben wurde.

Dem ist heute nicht mehr so. Die kritischen Intellektuellen, zu denen auch der Journalist oder der Soziologe zu rechnen sind, scheinen ein Auslaufmodell zu sein, das wenig nachgefragt wird. So beklagte sich jüngst der Frankfurter Soziologe Heinz Steinert, dass niemand der Soziologe fragwürdige Angebote mache und die Profession keine großen Datenfälschungen kenne: „Beides, das Ausbleiben der Angebote wie der Skandale, sollten uns nachdenklich machen: Es ist nicht anders zu erklären als damit, dass niemand die Soziologie braucht – jedenfalls nicht dringend genug, um dafür großes Geld auszulegen.“2

Dies war bekanntlich in der Nachkriegszeit anders, die Soziologie lieferte durchaus wahrgenommene und nachgefragte Gesellschaftsanalysen – erinnert sei nur an das (freilich fragwürdige) Postulat der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ von Helmut Schelsky aus den 1960er Jahren.

Die Wertschätzung, der sich Intellektuelle/Journalisten in der Nachkriegszeit erfreuen konnten, wird auch an einem bisher wenig bekannten Kapitel aus dieser Zeit deutlich, in dem westliche wie östliche Geheimdienste Geld und Ehrungen unter die Kulturschaffenden verteilten, um diese ideologisch bei der Stange zu halten oder diese dorthin zu bringen. Sowohl die CIA als auch Ostberlin umwarben Künstler, Schriftsteller, Maler und Publizisten mit Geld, Jobs, Publikationsmöglichkeiten, Ehrungen.

Doch mindestens seit dem Fall der Mauer und damit dem Ende der Systemkonkurrenz ist diese Wertschätzung des Intellektuellen und damit auch des kritischen Journalisten ähnlich nach unten gegangen wie die Aktienkurse bei der Finanzkrise des Jahres 2008. „Man kann schreiben was man will, den Mächtigen ist es einfach egal“, sagte sinngemäß Seymour Myron Hersh, das „Urgestein“ des kritischen Journalismus in den USA. Wo es keine Systemkonkurrenz mehr gibt, benötigt man auch keine Interpreten dieser Konkurrenz: Die Fakten sprechen für sich.

Die Fakten, das sind auch die veränderten nationalen Klassenbeziehungen: Einen Bruch nennen dies die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux in ihrer Untersuchung über „Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard“.3 Die Arbeiter gibt es noch, aber man sieht sie nicht mehr. Ihre Organisationen sind geschwächt, ihre Führer korrumpiert, ihr Selbstbewusstsein ist verblasst und die Mächtigen fürchten sie nicht mehr. Die Deiche, die die Arbeiterbewegung im Laufe der Zeit errichtet hatte, um sich der Ausbeutung zu widersetzen, sind weitgehend unterspült. Die Folge: „der Dünkel, die Arroganz und die verschiedenen Formen der Geringschätzung gegenüber den ‚Subalternen’, die lange Zeit durch die bloße Existenz einer (institutionalisierten) politischen Arbeiterkultur gezügelt wurden, treten nun offen zu Tage und verbreiten sich in Fällen hemmungslos.“4 Das visuelle Verschwinden der Arbeitklasse markiert so den Niedergang einer sozialen Klasse.

Wenn also nicht nur der äußere Feind fehlt, sondern auch die ehemals „gefährliche Klasse“ im eigenen Land zahnlos geworden ist, wird das Heer der Weltinterpreteure und der ideologischen Fanfarenbläser, der Beschwichtiger und der Ankläger, der Mahner und der Deuter entbehrlich. Wo die Schlacht geschlagen, die Verhältnisse klar sind – das Kapital hat gesiegt – werden Intellektuelle nur noch für kleinere Nebenarbeiten benötigt. Ansonsten herrscht kulturell die Beliebigkeit: Wo es um nichts mehr geht, ist auch nichts mehr ernst zu nehmen.

Für den Osten hat Vladimir Zarev in seinem Roman „Verfall“ den Niedergang des Intellektuellen geschildert. In einer Szene geht es um Menschen, die in einer Mülltonne nach Essbaren suchen: „...abends, im Schutz der Dunkelheit kamen die Rentner und – mit ihren Schamgefühlen kämpfend – die arbeitslosen Akademiker und Intellektuellen.“5

Für den Westen lässt sich der Name Lothar Baier nennen. Ein kritischer Intellektueller des Jahrgangs 1941, der mit seinen Essays („Ostwestpassagen“, „Volk ohne Zeit“) die Unabhängigkeit des Denkens verkörperte und der sich einer ideologischen Vereinnahmung (auch von links) verweigerte. Dieses Beharren auf intellektuelle Unabhängigkeit führte ihn im Zuge der politischen Verrückungen nach 1989 immer mehr in randständige Positionen – hatte Baier noch zu Beginn der 1980er Jahre in den Feuilletons von Mainstream-Blättern wie die „Zeit“ geschrieben, blieben zum Schluss nur noch dissidente Publikationen wie die Schweizer „Wochenzeitung“ als Publikationsmöglichkeit. In prekärer Situation versuchte Baier, der sich dem Einheitsjournalismus immer versagt hatte, in Montreal einen Neuanfang, der schließlich 2004 mit seinem Freitod endete.

Ein einheitlicher journalistischer Brei, das wurde den Lesern der Presse mindestens seit Anfang der 1990er Jahre verabreicht. Dieser Brei bestand aus den Versatzstücken einer bizarren Weltanschauung, dem Neoliberalismus. Diese Weltanschauung hat einen Kern, der sich vorzüglich zur Rechtfertigung von ungerechtfertigten Reichtum eignet: „Die Wirtschaft ist ein Spiel und so etwas wie soziale Gerechtigkeit existiert nicht“ (Friedrich A. Hayek). Um diesen Kern herum wiederholten die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen unablässig die neoliberalen Mantras der Politik und Wirtschaftsverbände von Deregulierung, Entstaatlichung, Privatisierung, etc. etc. etc.

Die Wirtschaftswelt nach der politischen Wende 1989 war die Welt des siegreichen Kapitalismus und der Ökonomismus bahnte sich immer weiter seinen Weg in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche: Von der Kindergrippe bis zur Hochschule, vom Krankenhaus bis zur Müllabfuhr. Als einen der Höhepunkte dieses neoliberalen Mainstream kann sicherlich das Glaubensbekenntnis von Nikolaus Piper, damals Leiter der Wirtschaftsredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. Dezember 2003 gelten.6 Passend zu Weihnachten schenkte er seinen Lesern unter dem Motto „Freiheit statt Sozialhilfe“ eine „Moral des Sozialabbaus“, die mit elegantem Zynismus sich für die „Opfer der Sozialhilfe“ einsetzt, indem diesen die Zuwendungen gestrichen werden sollen. Steht einer erst knapp vor dem Verhungern, wird er seinen Hintern schon hoch kriegen und sich nicht träge auf der „Stütze“ ausruhen, lautet übersetzt die Quintessenz dieses unsäglichen Kommentars.

Fünf Jahre und eine globale Finanzkrise später finden wir in dem gleichen Blatt, das bis dato weiterhin das hohe Lied des Neoliberalismus gesungen hatte, plötzlich Serien wie „Kapitalismus in der Krise“ und die bisher auf „Freiheit statt Sozialhilfe“ – von der Losung „Freiheit statt Sozialismus“ ganz zu schweigen – gepolten Leser reiben sich nun verwundert die Augen über Sätze wie „Im modernen Kapitalismus haben wenige immer mehr und viele immer weniger – ein Irrweg.“7

Was soll man zu solchem Kurswechsel sagen? Sich freuen, dass der Journalismus sich wieder seiner Funktion der Kritik erinnert? Oder sich wundern, wie schnell man seine Fähnchen in den Wind halten kann?

Angesichts der globalen Finanzkrise von 2008 ist viel von Versagen die Rede: Die angebeteten Märkte haben versagt, die hochdotierten Manager haben versagt und die wortreichen Politiker haben versagt. Noch spricht man wenig vom Versagen des Journalismus, aber Fakt ist, dass die hochbezahlten und angeblich hochqualifizierten (Wirtschafts-)Redakteure der hochangesehenen Zeitungen zu großen Teilen die Sprechblasen von Wirtschaft und Politik übernommen haben, ohne wirklich auf einer kritischen Distanz zu beharren. Sie haben vielmehr ihren Löffel in den Einheitsbrei gesteckt und munter drauf los gerührt – ähnliches gilt im übrigen auch für „Hartz IV“ oder den „Bologna-Prozess“, der die Hochschulen umkrempelt.

