Metaversum aufgebohrt

Ein paar mutige Avatare schlagen die Brücke zwischen dem alten Second Life und den neuen Multiversen: das "Loch durch die Welten"

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Im virtuellen Kosmos der 3D-Welten bahnt sich eine neue Genesis an: Open Source-Metaversen machen mit niedrigeren Preisen und besseren Möglichkeiten dem Oldie Second Life die Vorherrschaft streitig.

Seit Frühjahr letzten Jahres herrscht in der Medienlandschaft Konsens darüber, dass Linden Labs Spielzeugmetaversum Second Life generell für tot zu erklären ist. Eine Schlussfolgerung, die man zog, als zahlreiche große Unternehmen, empört darüber, dass ihnen auch in der virtuellen Welt niemand einfach so Geld in Rachen werfen wollte, aus dem Avatarchat abwanderten. 2007 noch gehyped, fiel Second Life in Ungnade und wurde zur Deppenspielwiese ernannt.

Aber werfen wir doch einmal einen Blick auf die Befindlichkeiten des Metaversums im Sommer 2009, sozusagen ein Jahr post mortem. Auf den ersten Blick könnte man glauben, dass sich nichts verändert hat. Aber eben nur auf den ersten. Wer lange nicht online war, wird feststellen, dass viele Orte zu existieren aufgehört haben. Zahlreiche Sims wurden bereits im Verlauf des letzten Jahres abgeschaltet, Folge der von Linden Labs angezogenen Preise. Obdachlos gewordene Avatare konsumieren natürlich weniger. Wer nicht weiß wohin damit, der kauft keine Häuser, Möbel oder andere Accessoires mehr und so sind die Einnahmen von Shopbesitzern in den letzten 12 Monaten dramatisch eingebrochen. Nein, die jetzige Second Life Population ist bei weitem nicht mehr so konsumfreudig, wie es die vor zwei Jahren war. Bedingungen, die es Shopbesitzern leicht machen, sich von ihren virtuellen Unternehmen zu trennen. Denn mittlerweile verdient wirklich nur noch allenfalls Linden selbst am Metaversum - obwohl auch deren Situation schon lange nicht mehr rosig sein dürfte.

So ist Second Life unfreiwillig zur sehr überzeugenden Simulation einer vor die Hunde gehenden Ökonomie geworden – und sei es auch nur eine Mikroversion letzterer.

Und trotzdem: Second Life ist immer noch da und es tummeln sich gut und gern mal zwischen 60.000 und 70.000 Nutzer gleichzeitig, denn das Interesse an 3D Avatarchats ist ungebrochen. Ja, es sind sogar mehr Nutzer als früher und wer sich vorurteilsfrei umschaut, der wird bemerken, dass nach wie vor fröhlich experimentiert wird und mancher sich Gedanken darüber macht, was sich aus der Plattform in Sachen Kultur und Bildung herausholen lässt. Nur eben nicht zu dem Preis der den Lindens als Möchtegernmonopolisten vorschwebt. Und so hat schon vor mehr als einem Jahr eine neue Entwicklung begonnen: Der große Exodus in die Open Sims.

Gemeint ist die aus dem Boden schießende Konkurrenz, für die Linden Lab im Prinzip selbst die Initialzündung geliefert hat, als man den hauseigenen Client Anfang 2007 zur Open Source-Software erklärte. So ermöglichte man findigen Köpfen die Möglichkeit, einen Blick unter die Motorhaube zu werfen und leitete damit u. a. die Entwicklung von OpenSimulator ein: eines alternativen, zu Second Life kompatiblen Serverssystems, auf dessen Basis findige Weltenbauer inzwischen in großer Zahl ihre eigenen Metaversen konzipieren.

Einer davon ist Case Schnabel, Second Life-Urgestein - was hierzulande meint, mehr als zwei Jahre dabei zu sein – und einer der Hintermänner des IT&W Blogs; dort übrigens bekannt als Majo.

Seine Baumeistertruppe, die "Guglmänner", hat für die Entwicklungsfirma TalentRaspel mit Open Neuland ein eigenes Grid auf den Weg gebracht. Man will dort Avataren eine neue Heimat bieten – mit mehr Möglichkeiten und zu deutlich niedrigeren Preisen als beim großen Anbieter Linden. TalentRaspel bietet die beiden Welten Open Neuland und Wilder Westen an: Open Neuland im gesicherten und kontrolliert vernetzten HyperGrid-Verbund mit geschützten Inhalten, Währung, Handel, anmietbaren Ländereien, aber auch vielen für Second Lifler ganz neuen Features, Wilder Westen als völlig offene, frei mit dem restlichen virtuellen Universum vernetzte und in Folge weitgehend "wilde" Spielwiese für vielfältige Experimente, mit u. a. auch auf nutzereigenen Servern betriebenen Ländereien.

