Niedrige Steuern für Reiche führen nicht zu Wirtschaftswachstum

Ein US-Ökonom wiederlegt das neoliberale Dogma, dass höhere Besteuerung der Reichen der Gesamtwirtschaft schade

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Laut einem Dogma der neoliberalen Ökonomik, sorge es für zusätzliches Wirtschaftswachstum, wenn einige wenige Reiche besonders hohe Einkommen erzielen. Lonnie K. Stevans von der Hofstra University (Zarb School of Business) in New York hat in seinem aktuellen Paper für die USA nun das Gegenteil festgestellt (Income Inequality, Net Investment, and the U.S. Capital Stock: Is There an Equity-Efficiency Tradeoff?).

Wer in den USA nach einem „gerechteren“ Steuersystem verlangt und einen größeren Teil des Volkseinkommens den unteren Einkommensklassen zukommen lassen will, dem wurde bislang gerne entgegengehalten, dass es dadurch insgesamt zu Wohlstandsverlusten käme. Der volkswirtschaftliche Kuchen werde durch eine Umverteilung von oben nach unten nicht nur einfach anders verteilt, sondern kleiner, so dass am Ende alle Bevölkerungsschichten schlechter dastehen würden. Dadurch würde sich unternehmerisches Verhalten weniger lohnen, weshalb es unterbleibe, was die Innovationskraft der Gesamtwirtschaft ebenso senke wie die Arbeitsproduktivität. Die Folge wären weniger produktive Investitionen und ein insgesamt niedrigerer Lebensstandard, so jedenfalls das Dogma vieler neoklassischer Ökonomen.

Umgekehrt würden Steuersenkungen die Reichen zu besonderen Leistungen und produktiven Investitionen anspornen, wobei die hohen Einkommen letztlich allen zugute kämen. Denn auch die höchsten Einkommen würden irgendwann ausgegeben und somit für andere zu Einkommen werden, folglich sollten die Gelder ohnehin die soziale Leiter „hinunterrieseln“ – „trickle down economics“ nannte das der konservative US-Präsident der 1980er Jahre, Ronald Reagan.

Einkommensverteilung in den USA. Grafik: Alan De Smet/public domain

In der Tat schienen die Statistiken diese These durchaus zu unterstützen. So erzielten die USA von 1990 bis 2000 eine ungewöhnlich hohe durchschnittliche Wachstumsrate von 3,3 Prozent, während auch die Ungleichheit der Einkommensverteilung so stark zugunsten der höchsten Einkommensschichten zunahm, wie zuletzt am Ende der 1970er Jahre. Und schon damals war diese These bestätigt worden. Denn von den 1940er Jahren bis zum Ende der 1970er Jahre hatte die Ungleichheit in den USA tendenziell abgenommen und war erst dann wieder angestiegen. Denn in den 1970er Jahren hatte sich eine hartnäckige Wirtschaftskrise etabliert, die erst unter Ronald Reagans Präsidentschaft überwunden wurde, der beispielsweise den Einkommensteuer-Maximalsatz von 70 Prozent auf 28 Prozent reduzierte, während gleichzeitig die Gewerkschaften massiv an Einfluss verloren und die Mindestlöhne deutlich zurückgingen.

Da gleichzeitig auch die Stagnation der 70er Jahre überwunden wurde und die Wachstumsraten kräftig anzogen, waren viele Ökonomen – allen voran vielleicht Nobelpreisträger Gerry Becker – davon überzeugt, dass man nur die Reichen ungehindert arbeiten lassen müsse, um die Wirtschaft voran zu bringen. In den Medien und bei den meisten (neoliberalen) Ökonomen herrschte laut Stevans lange die einhellige Meinung, „dass höhere Ungleichheit sowohl eine nötige als auch eine ausreichende Bedingung für steigendes Wirtschaftswachstum sei, das wurde als unbestreitbare Wahrheit betrachtet“. Dementsprechend wurden weltweit die Spitzensteuersätze der Einkommenssteuern gesenkt und auch die Vermögenssteuern reduziert:

The notion that higher inequality is both a necessary and sufficient condition for increasing economic growth appears to be an uncontested truth. (…) According to the results of this study, there is no empirical evidence over the past 30 years in the United States to support such a contention.

