Eine schallende Ohrfeige aus Karlsruhe

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht wird die Demokratie gestärkt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In anderen Ländern entscheidet das Volk, in Deutschland entscheidet Karlsruhe. Mit seinem Urteil zu den Klagen gegen den Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht einmal mehr seine überragende Bedeutung für die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland unter Beweis gestellt. Sind die Verträge von Lissabon, die ursprünglich eine EU-Verfassung werden sollten, mit dem Grundgesetz zu vereinbaren? Ja, aber ... und das "aber" aus Karlsruhe ist gewichtig, gewichtiger, als Beobachter erwartet hatten. Der Bundestag muss nun sein "Begleitgesetz" zum Vertragswerk von Grund auf neu formulieren - eine schallende Ohrfeige aus Karlsruhe.

Das Urteil

Das Urteil der obersten Verfassungshüter ist eindeutig und regelt nicht nur Deutschlands Ratifikation der Lissabon-Verträge. Das Urteil stellt vielmehr eine verbindliche Leitlinie für Berlin dar, wie man künftig mit "Europa" gesetzgeberisch zu verfahren hat: Lissabon ist ein Rahmenwerk, das keinen verfassungsähnlichen Charakter hat. Insofern sind die Verträge von Lissabon auch mit der deutschen Verfassung zu vereinbaren. Es darf allerdings keine demokratisch nicht legitimierte Zustimmung Deutschlands zu EU-Gesetzen geben, die die nationale Souveränität betreffen, die Kompetenzen der EU erweitern oder die Abstimmungsmodalitäten ändern.

Diese Zustimmung muss dabei durch die Legislative erfolgen, also durch Bundestag und Bundesrat. Die Bundesregierung darf also nicht ohne formelle Zustimmung des Parlaments durch ihren Abgesandten im Brüsseler Ministerrat EU-Gesetzen zustimmen, die zuvor nicht demokratisch verabschiedet wurden. Für die EU darf es - nach dem Willen der obersten Richter - auch keine "Kompetenz-Kompetenz" geben. Deutsche Gesetze dürfen somit nicht unter dem Argument des "Umsetzungszwangs" von EU-Richtlinien und -Gesetzen 1:1 umgesetzt werden, ohne zuvor im Bundestag separat verabschiedet zu werden. Letztendlich behält sich Karlsruhe auch weiterhin die oberste Gerichtsbarkeit in allen Fragen, die die Grundrechte und die Verfassung betreffen, vor - Karlsruhe schafft sich also nicht selbst ab, wie Kritiker befürchteten. Stattdessen stellten die Richter trocken und souverän fest, dass das BVerfG das letzte Wort hat, wenn "Rechtsschutz auf europäischer Ebene nicht zu erlangen sei", womit sich Karlsruhe über den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg stellt.

Europa kommt an die Spree

Geradezu vernichtend fällt das Urteil Karlsruhes über die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments in Straßburg aus. Das Parlament sei "weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen [...] zu treffen". Zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen sei es aufgrund des Demokratiedefizites nicht berufen.

Die Europapolitiker der Parteien werden dankbar sein, dass die Urteilsverkündung des BVerfG wohlweislich nach den Europawahlen angesetzt wurde. Mit einem derart vernichtenden Urteil im Rücken fiele es den Politikern noch schwerer, die Bevölkerung für eine Teilnahme an den Europawahlen zu begeistern. Europa findet nicht nur in Straßburg und Brüssel statt - Europa wird künftig auch in Berlin stattfinden. Brüssel kann zwar weiterhin die Gesetzestexte formulieren, abstimmen muss allerdings nicht Straßburg, sondern Berlin. Das Votum des Europäischen Parlaments spielt demgemäß künftig für deutsche Belange nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn nationale Politik betroffen ist, hat der Bundestag die Entscheidungshoheit, für Deutschland zu sprechen.

Wider die Selbstherrlichkeit

Zur Demokratie gehört die Gewaltenteilung. Auch wenn die Grenzen zunehmend verschwimmen, macht nicht die Exekutive die Gesetze, sondern die Legislative. In Deutschland ist der Bundestag der Gesetzgeber, die Regierung als exekutives Organ hat die Gesetze lediglich zu befolgen und darf eigene Gesetzesvorschläge einbringen. Bei der EU verschwimmt die Grenze zwischen Legislative und Exekutive hingegen vollends. Im Brüsseler Ministerrat sitzen Vertreter der Exekutive, die Gesetze verabschieden. Die demokratische Legitimation dieses Verfahrens ist im besten Falle in homöopathischen Dosen vorhanden.

Diesen Umstand beklagt auch Karlsruhe, das eine deutsche Zustimmung oder ein deutsches Veto im Ministerrat von einer Zustimmung durch den Bundestag abhängig macht. Die Macht der EU-Bürokratie sinkt damit, und der Einfluss der deutschen Wählerstimme steigt, ebenso wie die demokratische Legitimation europäischer Gesetze. Der Selbstherrlichkeit der Politeliten wurde damit von Karlsruhe ein Stein in den Weg gelegt. Es wird unter dem Lissabon-Vertrag für die deutsche Politik nicht möglich sein, "durchzuregieren", indem man unbequeme Entscheidungen an Brüssel auslagert und sie dann unter dem Vorwand der "Kompetenz-Kompetenz" in nationale Gesetze gießt, ohne sie in Bundestag und Bundesrat zu diskutieren.

Lissabon in Teilen ausgehebelt

Eine interessante Lücke lässt Karlsruhe für den Fall offen, das eine EU-Gesetzesinitiative, welche vom Bundestag abgelehnt wurde, in Brüssel gegen die deutsche Stimme verabschiedet werden sollte. Ein solches EU-Gesetz hätte keine demokratische Legitimation und letztendlich wäre der Weg nach Karlsruhe vorherbestimmt. Wenn Karlsruhe allerdings über europäischen Gesetzen steht, macht der Vertrag von Lissabon keinen Sinn. Wenn ein Staat sich unter Berufung auf nationale Gerichtsbarkeit gegen die Entscheidungen Brüssels stellen kann - und in einigen Fällen sogar stellen muss -, ist der Grundgedanke der Abstimmungsmodalitäten und der Mehrheitsfindung auf EU-Ebene natürlich Makulatur.

Den Europapolitikern wird diese Entscheidung noch graue Haare bereiten. Wenn alle EU-Staaten außer Deutschland einem EU-Gesetz zustimmen, so müsste auch Deutschland nach Lesart des Lissabon-Vertrages diesem Gesetz zustimmen. Nach dem Urteil des BVerfG darf der deutsche Abgesandte in Brüssel diesem Gesetz aber nur dann zustimmen, wenn er die Legitimation des Bundestags hat. Sollte einmal der Fall eintreten, dass Deutschland den Lissabon-Vertrag wegen dieser Vorgabe aus Karlsruhe brechen muss, steht der EU eine tiefe Krise bevor.

Nur ein Teilerfolg

Dem Widerspruch der Beschwerdeführer hat Karlsruhe nur in einigen Punkten Recht gegeben. Peter Gauweiler scheiterte mit seiner Interpretation, dass der Lissabon-Vertrag die nationale Souveränität aushebeln würde, auf ganzer Linie. Die Richter erkannten ausdrücklich, dass die EU keine gesetzgeberische und staatliche Souveränität darstellt, die sich dem deutschen Grundgesetz zuwider verhalten würde. Auch der Argumentation der Fraktion der Partei "Die Linke" wurde nicht stattgeben.

Die Verankerung der "freien Markwirtschaft" im Lissabon-Vertrag ist legitim. Die Argumentation Karlsruhes ist in diesem Punkte logisch. Wenn der Vertrag von Lissabon keinen verfassungsähnlichen Charakter besitzt, kann man in ihm festschreiben, was man will. Wenn allerdings auf Basis dieses Vertrags Gesetze beschlossen werden, die dem deutschen Grundgesetz widersprechen, so hat Karlsruhe hier das letze Wort und Grundlage ist dabei nicht der Vertrag von Lissabon, sondern das deutsche Grundgesetz. Wenn ein EU-Gesetz also die Menschwürde unter den "freien Markt" stellt, so kann - und wird - dieses Gesetz von Karlsruhe für den Geltungsbereich Deutschland für null und nichtig erklärt werden.

Mehr Demokratie wagen

Den Bürgern gilt das Bundesverfassungsgericht als letzter Notanker, wenn die Obrigkeit ihre Funktion allzu selbstherrlich interpretiert. Kein anderes Verfassungsorgan hat beim Volk einen derart guten Ruf. Während Legislative und Exekutive das Grundgesetz gerne nach ihren Vorstellungen interpretieren und verbiegen, ist es immer wieder die Judikative, die allzu forschen Wünschen der Volksvertreter einen Riegel vorschiebt. Das heutige Urteil steht ganz in dieser guten Tradition - mehr Demokratie wagen. Zugleich zeigt Karlsruhe der Politik die Grenzen der europäischen Integration auf. Eine weitere Stärkung der EU auf Kosten der nationalen Souveränität wird es unter dem Grundgesetz nicht geben. "Das Demokratieprinzip ist nicht abwägungsfähig", wie die Richter in ihrer Urteilbegründung feststellen, bedürfte es für eine weitere Ausgliederung von nationalstaatlichen Funktionen an die EU einer neuen Verfassung. Das Grundgesetz sieht diesen Fall explizit vor - aber vor einer neuen Verfassung stünde eine Volkabstimmung. So viel Demokratie ist in der Politik aber nicht beliebt.