Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Wer das Bildungssystem an den Minderbegabten und Mittelmäßigen ausrichtet, macht sie nur noch schwächer

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Mit dem Qualifizierenden Hauptschulabschluss, kurz „Quali“ genannt, ist die Saison der Schulabschlussprüfungen zu Ende gegangen. Erneut war in Lokalblättern vom „Brüten“ und „Schwitzen“ der Schüler über Texten, Formeln und Aufgaben die Rede. Wer sich die Inhalte allerdings genauer ansah, der musste über das Verlangte bisweilen den Kopf schütteln.

Something is Rotten in the State of Denmark.

Shakespeare’s Hamlet

Selbst im PISA-Musterland Bayern wurden die Leistungsanforderungen erneut kräftig nach unten geschraubt. Nicht nur an den Realschulen und Gymnasien, sondern auch und vor allem an den Hauptschulen, die man neuerdings zur „Mittelschule“ befördern will. Mittlerweile ist es dort aber möglich, den mittleren Schulabschluss (vergleichbar der Mittleren Reife) mit dem Grundwissen der Sekundarstufe I zu bewältigen, ein Bildungsniveau, das man in der Regel von Elf- und/oder Zwölfjährigen verlangt. Erklärtes Ziel ist es auch in Bayern, allen Schülern ein Zertifikat mit Prädikatsabschluss zu ermöglichen, damit das Land vor der OECD so gut wie möglich dasteht. Das aber ist wiederum nur durch die systematische Absenkung des allgemeinen Leistungs- und Bildungsniveaus möglich.

Vollkommen irrelevant ist für die Macher ganz offensichtlich, ob sich die Schüler in all den Jahren zuvor angestrengt haben oder nicht. Betrogen müssen sich folglich alle diejenigen vorkommen, die willig und ehrgeizig waren und stets ausgiebig gelernt haben. Plötzlich stehen nämlich die Leistungsschwachen und/oder Lernunwilligen, die vorher nichts oder nur sehr wenig gemacht haben, genauso gut da wie sie. Andererseits wissen längst auch die Firmen und Unternehmen, dass Noten und Wortgutachten, die die Schulen ausstellen, nicht zu trauen ist. Weswegen sie meist eigene Lern- und Leistungstests durchführen.

Notorisch überfordert

Auch der Übertritt von den Grundschulen an die Gymnasien wird ab dem kommenden Schuljahr neu geregelt, wobei die Notenschnitte erneut nach unten korrigiert werden. Fortan soll der Elternwille stärker Berücksichtigung finden und der Notenkorridor, mit dem ein Wechsel ans Gymnasium möglich wird, erweitert werden. Dass damit die Hauptschulen des Landes weiter massiv geschwächt und der Zustrom ans Gymnasium weiter forciert wird, ist erklärter Politikerwille. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sozial bewegte und wohl meinende Bildungsforscher beklagen, dass in Bayern immer noch zu wenig Kinder aufs Gymnasium wechseln.

Ob sie dazu überhaupt in der Lage sind, interessiert dabei nur am Rande. Schon ein kurzer Blick ans Gymnasium würde darüber aufklären. Rund ein Drittel der Schüler ist dort mit dem Lernstoff leistungsmäßig generell überfordert – mittlerweile dürfte dieser Bruchteil sogar noch gestiegen sein. Der massive Jahrgangsschwund in den Klassen 7 bis 9 konnte bis auf den heutigen Tag nicht behoben werden. Nicht einmal dadurch, dass man Schüler kaum noch sitzen lässt und ihnen auch noch bei drei oder vier Fünfen im Jahreszeugnis den Aufstieg in die nächste Jahrgangsstufen ermöglicht. Hinzu kommt, dass alle diejenigen, die das Abitur, auf welch krummen Wegen auch immer, ergattern, spätestens dann an der Universität scheitern, wenn es gilt, eigenständig Statistiken zu erstellen, Experimente zu organisieren oder Texte zu formulieren.

Schule der Nation

An dieser Misere, die weniger durch die Betroffenen als vielmehr durch bildungspolitische Fehlsteuerung hervorgerufen wird, werden weder „individuelle Förderung“ noch „Intensivierungsstunden“ etwas ändern, die man nun in den 5. Klassen einrichten will. Aus einem Fiat Panda wird weder ein Opel Corsa noch ein Ferrari. Der beste Tuner oder das beste Tuning wird daran nichts ändern können. Lehrer an Gymnasium klagen darum schon seit Jahren, dass ein Drittel ihrer Schüler dem Stoff etwa in Englisch oder Mathematik kaum folgen können. Weder können sie einen englischen Satz vernünftig nachsprechen noch sind sie in der Lage, simple Rechenoperationen zu vollziehen oder klassische Texte zu deuten, geschweige denn zu verstehen.

