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Indios mit Zivilisationskrankheiten: Mario Bechis' Indiofilm "Birdwatchers"

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Indianer treffen auf Weiße, sie kämpfen um Land und scheinen sich feindlich gegenüberzustehen, doch zugleich kommt es auch zu verqueren, absurden Kulturbegegnungen. Wenn Karl Marx recht hatte, mit seiner berühmten Bemerkung, alle wesentlichen Ereignisse in der Geschichte geschähen zweimal, zunächst als Tragödie, dann als Farce - dann zeigt Mario Bechis' Film "Birdwatchers" eine solche farcehafte Wiederholung der Urszene von Columbus' Landung in der Neuen Welt.

Ein Boot fährt auf einem Fluss durch den brasilianischen Dschungel. In ihm sitzen Weiße, die italienisch sprechen, es wird viel fotografiert, was so links und rechts am Ufer zu sehen ist. Offenbar Ethnologen oder Touristen auf einem bezahlten Boots-Trip in den Urwald. Plötzlich sieht man auf der einen Flussseite eine Gruppe von Indios auftauchen. Frauen und Kinder sind dabei. Die Indios tragen traditionelle Tracht, nur ein Lendenschurz bedeckt ihre Haut, die bunt und fremdartig bemalt ist. Stumm und mit ausdruckslosen Gesichtern gucken sie auf das Boot und ihre Insassen, neugierig erregt gucken die anderen zurück: Die Begegnung zweier unvereinbarer Welten, so scheint es. Bedrohung liegt in der Luft. Als das Boot sich allmählich entfernt, schießen ihm die Indios ein paar Pfeile hinterher, die das Boot jedoch verfehlen.

Dann gehen die Indios in das Dickicht des Dschungels zurück, dazu setzt barocker Chorgesang ein, etwas Weihevolles, Heiliges gar suggerierend. Paradiesische Ursprünglichkeit, die Unschuld der ersten Kulturbegegnungen, und Filme von Werner Herzog kommen einem in den Sinn. Doch plötzlich zieht sich der erste Indio ein T-Shirt über, die Waffen und Lendenschürze werden abgelegt, ein Jeep wartet hinter dem Gebüsch, und eine Indiofrau erhält ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt: "Zu wenig!" konstatiert sie bitter.

Selbstmorde im Dschungel

Schon dieser Anfang ist listig, weil er unsere Erwartungen konterkariert, mit den Kulturklischees auch des sich aufgeklärt dünkenden Kinozuschauers bricht - nix da Ursprünglichkeit. Schon das darauffolgende Bild zeigt ein Indiomädchen, das zu modernem Pop Tanzschritte übt. Die Indios von heute haben Plastikfolien über ihre Hütten gezogen, weil die besser vorm Regen schützen. Sie holen das Wasser vom Fluss mit modernen Kanistern, haben ein Mobiltelefon, und sie leiden an der Zivilisationskrankheit Depression, weil ihnen das Leben im Reservat keinerlei Perspektive bildet. Nicht wenige von ihnen hängen sich darum kurzerhand im Dschungel auf.

"Bird Watchers - La terra degli uomini rossi" stammt von Mario Bechis. Der Regisseur wurde 1955 in Chile geboren, in Brasilien und Argentinien aufgewachsen, lebt seit Ende der 70er Jahre in Italien, und da sein Vater auch noch aus Italien stammt, wurde er von der italienischen Presse bereits eingemeindet - obwohl seine Filme bisher zumeist in Lateinamerika gesiedelt sind und in ihnen Spanisch gesprochen wird.

Bechis erzählt nun von einer Indiogruppe, die das besagte Dorf im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso verlässt, und auf ihr ursprüngliches Land zurückkehrt, dort wo die Vorfahren begraben liegen. Das Gebiet gehört natürlich längst einem Großgrundbesitzer, aber zumindest auf dem engen Grasstreifen zwischen Straße und Viehzaun können sie juristisch nicht vertrieben werden, und genau dort siedelt die Gruppe.

Der Häuptling säuft, der Schamane erzählt, beim Kaufmann lassen die Indios anschreiben

Im Folgenden passiert, immer wieder kapitelweise gegliedert durch den Barockchoral alles Mögliche: Ein Indiojunge, der Schamane werden soll, interessiert sich für die Tochter des Grundbesitzers, und sie sich für ihn, sie bringt ihm Motorradfahren bei, und was man mit Mädchen sonst so machen kann, er staunt und guckt schweigend. Der Häuptling säuft, der Schamane erzählt, dass der Jaguar "unser Bruder ist", beim Kaufmann in der Nähe lassen die Indios anschreiben, zum Arbeiten sind sie aber zu faul und jagen lieber verirrte Kühe im Dschungel, und Ethnologen stellen dumme Fragen. Ohne Klischees in die philo- und teilweise auch anti-indianische Richtung kommt das nicht ganz aus. Man kann auch nicht sagen, dass die Indios hier sonderlich idealisiert würden, wohl aber, dass die weißen Brasilianer umgekehrt wirklich nicht gut wegkommen.

Allmählich eskaliert der Konflikt mit dem Grundbesitzer. Irgendwann werden Insektizide auf der Siedlung verspritzt, es wird geschossen, und am Ende, das war aber von Anfang an klar, müssen die Indios weiterziehen. Interessant auch, dass hier gar keine Polizei oder andere Obrigkeit auftaucht.

