Früher "working poor", jetzt "poor"

Armut pur, aber ohne soziales Netz - das kennzeichnet für Barbara Ehrenreich die eigentlichen Opfer der Rezession in den USA

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Der 67-jährigen Publizistin Barbara Ehrenreich kommt das Verdienst zu, mit Sachbüchern und Artikeln in großen Zeitschriften und Zeitungen zentrale amerikanische Mythen zerpflückt zu haben: das unerschütterliche „Amerika der Mittelschichten“, die gesegnete „Dienstleistungsgesellschaft“ und nicht zuletzt die „trickle down economy“. Die Investigativjournalistin erklärte den Amerikanern während des Wirtschaftsbooms unter Clinton und Bush, was die „working poor“ sind: eine stetig wachsende Zahl von Menschen, die zu Niedriglöhnen arbeiten, oft mehrere dieser sogenannten McJobs haben und trotzdem arm bleiben. Aber das war vor der Wirtschaftskrise.

Dann kam „die Krise“, aber mit ihr auch die Begeisterung fuer den neu gewählten US-Präsidenten Barack Obama, von der auch Ehrenreich erfasst wurde. Sie war wie viele andere sozialdemokratisch-keynesianisch orientierte Intellektuelle eine Zeitlang dem – wie sie heute sagt – „Rezessionsporno“ aufgesessen, den die Massenmedien mit ihrer Berichterstattung über die Krise darbieten. In den letzten Monaten konzentrierten sich Journalisten, die zur oberen sozialen Schicht gehören, ausschließlich auf die Superreichen, die ihre Privatjets verkaufen müssen, auf die oberen Mittelschichten, die sich ihre Personal Trainer nicht mehr leisten können, und auf die Menschen auf den mittleren Sprossen der sozialen Leiter, die jetzt auf ihren Karibikurlaub verzichten müssen.

Dass dies nicht die sozialen Abgründe der „Great Recession“ sind - darauf stieß Ehrenreich erst durch eine Email eines ihrer Neffen. „Ein Hilferuf“, sagt sie, aus der eigenen Familie habe sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Die 55-jährige Schwiegermutter des Neffen, erfuhr sie, war zwangsgeräumt worden. Sie hatte einen Herzinfarkt, weil sie als „working poor“ von drei Jobs völlig überarbeitet war. Drei Jobs, mit denen die alleinstehende Frau für zwei Enkel und ein behindertes Kind sorgen musste. Nach dem Herzinfarkt konnte sie ihre Hypothek nicht mehr bezahlen. Die gutsituierte Autorin Ehrenreich überwies Geld und besuchte sie in ihrem Wohnwagen irgendwo in einem Trailerpark im ländlichen Missouri. Dort fand Barbara Ehrenreich vier Menschen vor, die auf engstem Raum in einem Wohnwagen hausten. Die ehemalige Haupternährerin war inzwischen arbeitslos.

Von „working poor“ konnte keine Rede mehr sein, Armut pur ohne soziales Netz – so lautete das bittere Schicksal. Hunderte von Amerikanern erleiden täglich dieses Schicksal. Darüber schrieb Barbara Ehrenreich Mitte Juni in einem langen Artikel (Too poor to make the news) in der „New York Times“. Peg, die Schwiegermutter ihres Neffen – das sei „das eigentliche Gesicht der Rezession“. Denn die ehemalige „working poor“ finde keine Arbeit mehr.

Die Arbeitslosigkeit bei den ehemals “working poor” im Niedriglohnsektor ist inzwischen dreimal so hoch wie bei mittleren Angestellten. Die Lebensbedingungen derjenigen, die in den USA ganz unten abgestürzt sind, sind von den Armutsverhältnissen in der Dritten Welt nicht mehr zu unterscheiden. In dem Trailerpark, den Ehrenreich besuchte, habe sie hungrige Menschen beobachtet, die auf Waschbären- und Eichhörnchenjagd gehen.

Zeltstädte von Obdachlosen sind bisher die Ausnahme. Noch ist es möglich, bei Angehörigen, die besser dran sind, unterzukommen. Zusammenrücken auf engstem Raum, aber auch der Gang zu Supermärkten, die Nahrungsmittel am oder über dem Verfallsdatum für ein paar Cents versteigern, gehören zu den Überlebenstechniken. Dass soziale Proteste in den USA ob solcher verheerender Bedingungen bislang ausblieben, schreibt Barbara Ehrenreich der Vereinzelung und der Scham zu.

Sich selbst und anderen zuzugeben, dass man nicht mehr der Mittelschicht – was immer das sein mag – angehört, würde für Viele bedeuten, die Verheißungen des „American Dream“ aufzugeben. Aber in dieser Ideologie glaubt sie die ersten Brüche (Economy in Ruins - Why no social outcry?) zu erkennen. Die soziale Kontrolle funktioniere nach wie vor, etwa über die PR-Industrie, die die „Nouveau Poor“, die neuen Arbeitslosen, zum endlosen Verfassen von Bewerbungsschreiben anhält. Aber: „Unsere Helden sind nicht mehr die milliardenschweren Firmenchefs. Ich glaube schon, dass ein Wertewandel im Gange ist“.