Rechtliche Ungleichbehandlung

Die Bahn will ihre Kunden stärker kriminalisieren

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Ende letzter Woche hieß es in mehreren deutschen Medien, dass die Kriminalitätsstatistik in diesem Jahr wahrscheinlich stark ansteigen würde, weil die Bahn vorhabe, zukünftig jeden Fahrgast ohne passendes Ticket sofort anzuzeigen. Als sich darauf hin bei Staatsanwaltschaften Unmut regte, die eine ähnliche Missbrauchswelle auf sich zukommen sahen, wie sie die Medienindustrie mit ihren Filesharing-Anzeigen auslöste, bemühte sich das Unternehmen um Schadensbegrenzung und dementierte halbherzig, man wolle zwar "mehr Härte" zeigen, aber "im Regelfall" lediglich jene Kunden anzeigen, bei denen es sich um "besonders offensichtliche" Schwarzfahrer handeln würde.

Die genauen Kriterien dafür ließ man allerdings im Unklaren und verwies lediglich darauf, dass dies angeblich auch bisher so gehandhabt worden sei. Dass die Zahl der Beförderungserschleichungsanzeigen bereits im ersten Halbjahr 2009 mit fast 40.000 bei etwa vier Fünfteln derjenigen im Gesamtjahr 2008 liegt, erklärt man damit, dass seit Beginn dieses Jahres beim dritten Kontrollieren einer Person ohne die passende Fahrkarte die ersten beiden Fälle nachträglich zur Anzeige gebracht würden.

Neben diesen Anzeigen macht die Bahn bei jedem Reisenden ohne passende Fahrkarte einen "erhöhten Fahrpreis" geltend, den sie auf ihre Beförderungsbedingungen und auf § 12 der Eisenbahn-Verkehrsordnung (EVO) vom 8. September 1938 stützt. Dort heißt es in Absatz 1:

Der Reisende ist zur Zahlung eines erhöhten Fahrpreises verpflichtet, wenn er
a) bei Antritt der Reise nicht mit einem gültigen Fahrausweis versehen ist,
b) sich einen gültigen Fahrausweis beschafft hat, ihn jedoch bei einer Prüfung der Fahrausweise nicht vorzeigen kann [...]

In der Vergangenheit urteilten Gerichte, dass diese Vorschrift nicht mit höherrangigem Recht in Übereinkunft zu bringen sei. So entschied etwa das Amtsgericht Essen (Az. 12 C 535/79)1, dass die Vorschrift den "Schwarzfahrer mit dem Vergesslichen und dem Unwissenden auf dieselbe Stufe" stellt und deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Das Amtsgericht Aachen (Az. 80 C 6/92)2 stellte darüber hinaus eine Unwirksamkeit wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot fest und befand:

Indem § 12 EVO weder zwischen Fällen vorsätzlicher Beförderungserschleichung und Fällen unvorsätzlichen Fahrens ohne gültigen Fahrausweis differenziert, noch dem Reisenden zumindest die Möglichkeit des Entlastungsbeweises offenhält, schießt die Vorschrift über das Ziel hinaus, vorsätzlichem Schwarzfahren entgegenzuwirken.

Trotz dieser Urteile macht die Bahn den "erhöhten Fahrpreis" immer noch geltend. Gezahlt wird er unter anderem deswegen, weil auch die "Vergesslichen und Unwissenden" mit einem Verweis auf eine Strafanzeige unter Druck gesetzt werden können. Dabei ist für das, was die Bahn als Regelverstoß sieht, keineswegs immer eine willentliche Entscheidung des Beschuldigten erforderlich: Komplizierte Tarifsysteme, Anschlusszugschaos, nicht besetzte oder abgeschaffte Schalter und funktionsuntüchtige Automaten sorgen seit Jahren für ein immer höheres Risiko. Und ein von der Bahn zur Kasse gebetener "Schwarzfahrer" wider Willen kann ein Fahrgast schon allein dadurch werden, dass er versehentlich in den falschen Zug steigt oder aus der völlig überfüllten zweiten Klasse in die erste abgedrängt wird.

Anstatt dass das Management der Bahn in einer solchen Situation wegen Betruges belangt würde, weil es die mit dem Kauf der Fahrkarte versprochene Leistung möglicherweise planmäßig nicht zur Verfügung stellt, kann stattdessen der Geschädigte nicht nur finanziell zur Kasse gebeten werden, sondern wird auch noch mit dem Strafrecht bedroht - dem härtestem Sanktionsinstrument, das dem Staat zur Verfügung steht. Und diese Bedrohung ist nicht nur theoretisch: Während Gewalttäter häufig mit "Ermahnungen" davonkommen, stellten Personen, die aufgrund von "Beförderungserschleichung" einsaßen, Ende letzten Jahres angeblich ein Drittel der Häftlinge in der Berliner Strafanstalt Plötzensee.

Dem Kunden fehlt ein Äquivalent zu solch einer Sanktionsvorschrift: Wenn er vergeblich auf Züge wartet, weil die Bahn ihre Prioritäten nicht auf Vertragserfüllung, sondern auf zukünftige Aktionäre legte, dann hat er nicht die Möglichkeit, das Unternehmen wegen "Leistungserschleichung" vor Gericht zu bringen - obwohl es das Entgelt für seine Monats- oder Jahreskarte schon kassiert hat. Gleiches gilt für Falschberatungen an den Schaltern und am Telefon: Sie sind (wie Stichproben von Verbraucherorganisationen bereits mehrmals nachwiesen) nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

An diesem bemerkenswert deutlichen rechtlichen Ungleichgewicht ändert auch das am Mittwoch in Kraft tretende neue "Fahrgastrechtegesetz" nichts. Vielmehr schreibt es bisherige informelle Praktiken des Unternehmens fest. So sollen Kunden erst nach einer Stunde Verspätung eine Entschädigung in Höhe von 25 Prozent des Fahrpreises beantragen können. Dafür müssen sie einen Beschwerdebogen mit 48 Fragen ausfüllen. Dieser wird an eine "Schlichtungsstelle" weitergeleitet, die entscheidet, ob das Unternehmen für die Verspätung "verantwortlich" war. Derzeit sieht alles danach aus, dass diese Schlichtungsstelle ab dem nächsten Jahr von den Bahnunternehmen selbst eingerichtet und mit Personal ausgestattet werden darf.