Dabei hat man vor Jahren das G 8 auch darum eingerichtet, um die besonders leistungswilligen und leistungsfähigen Schüler besser zu fördern. „Das G 8 war von Anfang an als Elitegymnasium gedacht“, http://eb-gym-schaeftlarn.de/2009/06/sz-vom-1562009-lehrer-im-interview-eltern-sind-nicht-mehr-prasent/ Lehrer und Direktoren. Doch davon will man an den zuständigen Ministerien heutzutage nichts mehr hören. Mit Meilenstiefeln ist man dabei, das Gymnasium zur Schule der Nation umzufunktionieren und ihr den Exklusivcharakter zu nehmen.

Gesamtgesellschaftliches Problem

Falsch wäre es jedoch, diese leistungsfeindlichen Tendenzen allein den im Amt befindlichen Kultusministern anzulasten oder irgendeiner politischen Partei. Alle ihre Vorgänger haben es nicht viel besser gemacht. Wer auch immer ins Amt gehievt wird, sieht sich sofort der Kakophonie und dem öffentlichen Druck von Lobbyverbänden ausgesetzt, der Elternschaft und der Lehrergewerkschaft, den Vertretern von Industrie und Handwerk sowie wohlmeinenden Wissenschaftlern und besonders bewegten Journalisten. Vor ihrer Macht und Wortgewalt hat bislang noch jeder Minister kapituliert, mag er sich zunächst noch so widerspenstig gegeben haben und mit eigenen Vorstellungen ins Amt gekommen sein.

Das bildungspolitische Elend beginnt, seitdem das Emotionale und Soziale die Leistungsorientierung abgelöst und ein „psychologischer Dienst“ die Schule als lohnendes Betätigungsfeld für sich entdeckt hat. Zunehmend bestimmt dessen Sprache und Diskurs das Zusammenleben an der Schule. Die „therapeutische Perspektive“ ist nicht mehr Ausnahme, sondern Normalfall und Standard im Bildungssystem. Längst ist eine Institution in der Institution Schule entstanden, die sich „die Rettung der modernen Seele“ (Eva Illouz) zur Aufgabe gemacht hat. Spätestens seit diesen Tagen hat unser Bildungssystem einen gravierenden Wandel vollzogen. Nicht mehr der starke und leistungsfähige Schüler steht im Mittelpunkt, sondern der Schwache und Kranke, der sozial Benachteiligte und Leistungsunwillige. Vor allem sie hat man im Auge, ihnen gelten fortan alle Aufmerksamkeit und bildungspolitische Anstrengung.

Leistungsschwache bestmöglichst zu unterstützen, ist wiederum eine Tendenz, die wir seit Jahrzehnten in allen westlichen Gesellschaften beobachten. Die vielen Maßnahmen, die ihnen helfen sollten, haben aber deren Los, so paradox das vielleicht klingen mag, nur verschlimmert. Shelby Steele, US-Experte für die Beziehungen der Rassen untereinander, hat das jüngst im Interview mit der SZ bestätigt. Weder habe die Affirmative Action, die den Zugang der Farbigen an die Universitäten erleichtert hat, die Lage der Schwarzen in Amerika insgesamt verändert, noch werden ihre Kinder fortan in der Schule mehr arbeiten, weil sie in Obama endlich ein Vorbild haben, dem sie nachzueifern können. Immerfort komme die Regierung mit neuen Gesetzen, die die Menschen, denen sie helfen sollen, nur schwächen, sagt Shelby. Dabei übersähen sie, dass der Anlass einfach fehle, besser zu werden. Denn, so sein Fazit: Je schwächer sie würden, desto mehr kriegten sie.

Nun ist, um ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, gegen eine gezielte Förderung der Schwachen nichts zu sagen, wobei man noch einmal genauer zwischen Lernschwäche, sozialer Benachteiligung und Lernunwilligkeit genauer differenzieren müsste. Aber wenn die Leistungsbereiten und (hoch)talentierten Schüler nicht mehr entsprechend (heraus)gefordert und gefördert werden und sich das staatlichen Bildungssystem ausschließlich an den Leistungsschwächsten, Mittelmäßigen und Minderbegabten orientiert, dann läuft nicht nur etwas schief, dann ist auch, um Shakespeare zitieren, „etwas faul im Staate Dänemark“.

Vergessen wird dabei, dass es gerade die Ehrgeizigen, Tüchtigen und Begabten sind, die die Gesellschaft tragen und voranbringen. Dass die Schwachen dadurch stärker werden, indem man ihnen entgegenkommt und das Niveau und die Standards senkt, hat bislang meines Wissens noch kein Bildungsforscher oder Bildungspolitiker überzeugend erklären oder nachweisen können. Einen Gefallen tut man damit weder ihnen noch den Talentierten und Leistungswilligen.