Das Problem dabei ist nicht, dass diese oder jene Zeitung nicht ihren wirtschaftsfreundlichen oder neoliberalen Kurs fahren dürfe. Nur besteht zwischen Propaganda und Journalismus ein Unterschied, der eben den Journalisten auch dann zu kritischer Distanz verpflichtet, wenn ihm eine Tendenz nahe steht. In diesem Sinne lässt sich für die vergangenen Jahre von einer Art ideologischer Gleichrichtung – man muss nicht gleich mit den Assoziationen der „Gleichschaltung“ argumentieren – konstatieren, ein tiefes Tal des Mainstream, in dem sich von „Bild“ bis „Spiegel“ ungehindert der wirtschaftsideologische und sozialpolitische Einheitsbrei durch die Republik wälzte. Auf der Strecke blieb dabei eine differenzierte Medienlandschaft, die unterschiedlichen Standpunkten ein Sprachrohr bot und auf der Strecke blieb die Kritik an der Kritik des Sozialstaates, an der Kritik des angeblich gefährdeten Standortes Deutschland, an der Kritik der angeblich ausufernden sozialen Hängematte, etc.

Ein Medien-Kongress

Der „Internet-Forscher“:

Bei emotional und kognitiv niedrigem Involvement kommt es zu einem Browsing, das zu einem Zufallskauf führen kann. Bei emotional hohem und kognitiv niedrigem Involvement kommt es zu einem Browsing, das zu Impulskauf führen kann.

Der „kritische Soziologe“:

Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber sollte nicht wissenschaftliche Arbeit ein anderes Erkenntnisinteresse haben, als Verkaufsergebnisse für große Versandhäuser zu optimieren?

Kritische Journalisten fallen nicht vom Himmel, sondern kommen irgendwo her. Heute in der Regel von einer Hochschule. Dort gibt man ihnen neben dem Fachwissen Regeln an die Hand, wie man mit den gesellschaftlichen Phänomenen umgeht. Sie hinterfragt oder rechtfertigt. Das gesellschaftspolitisch kritische Potenzial von Studiengängen wie der Kommunikationswissenschaft ist freilich sehr überschaubar.

Auch in der Soziologie – die genuin gesellschaftskritische akademische Disziplin – ist der Neoliberalismus „so in soziologisches Denken eingedrungen, dass es sich nicht mehr...kritisch von dieser sich als Theorie verkleideten Weltanschauung distanzieren kann.“8 Von den Wirtschaftswissenschaften eine Distanzierung von den eigenen Dogmen zu verlangen, ist (noch) nicht wirklich sinnvoll.

Und ist es nicht generell so, dass an Universitäten, deren Hörsäle nach Firmen benannt werden, dem kritischen Geist nach und nach das Lebenslicht ausgeblasen und dafür die Neonreklame eingeschaltet wird? Darauf, dass sich Hochschulabsolventen – und somit spätere Journalisten – aufgrund der effektiven Auslesefunktion des Bildungssystem aus den höheren sozialen Lagen rekrutieren und somit selten Arbeiterkinder in den Redaktionen zu finden sind, muss eigentlich nicht mehr hingewiesen werden.

Sicherlich gibt es einige gute Journalistenschulen, aber es gibt auch immer mehr private Studiengänge, die einen Abschluss in „Journalismus“ oder sonstigen Aspekten von „Medien“ versprechen. Für rund 20.000 Euro und mehr ergattern diese Studierenden dort dann einen Studienplatz und absolvieren den selben Marathon wie an den Fachhochschulen: Ein verschultes Studium, in dem der Geist zwischen „Modulen“ eingekeilt wird.

