Mehr Wohlstand - mehr Kinder

Auch in entwickelten Nationen kann die Geburtenrate wieder steigen - eine neue Erkenntnis mit politischen Auswirkungen

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Es galt lange als gegeben, dass unsere Gesellschaft unvermeidlich auf die Vergreisung zusteuert – bei steigendem Wohlstand, hieß es, sinke die Geburtenrate bei gleichzeitigem Anstieg der Lebenserwartung. Ergebnis: Die Alterspyramide steht irgendwann auf dem Kopf, und dass eine Kopf stehende Pyramide nicht sonderlich stabil ist, geht auch dem gesunden Menschenverstand ein.

Das Problem hat eine ganze Reihe von Aspekten. Allen voran natürlich die Frage, warum wir uns darüber überhaupt Gedanken machen – die Weltbevölkerung wächst weiterhin, die natürlichen Ressourcen sind begrenzt, also sollte eine sinkende Geburtenrate doch eigentlich eine gute Nachricht sein? Der Haken daran ist nur, dass unsere Wohlfahrtssysteme lokal organisiert sind und manche Staaten es aus guten oder weniger guten Gründen unpassend finden, der natürlichen Migration ihren Lauf zu lassen.

Wann wird die Geburtenrate überhaupt kritisch? Wenn man als kritischen Punkt den Zeitraum betrachtet, ab dem die Gesamt-Bevölkerungszahl eines Landes sinkt, dann hängt die „nötige“ Geburtenrate natürlich von der Lebenserwartung ab. In den entwickelten Ländern des Westens müsste jede Frau im Laufe ihres Lebens im Mittel derzeit 2,1 Kinder bekommen, damit die Bevölkerungszahl nicht schrumpft. Tatsächlich sind es weit weniger – traurige Rekordhalter sind dabei Spanien, Japan und Italien mit etwa 1,3 Kindern. Bleibt es dabei, würde die Bevölkerungszahl in diesen Ländern pro Jahr um 1,5 Prozent sinken.

Der dahinter stehende Mechanismus ist vielgestaltig: Bei niedrigem Lebensstandard jedenfalls ist eine große Kinderzahl eine Investition in die eigene Alterssicherung, eine hohe Kindersterblichkeit verstärkt diesen Trend noch. Steigt der Wohlstand, entfällt zum einen das Motiv der Vorsorge fürs Alter – zum anderen wird es teurer, jedes Kind mit dem Familienwohlstand auszustatten. In Deutschland muss man sich derzeit zwischen einem Reihenhaus und der Mindest-Kinderzahl entscheiden: Zwei Kinder bis zum 18. Lebensjahr großzuziehen, kostet etwa eine Viertel Million Euro.

Umkehrschwung durch gebildete Frauen mit eigenem Einkommen

Schaut man sich die Statistik genauer an – und das hat jetzt ein dreiköpfiges Forscherteam in einem Artikel im Wissenschaftsmagazin Nature unternommen – dann gilt die Gleichung „Mehr Wohlstand = weniger Kinder“ gar nicht universell. Wie Hans-Peter Kohler und Kollegen zeigen, hat die Beziehung zwischen dem Wohlstand (hier in Form des Human Development Index, HDI, gemessen) und der Geburtenrate eine andere Form, als man bisher vermutete – nämlich die eines J (mit dem Bogen nach rechts).

Der HDI bezieht vor allem Bildung, Einkommen und Lebenserwartung ein – also genau die Faktoren, die sich auf die Geburtenrate auswirken, er wird als Zahl zwischen 0 und 1 dargestellt. In den meisten Ländern der Erde wächst der HDI kontinuierlich – und proportional dazu fällt die Geburtenrate. Bei einem HDI ab 0,86, haben Kohler und Mitforscher beobachtet, scheint sich der Trend in den meisten Ländern jedoch umzukehren, die Geburtenrate wächst wieder leicht.

Die Erklärung der Wissenschaftler: Den Menschen in diesen Ländern steht nun genug Einkommen zur Verfügung, sich das Luxusgut Kind wieder leisten zu können. In Ländern mit hohem HDI verändert sich insbesondere der Anteil, den die Frauen an der Arbeitswelt nehmen: Frauen erreichen eine höhere Bildung und beziehen ein eigenes Einkommen. So, wie der Mann nicht mehr alleiniger Ernährer der Familie ist, fällt es Frauen mit hohem Bildungsstand leichter, nach einer Babypause wieder ins Arbeitsleben zu wechseln.

Dass dieser Trend sich erst jetzt in der Statistik bemerkbar macht, liegt an den ökonomischen Voraussetzungen: 1975 etwa gab es noch kein einziges Land mit einem HDI über 0,9 – das entspricht einem Jahreseinkommen von 25.000 US-Dollar, einem Bildungsindex von 0,95 und einer Lebenserwartung von 75 Jahren. 2005 hingegen besaßen schon 26 Länder einen HDI von mehr als 0,9 – Spitzenreiter waren Australien, Norwegen und Island. In 18 dieser Länder ist die Geburtenrate seitdem gestiegen. Woher kommen die Ausreißer, zu denen etwa Japan, Südkorea, Österreich und die Schweiz gehören? Die Forscher regen hierzu genauere Untersuchungen an. Erste Hinweise gibt es darauf, dass ein Zusammenhang zwischen innerfamiliärer Innovation und der Geburtenrate besteht – inwieweit lassen Familie und Gesellschaft auch mal ungewöhnliche Lebensmodelle zu? Länder wie Japan oder die Schweiz haben hier womöglich Defizite.