Erzengel und Belzebub

Lafontaine und die groteske Kampagne der Medien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

„Einmal muss Schluss sein!“ Das hat sie, die Redakteurin der Frankfurter Rundschau (FR), ganz eigenverantwortlich beschlossen, „ohne Rücksprache mit irgendeinem Vorgesetzten“. Schluss mit was? Mit den inzwischen 14-Seiten-langen Kommentaren zu einem FR-Artikel über Maybritt Illners Sendung "Illner Intensiv" mit Politikern der Linken, darunter Oskar Lafontaine. Die Kommentare äußern sich in der Regel kritisch zu dem Artikel und einige beklagen einen politischen Kurswechsel der Zeitung.

Was war geschehen? Lafontaine hatte in der Sendung davon gesprochen, dass die Medien in Deutschland in den Händen von zehn reichen Familien lägen und diese hätten kein Interesse, die Linke groß zu machen. Das wiederum nahm der FR-Autor zum Anlass zu schreiben, jetzt müsse Lafontaine nur noch von jüdischen Familien reden, dann könne er in die NPD eintreten.

Man kann sich zunächst wundern, warum in einer Zeitung mit bisher seriösen Ruf wie die FR plötzlich Sätze zu finden sind wie:

Intendanten wie Programmverbrechern gehört diese Sendung in den Schlund gerannt, bis ihnen das letzte "Drei Chinesen mit dem Kontrabass" vergeht.

Und man kann diesen Artikel als Beispiel dafür nehmen, was herauskommt, wenn in den Schmuddeletagen des Journalismus keine Beißhemmung mehr besteht.

Dann wird aus dem Politiker Lafontaine der „Saarkasper“, der jedes Mitleid verspielt habe, ein „saarländischer Napoleon-Imitator“ mit „grenzenloser Gier nach Aufmerksamkeit“, und bei „dem Herrn“ vermute man ohnehin kein Rückrat mehr. Die FR ist mit einer derartigen Ansammlung von Adjektiven nicht alleine. Bei der WAZ-Gruppe wird Lafontaine in einem einzigen Artikel über das ZDF-Sommerinterview im Juli so dargestellt: Er ist - noch milde - „umstritten“, „angefressen“, er „giftet“, „meckert“ mit „gefrorenem Lächeln“, er „poltert“, er „mault“, ist „immer aufgeregter“ und er ist „erkennbar angeschlagen“. Auch in dem Sommerinterview hatte Lafontaine auf eine Medienkampagne gegen die Linkspartei hingewiesen. Peter Frey, der ZDF-Interviewer, kommentiert sein eigenes Interview und sieht Lafontaine mit einer etwas bürgerlicheren Sprache als „dünnhäutig“, „verunsichert“ aus der „Fassung“ geraten, ein Mann der „kaum ruhig stehen kann“, der hinter „der Fassade seines Lächelns“ „unsicher“ werde und vor „einer empfindlichen Niederlage“ stehe, überhaupt: „Der Mythos Oskar verblasst“.

Publizistische Hinrichtung eines Politiker

Man muss weder Oskar Lafontaine persönlich mögen, noch die Linkspartei irgendwie sympathisch finden, um diese Art publizistischer Hinrichtung zu kritisieren. Der Mann hat weder Kinder geschändet noch ist er sonstig strafrechtlich verurteilt, was man nicht von jedem Politiker sagen kann. Doch einen ehemaligen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden, der immerhin ein Attentat überlebt hat, als „Saarkaspar“ zu bezeichnen, lässt neben jeden bürgerlichen Anstandsregeln auch jeden Funken an sachlicher Auseinandersetzung vermissen und ist schon nicht mehr Hinrichtung, sondern Totschlag. Und das penetrante Bestehen von ZDF-Interviewer Frey darauf, dass Lafontaine seinerzeit seine Ämter „hingeschmissen“ habe, ist wie die „Süddeutsche“ bereits 2008 anlässlich des damaligen Sommerinterviews anmerkte, eine „groteske Simulation von kritischem Journalismus“. Lafontaine ist vom Medienmainstream quasi publizistisch zum Abschuss freigegeben.

Warum der 66-Jährige zum Lieblingshassobjekt der Medien wurde, ist auch auf dem Hintergrund der Situation der SPD zu sehen. Dass Medien aus dem bürgerlich-rechten Lager dem Linkspolitiker keinen Lorbeerkranz flechten, ist offensichtlich. Dass öffentlich-rechtliche Sender aber ebenso gerne an diesem publizistischen Haberfeldtreiben teilnehmen, hat – auch darauf hat Lafontaine hingewiesen – mit dem Einfluss der Parteien auf diese Sender zu tun. Für die SPD ist die Linkspartei die permanente Erinnerung an ihren größten Sündenfall seit 1945 – die Schrödersche Agenda 2010 mit Hartz IV. Und Lafontaine wiederum mit seiner sozialdemokratischen Politik, die nichts anderes ist als die Politik der Vor-Schröder-SPD, erscheint so als der Erzengel Michael der Hartz IV-Geschädigten. Und weil es für die SPD unerträglich ist, permanent an ihren Sündenfall und politisches Selbstmordprojekt erinnert zu werden, muss der Erzengel zum Belzebub werden. Und so geschah es, dass der Politiker Lafontaine in den Medienerzeugnissen nicht mehr als reale Person, sondern als Zerrbild dargestellt wird.

Und wie ist es nun mit einer gesteuerten Medienkampagne gegen die Linkspartei? Soll man sich das so vorstellen, dass die zehn reichen Familien jeden Montag Anweisungen an die Redaktionen geben? Erinnert man sich daran, wie Politiker mit Geldkoffern durch die Republik reisten und mächtige Unternehmen mit Banknoten in braunen Umschlägen die politische Landschaft pflegten, dann könnte man auch solch eine banale Abwicklung der Geschäfte für möglich halten.

Doch das Feld des Journalismus, um mit dem Soziologen Pierre Bourdieu zu reden, ist wahrscheinlich subtiler strukturiert. Jeder, der ein Volontariat bei einer Zeitung hinter sich hat, könnte wissen: Es geht dabei nicht zuvörderst um die Einübung in die handwerklichen Techniken des Berufes. Sondern um die Einübung und das Einatmen der ungeschriebenen Spielregeln, wonach zu entscheiden ist, was dissident und was legitim, was schreibbar und was tabu ist. Und die Fähigkeit, diese Spielregeln aufzustellen, nennt man Macht.