So kritisiert der Medienwissenschaftler Michael Haller eine „Inflation unspezifischer Studiengänge“, die „irgendwas mit Medien“ zu tun haben. Diese Bachelor-Abschlüsse werden ausreichen, um später Internet-Module auf Web-Portalen mit angelieferten „Content“ aufzufüllen, nicht aber für eine Beurteilung und Einordnung von politischen und gesellschaftlichen Phänomen.

Ich habe drei Gründe genannt, warum der kritische Journalismus nicht so kritisch ist, wie er sein sollte. Sie haben nicht nur mit dem Versagen einzelner Journalisten, Redaktionen oder Studiengänge zu tun, sondern mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Trend, mit einer gesellschaftlichen Grundströmung, was freilich nicht als Absolution für einen affirmativen Mainstream-Journalismus gelten kann. Dabei wird die Diagnose hinsichtlich des Journalismus mehr und mehr ins Abseits gedrängt von der Klage über den Niedergang der Zeitungen selbst: Manche sehen sie nur noch als gedrucktes Anhängsel einer Online-Ausgabe.

Bei diesen Klagen über sinkende Auflagen fällt freilich meist die zentrale Frage unter den Tisch: Ist womöglich das Produkt einfach schlecht? Vielleicht ist der angeboten Journalismus eben ein Gammelfleisch-Journalismus – aus billigsten Zutaten wie Pressemeldungen oder Werbebotschaften, unter billigsten Umständen, unter Zeitdruck und unter Umgehung eines journalistischen Reinheitsgebotes fabriziert.

Warum soll man sich dann wundern, dass neben der Politikverdrossenheit eine Zeitungsverdrossenheit sich einstellt, wenn dem Wähler und Leser immer die gleichen Mantras angeboten werden: Dass Lohnerhöhungen jetzt nicht in die wirtschaftliche Situation passen, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, dass Sozialleistungen nicht mehr bezahlbar seien, etc. Längst hat sich eine beunruhigende Kluft zwischen den Bürgern und seinen politischen Repräsentanten sowie den selbsternannten Eliten aufgetan: Die Sozialwissenschaft nennt dies die Krise der Repräsentation. Will man sich gruseln, braucht man nur einige Umfrageergebnisse anzusehen:

  • Die Kluft zwischen Wählern und Gewählten wird immer größer. Völlig anders als die Bürger halten Politiker zum Beispiel die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland mehrheitlich für gerecht. Während 60 Prozent der gewählten Volksvertreter diese Einschätzung teilen, tun dies lediglich 28 Prozent der Wähler - die Mehrheit der Deutschen beurteilt die Vermögensverteilung als ungerecht.9
  • Die Kluft zwischen Politik und Volk war in Deutschland noch nie so tief wie Ende 2006, so das Fazit einer Forsa-Umfrage für eine Illustrierte. Danach glauben 82 Prozent aller Deutschen und sogar 90 Prozent der Ostdeutschen, dass „auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht“ genommen wird. Nur 18 Prozent meinen, dass „das Volk etwas zu sagen hat“.10
  • Arbeitslosigkeit macht arm und demokratieverdrossen - auch Daten des Statistischen Bundesamtes weisen auf problematische gesellschaftliche Trends hin. Die Zahl derer, die in Westdeutschland eine andere Staatsform als die Demokratie besser finden, ist von 9 Prozent im Jahr 2000 auf 17 Prozent 2005 gestiegen (Ostdeutschland: von 27 auf 41 Prozent). Am kritischsten der real existierenden Demokratie gegenüber sind - wen wundert's - die Arbeitslosen.11

Die Nennung derartiger Umfragebeispiele ließe sich unschwer auf weitere Klüfte zwischen Bürger und Politik, Bürger und Wirtschaft, etc. vermehren. Und es ist zu Fragen, wie sich diese Klüfte publizistisch abbilden. Oder haben wir neben der Krise der politischen Repräsentation auch eine Krise der publizistischen Repräsentation? Anders gesagt, findet sich der Leser und Bürger mit seinen Erfahrungen und Meinungen nicht mehr in den Zeitungen wieder, weil die nur die Welt der Politiker und Eliten widerspiegeln? Und – so die letzte Frage – könnte ein kritischer Journalismus, der eben diese Erfahrungen und Meinungen der Leser ernst nimmt, nicht die Zeitungen wieder aus ihrer Krise führen?