Afghanistan: Der Auftrag ist gewöhnungsbedürftig

Mehr Offensive als Verteidigung? - der Bundeswehreinsatz in Kundus

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Das klingt schon nach Krieg: Entscheidungsschlacht, schwerer Kampfeinsatz und Großoffensive - deutsche Zeitungsprosa des heutigen Tages.

Die Info aus dem deutschen Verteidigungsministerium, wie sie heute von Nachrichtenagenturen weiterverbreitet wird, fällt selbstverständlich nüchterner und harmloser aus: Laut einem Sprecher des Ministeriums unterstützen Bundeswehrsoldaten der Nato-Truppe Isaf derzeit eine „Militäroperation der afghanischen Sicherheitskräfte im Raum Kundus“. Bestätigt werden nach Informationen der FAZ auch der Einsatz von Schützenpanzern vom Typ „Marder“, sowie Mörser. Demgegenüber berichtet die Rheinische Post von „Angaben aus Afghanistan“, wonach die rund 300 Soldaten der schnellen Eingreiftruppe (Quick Reaction Force - QRF) „mit dem vollen QRF-Spektrum“ gegen die Taliban vorgehen. Zitiert wird ein Bundewehrsoldat mit den Worten: „Es wird alles eingesetzt, was da ist.”

Zusammen mit 1000 afghanischen Soldaten und Polizisten soll die Eingreiftruppe „rechtzeitig vor der afghanischen Präsidentschaftswahl“ im nächsten Monat die Taliban aus der Region vertreiben. Das proaktive Engagement der Bundeswehr ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich, selbst wenn man jene Manöver im Hintergrund miteinbezieht, die schon seit längerem den Einsatzschalter auf mehr Offensive umlegten.

Bemerkenswert ist allein schon, dass die Offensive gegen die Taliban im Norden von 1000 afghanische Soldaten und Polizisten angeführt wird. Das sind zwar nicht sonderlich starke Zahlen für eine „Großoffensive“, aber angesichts der 450 afghanischen Soldaten/Polizisten, die bei der US-geführten Offensive gegen die Taliban im Süden mitmachen, lässt das aufhorchen. Warum die stärkere Beteiligung im Norden, weil es dort weniger gefährlich ist? Sind die afghanischen Truppen im Norden verantwortungsbewusster? Machen sie dort, was sie im Süden nicht machen – Initiative und Führung übernehmen? Von Seiten der USA wurde der mangelnde Einsatzwille der afghanischen Truppen kritisiert, im Norden sind sie sogar die Anführer der Offensive. Oder ist das nur Vortäuschung? Die nötig wäre, um dem Nato-Reglement nicht zu widersprechen. Hieß es nicht immer, dass die schnelle Einsatztruppe für unterstützende und eher auf Verteidigung ausgerichtete Einsätze konzipiert ist?

Doch vielleicht ist der Einsatz bei Kundus ja auch ein Verteidigungsfall, an den sich die Bundeswehr und die Öffentlichkeit erst gewöhnen müssen. In den Zeitungsmeldungen steckt ein leiser Widerspruch, der nach den lauten Schlagzeilen mit Mardern und Mörsern nicht gleich wahrgenommen wird. So ist zwar einerseits die Rede von einer „Großoffensive“, andererseits wird aber auch von Taliban berichtet, die „unter anderem mit Raketenbeschuss auf Stellungen in Kunduz“ reagierten; wiederholt sollen Deutsche und Afghanen Luftunterstützung auch durch amerikanische Flugzeuge angefordert haben.

„Der Raum Kundus hat sich negativ entwickelt. Da braucht man nicht drumherum zu reden“ , sagte Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan heute in einer Pressekonferenz mit Verteidigungsminister Jung, es sei „jetzt an der Zeit, diese Eskalation vorzunehmen“. Selbstbewusst soll das vermutlich klingen, so als ob man wie bei einer Fußballmannschaft für den Sieg nur ein bisschen aufdrehen müsse. Um die eigentlich brisante Frage, ob mit dem Einsatz von schwerem Gerät sich nicht auch die Qualität ändere, drückte sich Schneiderhan preußisch: „Es gibt kein neue Befehlslage. Es gibt eine neue Lage.“

Aufgabe der Schnellen Einsatztruppe

„Geraten deutsche Soldaten oder Allierte in eine Notlage, ist es Aufgabe der QRF [..], Feindkräfte auszuschalten und die Sicherheit wiederherzustellen“, heißt es in einer Bundeswehr-Videoreportage, die über die Schnelle Eingreiftruppe aufklärt. Im Anschluss auf den eben zitierten Satz steht die Feststellung:

Der Auftrag ist allerdings gewöhnungsbedürftig.

Die Truppen gewöhnen sich an neue Einsätze - "Das heißt: 250 Soldaten ständig unter Feuer" - und neue Taktiken der Taliban:

Die Irregulären haben sich vorbereitet, sie kämpfen aus Stellungen, die sie vorbereitet haben oder die das Gelände hergibt. Sie warten auf uns, überfallen uns aus dem Hinterhalt und nehmen dabei auch in Kauf, dass Zivilisten auf dem Gefechtsfeld sind. Da nehmen sie überhaupt keine Rücksicht. Und dann gibt es ein längeres Feuergefecht, das damit endet, dass eine Seite den Rückzug antritt. Und das sind nicht wir.

Oberstleutnant Hans-Christoph Grohmann, Kommandeur QRF

Und die Öffentlichkeit gewöhnt sich peu à peu an eine Veränderung des Einsatzmodus der deutschen Soldaten. Von THW-Hilfsdiensten zum Panzereinsatz, von ziviler Hilfe zu proaktiver militärischer Robustheit. Ein Strategiewechsel, um das Land gegen die Taliban, einem Feind mit äußerst diffusen Konturen, besser zu verteidigen, mit einer äußerst diffusen Konzeption von Verteidigung, die viel Spielraum nach vorne lässt.

Für mehr Rechtssicherheit bei offensivem Vorgehen wurde schon Anfang Juli gesorgt, ohne dass es die deutsche Öffentlichkeit groß mitbekam. Ein Spiegel-Bericht machte darauf aufmerksam, dass Formulierungen in den "Nationalen Klarstellungen" zum Nato-Operationsplan geändert wurden. Komplett gestrichen wurde demnach der Satz - "Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht". Statt wie bisher den Begriff "Einsatz angemessener Gewalt" für deutsche Aktionen zu verwenden, gelte künftig das Wort „Angriff“. Die Veränderung, die das offensive Element mehr betont, sollte sich dem Magazin zufolge auch bald in der sogenannten Taschenkarte für die Soldaten bemerkbar machen: Der Abschnitt "Militärische Gewalt zur Durchsetzung des Auftrags" soll vor den Abschnitt "Militärische Gewalt zur Selbstverteidigung" platziert werden.