Schnabel glaubt, es wird letztendlich keinen alleinigen Gewinner unter den OpenSimulator-Betreibern geben. Die Zeiten des „metaversalen Monopolismus“ sind vorbei. Nutzer wollen ihre mühsam vernetzte, ganz private Community in Second Life nicht verlieren, und nicht nur eines, sondern alle Grids erforschen. Diese müssen sich entsprechend öffnen und Teleports über die Systemgrenzen hinweg ermöglichen - Second Life einschließlich. In diesem Trend, so sind Case Schnabel und seine Freunde sich sicher, liegt die Zukunft. Die Situation ist vergleichbar mit der Anfangszeit des Webs: Internetseiten sollten mit allen Browsern lesbar sein und nach Möglichkeit sogar einheitlich aussehen. Genau das fordern die Nutzer jetzt vom virtuellen Universum.

Noch hängt die Technik hinterher. Zwar gibt es mittlerweile Alternativen für den Second Life-Client, die Sprünge von Second Life in Open Simulator-Welten und umgekehrt erlauben, das allerdings auf noch ziemlich holprige Art. Auch das Inventar kann nicht einfach so transportiert werden, ganz davon abgesehen, dass derselbe Avatar in verschiedenen Welten völlig anders aussieht.

Mit einer amüsanten Installation in ihrem „Open Neuland“ wollen Case Schnabel und der TalentRaspel-Gründer Dipl.-Inf. Kai Ludwig jetzt auf die Notwendigkeit von Brücken zwischen den Metaversen hinweisen. Ein Steampunk-Kunstwerk des Multimedia-Künstlers Paul St George lieferte die Inspiration dafür: der installierte 2008 sein “Telectroscope” in London und streute die dazu passende Legende um einen geheimen Tunnel unter dem atlantischen Ozean. Mit dem Telectroscope, so der Erbauer, sei es möglich, entlang des Tunnels direkt in das entsprechende Gegengerät in New York zu schauen. Eine Legende, die mancher gern glaubte, und so wurden in London und New York fröhlich Botschaften und Telefonnummern auf Pappschilder gemalt und vor den Telectroscopen geschwenkt.

Schnabel gefiel die Idee so gut, dass er sich Gedanken darüber machte, wie sich die Idee für die virtuellen Welten umsetzen ließ. Die Antwort darauf lieferte Kai Ludwig mit trickreicher Software, die eine Bildverbindung zwischen Second Life und Open Neuland ermöglicht. Durch das so entstandene Grid-O-Scope, die Open Neuland-Version des Telectroscopes, kann man nun von einer Welt in die andere schauen.

Die Macher haben sogar ihre ganz eigene Legende über einen geheimnisvollen Virtualitäts-Singularitäts-Aethertunnel gesponnen, in die mit riesigen Erdbohrern hantierende viktorianische Forscher und der Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs verwickelt sind. Dass er über viel Fantasie verfügt, bewies Case Schnabel ja schon mit seiner König Ludwig II. gewidmeten Steampunk-Sim Cybavaria. Demnächst will man mit Hilfe des sagenhaften Grid-O-Scopes virtuelle Konzerte organisieren, die gleichzeitig in Second Life und Open Neuland verfolgt werden können. Das ist freilich keine wirkliche Innovation, eher ein charmanter technischer Gag, aber auch ein weiterer Schritt in Richtung Zukunft.

Talentraspler Kai Ludwig versteht OpenSimulator als eine Möglichkeit „das Gestrüpp im alten Second Life zu lichten“. Immerhin bieten die günstigen SIMs schon jetzt Möglichkeiten, die man in Second Life vermisste. „Du kannst deine ganze Insel auf CD brennen und woanders neu installieren“, erklärt Kai Ludwig. Großes Potential liegt aber in der noch kleinen Population von jungen OpenSimulator-Welten. Aber - die virtuelle Einsamkeit war und ist auch in Second Life ein wohlbekanntes Phänomen.

Case Schnabel und Kai Ludwig betonen, dass sie die Zukunft nicht in einer einzigen OpenSimulator-Varaiante sehen, sondern in der Summe aller Grids, einschließlich Second Life. Wer den Zug jetzt nicht verpassen will, sollte - da sind sich beide sicher - sowohl „hüben wie drüben“ aktiv bleiben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Teleports zwischen den verschiedenen Plattformen zur Selbstverständlichkeit werden und man durch die virtuelle Welten des 3D-Internet surft, wie es im flachen Internet bereits seit langem üblich ist.

Für den Durchblick zwischen den Welten haben die Open Neuland-Macher ja immerhin schon mal gesorgt …