Jugendschutz durch Horror

Ehrfurchtserklärung an eine Fernsehserie

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In den 1960er Jahren trennte sich der deutsche Fernsehkrimi in einen Soap-und-Action-Teil, der im Tatort immer mehr raffiniert wurde (bis schließlich nichts mehr anderes übrig war) und in einen Milieustudien-mit-Horror-Teil, der in der Serie Aktenzeichen XY fortgeführt wurde.1

Den ersten Bereich, der sich in den 1990er Jahren mit Lindenstraße und Polit-Talkshow zu einer Art heiligen Propagandadreifaltigkeit verband, charakterisierte die Neue Zürcher Zeitung in diesem Frühjahr wie folgt:

Der ganze zeitgeistige Quatsch einer seichten Talkshow- und Feuilleton-Soziologie hat im 'Tatort' seine Abladestelle gefunden. Politische Unkorrektheiten, wie sie sich zum Beispiel der Wiener Polizeimajor Kottan noch leisten konnte, sind heute undenkbar. Es dominieren, mit wenigen Ausnahmen, Gutmenschen, Allesversteher und Betroffenheits-Betschwestern. [...] Wenn das Adolf-Grimme-Institut, das solchen Gesinnungskitsch immer wieder auszeichnet, darin eine 'spannende Verhandlung zeitkritischer Stoffe' sieht, dann sagt das nichts über die Qualität der Krimis, wohl aber viel über das Elend einer trendigen Fernsehkritik. Bisher hat diese Entwicklung nur den 'Tatort' ruiniert und spannende Fernsehunterhaltung durch die Langeweile ersetzt. Wirklich schlimm würde es, wenn die echten Polizisten sich ihre Fernsehkollegen zum Rollenvorbild nähmen.

Der andere Zweig der Fernsehkrimi-Entwicklung hatte seine Wurzeln nicht nur in Stahlnetz (einer zwischen 1958 und 1968 gesendeten NDR-Produktion, deren Fälle auf tatsächlichen Vorkommnissen beruhten), sondern auch in der 1963 gestarteten Serie Vorsicht Falle!, der mit dem Etikett "erste Reality-Show im deutschen Fernsehen" kein größeres Unrecht angetan werden könnte (wenn man in Betracht zieht, was heute unter dem Begriff verstanden wird). Erfunden hatte die Sendung Eduard Zimmermann, nach autobiographischen Angaben ehemals Heimkind, Schwarzmarkthändler und Gefängnisinsasse.2

Unter dem Motto "Nepper, Schlepper, Bauernfänger" berichtete er in Vorsicht Falle! vor allem über Trickbetrug. 1964 warnte er im Zusammenhang mit solchen Taten, kein seriöses Geldinstitut habe es notwendig, mit Postwurfsendungen um Kunden zu werben - an solchen Praktiken erkenne man deshalb die Gauner.

Was in Vorsicht Falle! noch völlig fehlte, war Horror. Den brachte das ebenfalls von Zimmermann erfundene und am Freitag dem 20. Oktober 1967 um 20 Uhr 15 zum ersten Mal ausgestrahlte Format Aktenzeichen XY so reichlich, dass die Sendung zu ihren besten Zeiten Einschaltquoten von bis zu 80 Prozent erreichte. Dabei kam ihr zugute, dass man unter Jugendschutz in den 1970ern teilweise etwas Handfesteres verstand als heute: In einer Folge mit einem Triebtäter, der sein Unwesen im Schwarzwald treibt, forderte Eduard Zimmermann die Eltern sogar extra dazu auf, die Kinder vor den Fernseher zu holen.

Für diese besonders gruslig machte die Serie, dass Wolfgang Grönebaum, die Hintergrundstimme in den Spielszenen, auch als Sprecher für die Sendung mit der Maus fungierte. Horror-Höhepunkte waren unter anderem die Kinder, die beim Familienausflug in den Wald eine Leiche finden ("Da wachsen Haare aus dem Boden") und der Offenburger Doppelmord an einer Mutter und ihrer Tochter, bei dem sich der Täter des Inhalts eines Besteckkastens bediente. Geradezu ein Splatter-Exzess muss die Sendung vom 22. Mai 1970 gewesen sein. Dort ging es um einzelne Körperteile von über 100 zerstückelten Leichen, welche die Polizei über einen Zeitraum von 15 Jahren zusammengetragen hatte.

Dafür wurden Homosexualität und Prostitution in den 1960ern nur in verklausulierter Form angedeutet: Da ging es dann unter anderem um "Neigungen" oder "Freundschaften mit jüngeren Männern" und Eduard Zimmermann sagte Sätze wie: "Der Lebenswandel der Toten wird von ihren Bekannten nicht sehr günstig beurteilt, für die Kriminalbeamten hat dies nicht von Bedeutung zu sein - es geht um Mord".