Der Film mischt ein modernes sozialrealistisches Politdrama, wie es auch von Ken Loach erzählt werden könnte, mit der Tradition der Landnahmewestern, in denen Hollywood gern Viehhirten gegen Farmer, entwurzelte gesetzlose Nomaden gegen brav-sesshafte Farmer und weniger gern manchmal auch Weiße gegen Indianer streiten ließ. Zugleich steht Mario Bechis Film in der großen Tradition der ethnographischen Filme von Robert Flaherty, und geht zugleich auch darüber hinaus. Denn dies ist keine Verherrlichung des primitiven Lebens und wilden Denkens durch einen urbanen Intellektuellen. Die Indios wollen nicht zurück. Sie wollen nur leben und an ihre traditionelle Lebensweise anknüpfen dürfen. Diese Lebensweise ist übrigens per Matriarchat geregelt, die Männer reden, aber die Frauen treffen die Entscheidungen.

"Spiel mir das Lied vom Tod"

Von Anfang an entwickelt "Birdwatchers" einen fast physisch erfahrbaren Sog. Er entsteht durch Bilder voller Abstraktionskraft, die zugleich immer wieder ganz konkret werden. Der Film des in Chile geborenen Bechis steht parallel zur derzeitigen Wiedergeburt des Autorenkinos in Chile, das einst Geburtsland des "Nuevo Cine Latinoamericano" war, durch den Pinochet-Putsch aber für Jahrzehnte zusammenbrach.

Die Indios, mit denen Bechis gedreht hat, sind Guarani-Kaiowa-Indios, der gleiche Stamm, mit dem einst bereits John Boormans "The Mission" entstand, und mit dem auch schon Werner Herzog gearbeitet hat - in seinem Fall, das zeigt Herzog in seinen eigenen Dokumentationen, mit mäßigem Erfolg: Sie flohen vor ihm immer in den Dschungel, er wiederum schrie sie an, drohte und verführte wechselweise.

Bechis erzählte in Venedig, dass er die Indios anders vorbereitet hatte: "Ich zeigte ihnen zunächst Hitchcocks 'Die Vögel' und später Sergio Leones 'Spiel mir das Lied vom Tod' - jeweils dreimal hintereinander: Zuerst die Originalfassung, dann eine Version, bei der jede Szene von 2 Sekunden Schwarzfilm unterbrochen war, und drittens eine Fassung ohne Ton." So konnten sie verstehen, wie Film gemacht ist" (siehe Wie westliche Regisseure mit Indios arbeiten).

Identitäts-Ideologie

Meine Identität ist der der Guarani recht ähnlich: Sie hat nichts mit einem Volk oder einem bestimmten Fleck der Erde zu tun. Ich fühle mich als Südamerikaner, wenn ich in Italien bin und als Italiener, wenn ich in Südamerika bin. Ich versuchte, zurück zu gehen. Aber es hat nicht funktioniert. Ich fühle mich als Weltbürger, als Bewohner der ganzen Welt. Vielleicht auch noch mehr als Bewohner von Airports. Jeder ist ein Anderer und in uns haben wir wieder andere. Meine Neugier richtet sich darauf, diese Teile ans Tageslicht zu befördern.

Mario Bechis

Das Ergebnis hat sich gelohnt: Mario Bechis beindruckender Film über Identität und Verrat ist beeindruckend in seiner schlichten Schönheit und lässt sich von der Komplexität des Themas nicht durch allzu einfache Lösungen abbringen. Denn einfach zurückdrehen lassen sich die Zeiten nicht - und es wäre ja auch nicht wünschenswert. Denn ohne Entfremdung, ohne das Aufbrechen einer - zumindest scheinbar - homogenen Identität können wir uns sozialen und kulturellen Wandel schlecht vorstellen.

Trotzdem liebt gerade der Deutsche die Vorstellung einer mit magischer Kraft ausgestatten, panzerfesten Identität, die natürlich "unveräußerlich" ist, und über die sich trefflich grübeln lässt. Dies hat auch erst einmal wenig mit "rechts" und mit "Unterklasse" zu tun. Die Identitäts-Ideologie ist genauso im linksliberalen Milieu zu Hause, und verteidigt dort dann die "Rechte" der Tibeter oder eben irgendwelcher Indianer. Sie nennt das "Multikulturalismus" meint damit aber nicht Integration, sondern das Menschenrecht der "Bewahrung" "der" ethnischen Identität. Im multikulturellen Gewand kehrt so der Ethnizismus zurück, Vorstellung einer festen kollektiven Identität, die Auflösung des Individuums in einem kollektiven Ganzen, das sich gegen andere abgrenzt. Bechis nimmt demgegenüber Stellung gegen solche Schwarzweiß-Malerei und zeigt, wie nahe beide Seiten zusammenliegen, wie schnell aus Unterdrückten Unterdrücker werden können und umgekehrt.

Die Grenze seines klugen, schönen Films liegt dort, wo er keinen echten Sinn dafür hat, dass ja die Weißen keineswegs einfach eins zu eins ihre Vorstellungen in die Welt der Indianer verpflanzt haben, und nun ohne Brechung einfach weiterleben. Homi Bhabha hat darauf hingewiesen, dass fertige Identitäten nicht unabhängig voneinander existieren, sondern in einem Prozess. Identität sei ein "komplexes, fortlaufendes Verhandeln", im Ergebnis immer "hybrid", also vermischt. Das gilt für beide Seiten, und das zeigen in "Birdwatchers" allenfalls die Jungen.