"Chasing Spots"

Das Berliner Computerspiele-Museum stellt zusammen mit einem Special Guest pünktlich zur Games Convention 2009 eine "History of Videogames"-Timeline vor

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Die Geschichte der Videospiele ist am Maßstab der Mediengeschichte gemessen noch recht jung. Als Kapitel des Computerzeitalters ist sie jedoch längst Gegenstand archäologischen Interesses. Das Berliner Computerspiele-Museum hat jetzt eine interaktive "History of Videogames" auf seinen Webseiten veröffentlicht, die nach und nach die wesentlichen Meilensteine dieser Geschichte dokumentiert. Hierzu fand am 29. Juli in der Berliner Home-Base-Lounge eine Veranstaltung statt, auf der zwei der wichtigsten und berühmtesten Vertreter dieser Geschichte anwesend waren: Der Erfinder Ralph H. Baer und seine Videospiel-Konsole "Brown Box".

Der mittlerweile 87-jährige Ralph H. Baer hat zwar nicht das erste jedoch das erste vermarktungsfähige Videospiel erfunden. 1966 begann er mit der Arbeit daran - ihm zuvor kamen 1962 der MIT-Student Steve Russell, der auf einer PDP-1 das Spiel Spacewar! programmierte und 1958 der Ingenieur William Higinbotham, der mit Hilfe eines Oszilloskops und eines Analogcomputers Tennis for Two das Licht der Welt erblicken ließ. Beide früheren Projekte waren jedoch wegen ihrer technischen Voraussetzungen oder der Tatsache, dass sie - wie "Tennis for Two" - in Regierungslabors entstanden waren, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Ralph Baer. Alle Bilder: Stefan Höltgen

Und so gebührt Ralph H. Baer das Verdienst, die heimische Fernsehmattscheibe in ein Spielfeld verwandelt zu haben. Anlässlich einer Einladung zur Online Games Convention nach Leipzig ist Baer wieder einmal in seine alte Heimat nach Deutschland gereist, die er und seine Familie 1938 aufgrund von Nazi-Repressionen in Richtung USA verlassen haben. Jetzt, Ende Juli, Anfang August 2009, hat einen Zwischenstopp in Berlin gemacht, wo er zusammen mit Andreas Lange vom Computerspiele-Museum das neueste Projekt des Museums vorstellt.

"Channel LP for 'Let's Play!'"

Der hochbetagte Erfinder sitzt etwas unsicher auf dem Barhocker, den man ihm auf das Podium gestellt hat. Seine Erinnerungen an jene Zeit, die ihn berühmt gemacht hat, sind lückenlos und seine Sprache, wie man es von einem Ingenieur erwarten würde, präzise und voller trockenem Humor. Alles hat im Spätsommer 1966 angefangen, als Baer beim Rüstungskonzern Sanders Associated in New Hampshire gearbeitet hat. Kurz nach seinem Bachelor-Abschluss als Fernseh-Ingenieur hatte er dort Geheimprojekte für Waffen-Elektronik übernommen und war gerade auf einer Geschäftsreise, als ihm die Idee kam den Fernseher endlich in ein Gerät zu verwandeln, das nicht länger nur Dinge zeigt, die man nicht sehen will. Spielen sollte man damit können und schon im Herbst desselben Jahres setzten er und ein paar Kollegen sich daran Television Games zu entwickeln. Als Kanal, der von den experimentellen Spielkonsolen über den Antennenanschluss angesteuert wurde, wählte man "LP" und definierte in kurzerhand in "Let's Play!" um.