Gerhard Polt als Polizist

Der in Stahlnetz und in amerikanischen Kriminalfilmen entwickelte Tonfall, der durch scheinbar bürokratische Nüchternheit Grusel-Suspense generiert, wurde in Aktenzeichen XY perfektioniert, bis er schließlich einen so hohen Wiedererkennungswert hatte, dass er auch von Loriot parodiert werden konnte. Manche Texte von Moderator Eduard Zimmermann und Drehbuchautor Kurt Grimm waren teilweise ähnlich beeindruckend wie die Schöpfungen eines John Milius.

Heute fast vergessene Perlen sind beispielsweise "Georg Westphal genießt den Tag - aber der Tag ist noch nicht zu Ende", "Sie benutzte die falsche Fahrkarte - ihren Daumen" und "Für uns sind alle Freunde und Bekannte der Toten lediglich wichtige Zeugen, bis auf einen - den Täter". Oft ist allerdings unklar, ob die markigsten Dialogstellen den Autoren oder den Beschuldigten und Polizeibeamten einfielen - etwa wenn ein Zuhälter aussagt, er hätte ja nur "Benzingeld" von der Zwangsprostituierten genommen, weil sich die so gerne in seinem Sportwagen rumfahren ließ.

Doch nicht nur die Texter und Sprecher, auch die Darsteller trugen zu einer Zeit, als Schauspielschulen noch nicht auf Degeto-Standard vereinheitlichten und "Reenactment" noch ohne Kunstnebel, Zeitlupe und andere Guido-Knopp-Zutaten auskam, zum gelungenen atmosphärischen Gesamtbild bei. So sieht man in alten Folgen unter anderem Gerhard Polt als Polizisten und Raimund Harmstorf als Rocker.

Ein Punkt, der Aktenzeichen-XY-Folgen heute vielleicht interessanter macht, als sie früher waren, ist ihr Wert als Zeitdokument. Man sieht Rituale der Bundesrepublik wie das samstägliche Putzen ebenso wie Schwesternschülerinnen, die wie Gefangene gehalten werden, lernt, dass es noch Ende der 60er Jahre in deutschen Großstädten Trümmergrundstücke gab und dass amerikanische Kasernen als Zentren der Kriminalität galten.

In den 1970er Jahren spielt der seit dem Aufkommen von Mitfahrzentralen praktisch ausgestorbene Autostopp eine immens große Rolle in der Serie. Drogen kommen dagegen überraschend selten vor, ebenso Terroristen, die man damals "Anarchisten" nannte.

Raimund Harmstorf als Rocker

Die im Nachhinein besehen eindeutigen Höhepunkte von Aktenzeichen XY waren die besonders mysteriösen Fälle, wie jener eines fränkischen Friseurs, der ohne konkreten Anlass von einem Tag auf den anderen in die Schweiz fuhr, dort Scheren zu verkaufen versuchte, und schließlich als vorgetäuschter Selbstmörder mit einer falschen Schiffsfahrkarte im Bodensee landete, nachdem ihm vorher noch erhebliche Verletzungen am Geschlechtsteil zugefügt wurden.

Ein anderer bis heute ungelöster Fall ist der eines Bankdirektors, dessen Verschwinden auf so geheimnisvolle Weise vor sich ging, dass auch Eduard Zimmermann die Möglichkeit geheimdienstlicher Aktivitäten erwähnte, sie aber unter Verweis auf eine entsprechende Auskunft der "Behörden" in geradezu rührender Naivität sofort wieder verwarf. Besonders rätselhafte Fälle gab es auch im Vertriebenenmilieu, wie etwa den Mord an einer Taxifahrerin aus der Pfalz oder das Verschwinden eines Rentners aus dem Ruhrgebiet.

Mord im Vertriebenenmilieu

Die überwiegende Zahl der großen grusligen Fälle wurde bis jetzt nicht gelöst - die Aufklärungsmeldungen vom Anfang der XY-Sendungen beziehen sich meist auf Ausbrecher, Betrüger, Heiratsschwindler, Diebe, Hehler und andere Standardkriminelle. Dass sie weiterhin offen sind, machte sie zu Kristallisationspunkten neuer Kulturschöpfungen durch Fans der Serie, wie etwa der Kennzeichnung von Tatorten mit Google Maps. Die Serie selbst, die nicht nur Vorbild für America's Most Wanted war, sondern (durch ihre Konzentration auf Gegenstände) auch ein Vorläufer der CSI-Formate, verkam nach dem 1997 erfolgten Weggang von Eduard Zimmermann zusehends. Mittlerweile wird sie von Rudi Cerne moderiert - einem ehemaligen Eiskunstläufer und Sportreporter.