Im Utopie-Labor

Der Politikwissenschaftler Rudolf Inderst hat Gilden in Online-Rollenspielen untersucht. Ein Interview

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"Massively Multiplayer Online Role-Playing Games" (MMORPGs) haben in den vergangenen zehn Jahren einen beeindruckenden Siegeszug hingelegt. Online-Rollenspiele wie "World of Warcraft" oder "Lord of the Rings Online" ziehen Millionen von Menschen in ihren Bann. Nur die wenigsten Spieler sind Einzelkämpfer: Viele schließen sich in Gilden zusammen, um gemeinsam die Aufgaben der Abenteuerwelt zu meistern.

Der Politikwissenschaftler Rudolf Inderst hat Gilden in seiner Doktorarbeit untersucht. Zu Forschungszwecken trat er unter dem Namen "Scall Tysker" einer Gilde im Online-Rollenspiel Dark Age of Camelot bei. In dem MMORPG-Klassiker treffen die Kämpfer der drei verfeindeten Reiche Albion, Midgard und Hibernia aufeinander. Ein Interview über exklusive Zirkel, Geschenkökonomie und die Suche nach dem bestmöglichen Gemeinwesen.

Sie wurden Mitglied der "Drachenritter"-Gilde ". Wie verlief die teilnehmende Beobachtung?

Rudolf Inderst: Man darf sich nicht völlig vereinnahmen lassen, es soll ja immer eine kritische Distanz da sein. Aber man muss sich zu einem gewissen Grad auf den Untersuchungsgegenstand einlassen. Sonst lassen sich Erfahrungen, die fundamental wichtig sind für die Untersuchung, gar nicht erst machen.

Die Drachenritter. Alle Bilder: http://drachenritter-gilde.de.ms/

In welchen Momenten bestand Gefahr, die Distanz zu verlieren?

Rudolf Inderst: Einen solchen Moment gab es nur einmal: Als der Gildengründer der Drachenritter aufhörte und in ein anderes Rollenspiel wechselte. Es gab ein großes Hickhack, wer die Nachfolge antreten darf. Ich bin sehr froh, dass dieser Moment kam: Es traten menschliche Charakterzüge zutage, die unsichtbar waren, so lange das Gefüge intakt war. Aber zu diesem Zeitpunkt waren die Gilden-Mitglieder gezwungen zu wählen, auf welcher Seite sie stehen. Jeder wusste: Mit dieser Entscheidung steht und fällt die Gilde. Letztendlich ist passiert, was viele befürchtet hatten: Die Gilde ist an diesem großen Riff zerschellt. Das war in den letzten zwei Wochen meiner aktiven Spielzeit. Ich habe im Schnelldurchlauf das Entstehen, die große Blütezeit und den Fall einer Gilde miterlebt.

Welche Typen von Gilden gibt es?

Rudolf Inderst: Idealtypen herauszuarbeiten ist schwierig. Die Spieler verstehen ihre Rolle im Spiel sehr individuell - von "casual" bis "hardcore". Ähnlich vielfältig sind auch die Gilden. Am einen Ende des Spektrums stehen die "Uber-Gilden". In denen werden Spielziele möglichst schnell und mit möglichst großer Effizienz erreicht. Man legt Wert auf Außenwirkung und brüstet sich mit den Ergebnissen. Uber-Gilden sind sehr exklusive Zirkel, die oft aktiv rekrutieren. Sie haben ihre eigenen "Headhunter" und besetzen ganz gezielt Positionen, die vakant sind. Oft müssen sich die Bewerber erst beweisen, sie müssen Bewerbungsschreiben abgeben, sie haben so gut wie immer eine Probezeit. Alles ist hochgradig professionalisiert. Es wird viel Spielzeit erwartet, das Privatleben muss dabei oft zurückstehen, sonst hat man in dieser Gilde schlichtweg nichts verloren - und das wird einem dann auch in aller Deutlichkeit gesagt.

Die Drachenritter

Am anderen Ende des Spektrums stehen die "Familien-Gilden". Solche Zusammenschlüsse haben kaum Beitrittsbarrieren. Sie weisen oft sehr hohe Mitgliederzahlen auf, weil man einfach mal beitritt und danach häufig nicht mehr viel tut. In Familien-Gilden geht es auch gar nicht so sehr um Feldzüge. Wichtiger ist, eine gute Zeit zu haben. Beispielsweise verbringt man viel gemeinsame Zeit im selbst gebauten Gildenhaus. In den Chats ist die Überschneidung zu "real life"-Themen recht groß. Man erzählt sich, wie es dem Haustier geht, oder wie der Ehestreit ablief. Diese Gilden grenzen schon fast an einen 3D-Chatroom. Vom Entwickler intendierte Spielinhalte treten in den Hintergrund.

Welcher Typ von Gilde waren die "Drachenritter", die Sie untersucht haben?

Rudolf Inderst: Wenn man sich das Gildenspektrum als Achse vorstellt, liegen die Uber-Gilden bei 10 und die losen Verbände bei 0. Die "Drachenritter" lagen etwa beim Wert 6. Sie waren durchaus leistungsorientiert: Es gab regelmäßige Veranstaltungen, auf denen auch kräftig geschimpft wurde, wenn etwas nicht gut lief. Aber es war in den Gründungsstatuten festgelegt, dass das Privatleben immer Vorrang hat.

Zum Titel Ihres Buches: Wie findet Vergemeinschaftung in MMORPGs statt?

Rudolf Inderst: Der Utopienbegriff hat mich schon fasziniert, als ich noch Politikwissenschaften auf Magister studierte. Ich wollte weiter mit dem Begriff arbeiten. Als ich über die Gilden stolperte, kam die Frage auf, ob da nicht eine neue Form von Vergemeinschaftung vorliegt. Nach der Definition der sozialen Gruppe handelt es sich bei Gilden um kleine Verbände, die ein gemeinsames Ziel haben, sehr intensiv ihre Ziele verfolgen, dauerhaft angelegt sind und eine gewisse Exklusivität besitzen: Eine Gilde existiert innerhalb eines Kreises, und diesen Kreis kann nur betreten, wer die Regeln akzeptiert.

Von dieser Idee der Vergemeinschaftung war ich sehr angetan, und so begann die Forschungsarbeit an den Gilden. Im Buch habe ich darzulegen versucht, dass sich der Vergemeinschaftungsprozess ganz gut nachweisen lässt: Nämlich anhand der in den Gilden herrschenden Geschenkökonomie und anhand der alternativen Kapitalsorten nach Pierre Bourdieu.

Was ist eine "Geschenkökonomie"? Wie stellt sie sich in Gilden dar?

Rudolf Inderst: Es gibt nicht wenige Untersuchungen, die eine Art "Schattenwirtschaft" in Rollenspielen nachweisen. Eine Wirtschaft, die oft ins Realleben hineinreicht. Man muss sich nur anschauen, wie viel auf Ebay und anderen Verkaufsplattformen für virtuelle Ausrüstungsgegenstände oder Spielwährung gezahlt wird. Aber auch innerhalb der Rollenspielwelt gibt es Marktmechanismen. Die haben auf den ersten Blick mit einer Geschenkökonomie nicht besonders viel zu tun.

Innerhalb der Gilden greift jedoch eine andere Form von Wirtschaftlichkeit, die sogenannte "gift economy". Sie funktioniert nur bei einer überschaubaren Personenzahl. Geschenke werden nicht nur um des Schenkens willen gemacht, sondern auch im Hinblick auf die soziale Bindung, die der Akt des Schenkens auslöst: Man zieht den Kreise enger zusammen, indem man sich gegenseitig beschenkt und beschenken lässt. So wird eine mittel- oder langfristige Bindung innerhalb der Gruppe etabliert.

Die Drachenritter

Die Geschenke sind natürlich nicht nutzlos. Ein Beispiel: Ich schenke dir einen Gegenstand und sage: "Den kannst du jetzt nicht benutzen, weil du das entsprechende Spiel-Level noch nicht erreicht hast. Aber mit Level 40 kannst du ihn hervorragend einsetzen." Von diesem Akt des Schenkens bleiben zwei Dinge: Zum einen die Dankbarkeit des Beschenkten, zum anderen vielleicht sein Gedanke: "Aha, der sieht mich langfristig als Teil der Gilde, belohnt mich für meine Spielleistung, glaubt an mein Vorankommen, und wenn ich wirklich durchhalte, kann ich mit diesem Gegenstand etwas Großartiges bewirken."

Welche Rolle spielen die "alternativen Kapitalsorten"?

Rudolf Inderst: In Anlehnung an Bourdieu kann man akkumulierte Arbeit in drei verschiedenen Formen antreffen: als ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital.

Das ökonomische Kapital umschließt alle Ressourcen, die unmittelbar in Geld umwandelbar sind. Soziales Kapital entsteht durch Beziehungen zwischen Menschen und Organisationen. In ihm sind neben Vertrauen und Gegenseitigkeit auch soziale Netzwerke, gemeinsame Verhaltensnormen und Engagement bzw. Zugehörigkeitsgefühl enthalten. Auch soziales Kapital vermehrt sich durch Nutzung und dient dazu, Vergemeinschaftung voranzutreiben und zu stärken.

Das kulturelle Kapital, auch Informationskapital genannt, kann in drei verschiedenen Aggregatformen auftreten: Erstens inkorporiert, also in Form von kulturellen Fähigkeiten, Fertigkeiten, die man durch Bildung selbstverantwortlich erwerben kann. Umgemünzt aufs Online-Rollenspiel ist das die Kenntnis der Nutzung von Kulturgütern, Artefakten, Kommunikations-Codes. Ein Spieler weiß sehr viel und erntet dafür entsprechendes Ansehen.

Die Drachenritter

Die zweite Aggregatform kulturellen Kapitals ist das sogenannte objektivierte Kapital. Es tritt in Form von kulturellen Gütern - Büchern, Kunstwerken usw. - auf. Alle diese Gegenstände haben einen materiellen Gegenwert und setzen ökonomisches Kapital voraus. Auch in Online-Rollenspielen muss man das nötige ökonomische Kapital besitzen, um sich die entsprechende Hard- und Software anzueignen.

Die dritte Aggregatform kulturellen Kapitals kann auch "symbolisches Kapital" genannt werden. Dazu gehören gesellschaftliche Anerkennung, Reputation, Image und Prestige. Symbolisches Kapital ist besonders in den bereits erwähnten Uber-Gilden von Bedeutung.

Sie bezeichnen Gilden als "gesellige Mitmach-Utopien". Was verstehen Sie darunter?

Rudolf Inderst: In der Utopienforschung stößt man immer wieder auch auf die selben gewichtigen Argumente gegen die Utopien. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hieß es, dass die größte Utopie - der größte gesellschaftliche Experimentierraum - am Ende sei. Sie habe zu nichts weiter geführt als Tod und Leid. Dahinter steckt die Annahme, dass eine Utopie etwas Starres ist: Weil es sich schon um den besten aller möglichen Zustände handelt, kann dieser unmöglich verbessert werden.

Der zweite große Vorwurf war immer schon, dass Utopien individualfeindlich sind. Weil man als Utopist ständig die Gemeinschaft im Auge hat, muss sich das Individuum immer hinten anstellen. Einen eigenen freien Willen kann es in einer "perfekten" Gesellschaftsform nicht entfalten. Online-Rollenspiele hingegen sind nicht abgeschlossen. Es sind Welten, die sich fortlaufend selbst erfinden. Der Spieler hat also durchaus die Chance, als Individuum innerhalb einer Gilde an diesem Reformprojekt mitzuarbeiten.

Die Drachenritter

Über Online-Rollenspiele wird häufig gesagt, in ihnen würde nur eine einzige Utopie verwirklicht: die marktwirtschaftliche Utopie des Geldverdienens seitens der Entwickler. Dieser Vorwurf ist genauso berechtigt wie meine Aussage. Alles hängt vom Utopiebegriff ab, der verwendet wird. Aus meiner Sicht ist eine Utopie in Form und Intention extrem wandelbar. Das hat die Utopiegeschichte mehrfach bewiesen: Reformprojekte wurden je nach Zeitabschnitt unterschiedlich gedeutet. In Online-Rollenspielen herrscht eine Kultur des Mitmachens. Man nähert sich dem utopischen Zustand an, selbst wenn er vielleicht nie erreicht wird. Aber es besteht die Chance, dass der utopische Gedanke gelebt wird.

Welche Utopien werden in Online-Rollenspielen gelebt?

Rudolf Inderst: Das sei nochmals auf die Vielfalt des Utopiebegriffs verwiesen. Der Politologe Tobias Bevc fragt beispielsweise, warum MMORPG-Gilden oder Clans in First Person Shootern derart hierarchisch geordnet sind. Warum treten sie so martialisch auf, warum sind sie als eine Art "Faschismus light" durchorganisiert? Und auch da wieder gilt: Je nach Verständnis der Utopie. In Videospielen können viele Organisationsstrukturen verwirklicht werden, das Gemeinwesen wird - je nach Vorliebe - mal in flachen Hierarchien, mal äußerst straff organisiert. Es ist legitim, sich das Spiel so hinzubiegen, wie man möchte. Denn die virtuellen Welten laden dazu ein.

Rudolf Thomas Inderst: Vergemeinschaftung in MMORPGs. 1. Auflage 2009, 392 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-940317-50-6
34,90 Euro