Die Elektronik dieser Spiele basierte noch auf Röhren - an den Einsatz von Transistoren war aus Kostengründen nicht zu denken und integrierte Schaltkreise (ICs) oder gar Microprozessoren gab es noch nicht oder waren ebenfalls zu teuer. Die Technologie, die dem ersten Television Game zugrunde lag, war simpel und produzierte einfache, aber verblüffende Ergebnisse: Zwei Rechtecke links und rechts am Bildschirmrand, die mit Drehreglern auf, ab, vor und zurück bewegt werden konnten, in der Mitte eine Linie und ein kleines Quadrat, das als Ball hin und her flog, bis einer der Spieler es nicht mehr mit seinem "Schläger" erwischte - "Ping Pong" war geboren, ein Spiel, das man zu zweit auf dem Fernsehbildschirm spielen konnte. Als nächstes ließ Baer die Mittellinie verschwinden, legte eine blaue Folie vor die Mattscheibe und schon war aus "Ping Pong" ein "Eishockey"-Spiel geworden. "Keep it simple - that's what worked."

Die Geburt der Videospiele aus dem Geist des Militärs

Baers Vorgesetzte waren nur schwer vom Sinn dieser Projekte zu überzeugen zumal der Firma Sanders zu der Zeit schwere Zeiten und Entlassungen ins Haus standen. Als einer der Vorgesetzten jedoch einmal ins Labor kam, erinnert sich Baer, und ein Gewehr, das per Kabel mit der Spiel-Konsole verbunden war und mit dem man einen Lichtpunkt auf den Monitor abschießen konnte, in die Hände nahm und gleich aus der Hüfte den sich auf dem Bildschirm bewegenden Gegenstand abschoss, war das Eis gebrochen. Baer überzeugte die Chefs von Sanders mit der Erfindung an einen Elektronikkonzern heranzutreten und sie zu vermarkten. Obwohl die Ursprünge der Erfindung aus einem militärischen Kontext stammen und schon in frühen Versionen von Television Games waffenartige Steuerungen und Spielkonzepte zum Einsatz kamen, betont Baer heute noch, dass seine Erfindungen keinerlei militärischen Bezug hätten. Zahlreiche Autoren und Medienwissenschaftler sehen das anders.

Nach einigen Rückschlägen konnte er schließlich den Fernseh-Hersteller Magnavox für die Vermarktung seiner Erfindung gewinnen. Magnavox Odyssey hieß die erste Konsole, deren Preis fünf mal so hoch war, wie es Baer für angebracht hielt und bei deren Marketing-Kampagne der Eindruck entstehen konnte, sie funktioniere nur zusammen mit einem Fernsehgerät desselben Herstellers. Baer verließ der Mut und erst als ihm schon kurze Zeit später ein Scheck über 100.000 US-Dollar Lizenzgebühren zugestellt wurde, ahnte er, was er da in die Welt gebracht hatte. Die Bedeutung seiner Erfindung stellte sich nicht zuletzt dadurch heraus, dass Nolan Bushnell mit seiner jüngst gegründeten Firma Atari 1972, im selben Jahr in dem Magnavox die "Odyssey" veröffentlichte, einen Clone namens Pong herausbrachte, für den ihm heute noch teilweise der Ruf, die Videospiele erfunden zu haben, zuteil wird. Obwohl die Idee eines elektronischen Tennisspiels wie eingangs erwähnt bereits 1958 umgesetzt wurde, warf Baer Bushnell Ideenklau vor und zog vor Gericht - niemand wusste zu diesem Zeitpunkt (mehr) von Higinbothams "Tennis for Two".

Ein Spiel für zwei

Weil Ralph Baer von Beginn seiner Ingenieurs-Laufbahn an über jede Idee und jedes Projekt penibel Buch führte, lässt sich dieser Bereich der Frühzeit der Videospiele so detailliert nachvollziehen. Zahlreiche seiner Dokumente (Skizzen, Tagebucheinträge, Patente, ...) finden sich digitalisiert in der Timeline der Computerspiele-Museums-Webseite. Etliches ist auch über die Medienarchive des Internets zugänglich, etwa Videos von frühen Präsentationen des "Ping Pong"-Spiels. Magnavox lieferte die "Odyssey" mit verschiedenen von Baer ersonnenen Spielen aus, die sich allesamt mit den Paddles steuern ließen. Um für Abwechslung zu sorgen, wurden Folien mit Grafiken mitgeliefert, die man - je nach Spiel, das man spielte - vor den Bildschirm drapierte und so eine primitive Spielumgebung herstellen konnte. Das Basiskonzept änderte sich jedoch nie: eine schwarz-weiße Grafik (der durchaus mögliche Einsatz von Farbe war Magnavox zu kostspielig) mit zwei Spielfiguren, das Ziel des Spiels: "chasing spots".