Lonnie K. Stevans

Das Ergebnis war, dass laut dem Congressional Budget Office im Jahr 2004 Haushalte, die dem niedrigsten Einkommensfünftel zuzurechnen waren, inflationsbereinigt im Schnitt um nur zwei Prozent mehr verdienten als 1979. Das zweitniedrigste Fünftel erzielte um elf Prozent mehr während das mittlere Fünftel einen Einkommenszuwachs von 15 Prozent verzeichnete. Das zweitreichste Fünftel mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von inzwischen immerhin 82.000 Dollar erreichte, erhielt um noch immer bescheidene 23 Prozent mehr, während das reichste Fünftel um satte 63 Prozent mehr verdiente als 25 Jahre zuvor. Hatte 1979 das reichste Prozent der US-Bevölkerung also rund neun Prozent der Gesamteinkommen bezogen, so verdoppelte sich fast deren Anteil am Volkseinkommen innerhalb dieser 25 Jahre auf 16 Prozent. Nicht ganz so gut ging es der Mittelschicht. Hatte das mittlere Bevölkerungsfünftel zuvor rund das 3,2fache des untersten Fünftels erhalten, war es nun das 3,65fache.

Außerhalb der USA wurde der anscheinend positive Zusammenhang zwischen ungleicher Einkommensverteilung und Wohlstand allerdings nicht bestätigt. So bereitete den Ökonomen schon länger Kopfzerbrechen, dass in vielen asiatischen Staaten in der Nachkriegszeit ungewöhnlich hohe Wachstumsraten bei gleichzeitig geringer Ungleichheit zu beobachten waren, während in Südamerika trotz hoher Ungleichheit nur geringes Wachstum auftrat. Das führte in den 1990er Jahren zu einer Reihe von Studien, deren Ergebnisse stark vom herrschenden Dogma abwichen. Erklärt wurden diese Diskrepanzen unter anderem damit, dass die Märkte noch nicht perfekt genug ausgebildet wären (was ja gerne als Erklärung herangezogen wird, wenn die Daten den neoliberalen Theorien widersprechen). Als weitere Erklärung wurde angeboten, dass steigende Ungleichheit im demokratischen Prozess zu höheren Steuern führe, was wiederum die gesamtwirtschaftliche Effizienz verringern könne. Ein dritter Erklärungsansatz betont indes unter Berufung auf den Ökonomen John Maynard Keynes die Unabhängigkeit von Investitionsentscheidungen von den Ersparnissen, so dass mit steigender Ungleichheit – und höhere Ersparnisse der Reichen – nicht auch die mit den Ersparnissen finanzierten Investitionen steigen und daher keinen oder nur sehr geringen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum habe.

Laut Stevans basierten alle bisherigen Untersuchungen jedoch auf demselben theoretischen Konstrukt, nämlich dass eine ungleichere Einkommensverteilung, abhängig von der damit verbundenen Wirtschaftspolitik, produktive Investitionen und damit letztendlich das BIP-Wachstum entweder fördere oder beschränke, sagt Stevans. Er selbst biete nun einen alternativen Ansatz an, um die Art und das Ausmaß des Zusammenhangs zwischen Einkommensverteilung, Nettoinvestitionen und Kapitalbestand in den USA für den Zeitraum von 1970 bis 2006 zu untersuchen.

Betrachtet wird der Zusammenhang zwischen dem US-Kapitalbestand nicht nur mit einem, sondern mit vier Faktoren, die für dessen Veränderung verantwortlich sein könnten: Die Einkommensungleichheit, der Preis des Kapitals, das Preisniveau und das reale Bruttonationalprodukt, wobei vier verschiedene Maßstäbe für die Ungleichheit der Einkommen herangezogen wurden. Demnach hätte sich empirisch bei zwei dieser Verteilungskennzahlen überhaupt kein signifikanter Einfluss von steigender oder sinkender Einkommens-Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum gezeigt, während bei den beiden verbleibenden Maßstäben sogar ein negativer Zusammenhang festgestellt wurde.