Ralph Baer signiert eine "Odyssey"-Konsole

Dass die "Odyssey" grundsätzlich Spiele für zwei Spieler - Erwachsene wie Kinder - bot, machte wohl den Erfolg der Konsole aus. Endlich war es möglich, das, was im Fernseher gezeigt wurde, selbst zu bestimmen, nicht mehr nur zu konsumieren, sondern den Inhalt des Gezeigten zu beeinflussen. Die Mehrspielerfunktion, oder besser: der Zwang zu zweit zu spielen, war eigentlich allen frühen Videospielen - sei es "Tennis for Two", "Spacewar" oder "Ping Pong" - inhärent. Und das lag weniger daran, dass die Hersteller für ein gemeinsames Spielerlebnis sorgen wollten, als daran, dass die Spielelektronik viel zu leistungsschwach war, um einen Computergegner aufs Feld zu schicken. Erst durch den Einsatz von Mikroprozessoren - und hier hatte Atari mit seinen späteren Konsolen dann einen echten Durchbruch - wurde dies möglich und der Videospieler ein einsamer Held.

Von der "Brown Box" zur sprechenden Fußmatte

Ralph H. Baer ist Zeit seines Lebens der interaktiven Elektronik treu geblieben. In der Home-Base-Lounge stellte er ein neues Buchprojekt vor, in welchem er die wichtigsten Erfindungen seines Lebens mit derselben Genauigkeit protokolliert, mit der er auch die Entwicklung von "Ping Pong" und der experimentellen Konsole "The Brown Box" aufgezeichnet hat. Darin finden sich etliche Versionen seines Videospiels, sprechende Spielzeuge, die teilweise für pädagogische Zwecke eingesetzt wurden, Sprachfernsteuerungen für elektrische Geräte, wie eine Voice-Control für Plattenspieler, ein Anfang der 1980er recht bekannt gewordenes Memorier-Spiel mit dem Titel "SIMON" (hierzulande als "Senso" vermarktet) bis hin zu Skurilitäten wie einer sprechenden Fußmatte, die Mitte der 1990er von ihm ersonnenen wurde und Besucher begrüßen oder, wie Baer feixt, wenn sie nicht das Erwartete Gastgeschenk mitgebracht haben, fort jagen.

Nachbau der Brown Box

Einen Nachbau seiner Ur-Konsole "Brown Box", die so heißt, weil sie und die Controller komplett in einem (Kunst)Holzgehäuse stecken, hat er in Berlin mit dabei gehabt. Nach Ende der Podiumsdiskussion konnten die Anwesenden ihr Geschick daran testen. Baer selbst, als er, vom Barhocker herunter geklettert, wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, wurde sofort von Fans umringt, signierte Bücher und sogar eine mitgebrachte "Philips Odyssey 200" - den deutschen Nachbau der Magnavox-Konsole. Die Veranstalter, zu denen neben dem Computerspiele-Museum auch Mitglieder des Potsdamer Videospiel-Festival A-MAZ gehören, haben mit der Podiumsdiskussion die einmalige Möglichkeit eröffnet, dem immer noch recht jungen Feld der Videospiel-Forschung ein echtes Ereignis zu spendieren. Im Rahmen der Games Convention, die in diesem Jahr einmal mehr auch ein Zeichen gegen die unsägliche "Killerspiele"-Debatte setzen soll, war die Vorstellung der Timeline und das Gespräch mit Ralph Baer genau das richtige Ereignis zum rechten Zeitpunkt: Es betont die Wichtigkeit und die enge Verflechtung der Videospiel-Geschichte mit der Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts.