Jährlich müssen Tonnen von Altmedikamenten entsorgt werden

Die Arzneimittelhersteller verdienen nicht nur an Pillen, die geschluckt werden, sondern auch kräftig an denen, die nicht geschluckt werden. Doch weshalb fällt überhaupt eine solche Menge von Arzneimittelmüll an?

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Dass unser Gesundheitswesen eher Gesundheitsunwesen heißen müsste, davon ist der Patient H. L. heute überzeugt. Innerhalb weniger Monate wurde er wegen einer zunächst nicht korrekt diagnostizierten und infolgedessen nicht angemessen therapierten Erkrankung aufeinanderfolgend in vier verschiedene Kliniken eingewiesen. Jedesmal wurde er nach relativ kurzer Zeit wieder entlassen und zur Weiterbehandlung seinem Hausarzt übergeben, versehen mit der jeweils hauseigenen Medikation der Kliniken. Die bei jedem neuen Krankenhausaufenthalt neu verordnete Medikation hatte zur Folge, dass die zuvor verschriebenen Arzneimittel abgesetzt wurden. Im Laufe von sieben Monaten häuften sich die für ihn nutzlos gewordenen Pillen, Tropfen, Filmtabletten und Hartkapseln zu einem Berg auf, den es nun zu entsorgen galt.

Entsorgen – aber wo und wie? Noch 2002 ließ das Bundesumweltamt verlauten, Medikamentenreste gehörten nicht in die Mülltonne (und erst recht nicht in die Toilette), sondern in den Sondermüll oder zurück in die Apotheke, wo eine Recyclingfirma die weitere „fachgerechte“ Entsorgung übernahm. Der Gang in die Apotheke allerdings erübrigt sich seit dem 1. Juni dieses Jahres, da die bislang zuständige Firma ihre Verträge gekündigt hat. Die Schuld daran gibt sie der 5. Novelle der Verpackungsverordnung, die dieses Geschäft nun unwirtschaftlich erscheinen lasse. 2006 wurden Alt-Arzneimittel aus rechtlicher Sicht für Restmüll erklärt, eine Entsorgung über den Hausmüll für zulässig. Das gilt bis heute.

Bevor der Patient H. L. den Sack überflüssiger Medikamente nun also in die Hausmülltonne warf, machte er sich die Mühe auszurechnen, welche Werte er da vernichtete. Insgesamt hatte er in der örtlichen Apotheke Arznei im Wert von 1.478,85 Euro erstanden und über 80 Euro aus eigener Tasche zugezahlt. Das teuerste Medikament hatte 180,49 Euro gekostet, was wenig ist im Vergleich zu Arzneimitteln etwa gegen Leukämie: Da darf der Patient beziehungsweise die Krankenkasse je nach Dosierung und Stückzahl der Tabletten bis zu 9.950 Euro entrichten. So errechnete H. L. schließlich, dass mit dem nicht verbrauchten Rest der Medikamente 716,25 Euro auf der Mülldeponie landeten. Da er in einer Ersatzkasse versichert ist, ging diese Summe also zu deren Lasten – und letztlich zu Lasten der Versicherten.

Ein Einzelfall und deshalb nicht repräsentativ? Es gibt keine offiziellen Erhebungen, also auch keine verbindlichen Zahlen zur Entsorgung von Altmedikamenten, so der Bundesverband deutscher Apotheker. Wie jedoch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) 2007 feststellte, werden jährlich etwa 38.000 Tonnen nicht mehr benötigter Arzneimittel aus Apotheken und Krankenhäusern vernichtet, und nach einer Schätzung des Bayerischen Landesamts für Umwelt von 2006 [laut Abfallratgeber Bayern] wandern pro Jahr aus Privathaushalten, die mit etwa 85 % den Hauptanteil gegenüber Kliniken und Pflegeheimen stellen, bis zu 30.000 Tonnen nicht mehr benötigter Arzneimittel in den Müll – nach einer anderen Schätzung jede fünfte von 1,6 Milliarden in Verkehr gebrachten Packungen.

Die Kosten für deren Entsorgung sind nicht exakt zu errechnen, da Altmedikamente nicht gesondert „thermisch behandelt“, das heißt in einem Müllheizkraftwerk verbrannt werden. Nach einer Information jedoch, die der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) vorliegt, kostet die Entsorgung einer jeden Tonne von Altmedikamenten, die in der Dritten Welt anfällt (Medikamentenspenden werden „mit nicht unerheblichen Steuererleichterungen“ belohnt!), rund 2000 US Dollar.

Gründe für die Arzneimüllberge

Den Hauptgrund sehen Gesundheitsexperten in der mangelnden Disziplin der Patienten, die die verschriebenen Medikamente unregelmäßig oder gar nicht einnehmen, Medikationen vorzeitig abbrechen und auf diese Weise Verursacher von 4000 Tonnen von Altmedikamenten im Wert von 500 Millionen Euro jährlich sind, wie eine aktuelle Untersuchung der Universität London feststellt. Einer Studie der WHO (World Health Organization) zufolge brechen etwa 50 % chronisch Kranker die Therapie vorzeitig ab. Im Rahmen einer Kampagne im Saarland, die zu mehr Sorgfalt im Umgang mit Medikamenten aufruft („Medikamente richtig nehmen ist wichtig“) hält der Gesundheitsminister des Saarlandes, Gerhard Vigener, zudem fest, dass jeder dritte Patient die Medikamenteneinnahme schon nach zehn Tagen abbricht. Der Schaden durch „Noncompliance“ – also die Nichteinhaltung von Verschreibungen – und deren Folgeschäden wie eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustands, Klinikaufenthalten und Operationen werden auf jährlich 10 Milliarden Euro beziffert.

Für den achtlosen Umgang mit Arzneimitteln gibt es verschiedene Gründe. Vor allem ältere Patienten, die in der Regel eine Vielzahl von Tabletten einnehmen müssen, sind häufig überfordert. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns weiß aber auch, dass es nicht selten zu Doppelverschreibungen kommt, nämlich wenn Patienten mit einem Gebrechen mehrere Ärzte aufsuchen und ein und dasselbe Medikament mehrmals verschrieben bekommen, ohne es erschöpfend zu nutzen. Da fehlt es an Verständigung zwischen Arzt und Patienten, aber auch entschieden an Aufklärung und Problembewusstsein bei den letzteren, findet die Kassenärztliche Vereinigung.

Doch die Achtlosigkeit der Patienten kann nicht die alleinige Ursache sein. Wie der Patient H. K. am eigenen Leib erfahren musste, verordnen Kliniken jeweils ihre hauseigene Medikation – schließlich sind sie die Anlaufstellen für von der Pharmaindustrie entwickelte neue Medikamente, die allerdings nicht selten die alten unter neuem Namen zum höheren Preis sind. Zur Behandlung derselben Beschwerden wurde ihm jedesmal eine neue Medikation verordnet. Dass es dafür nicht nur medizinische Gründe gibt, vermutet Udo Barske, Pressesprecher des AOK-Bundesverbands, und kritisiert, dass die Medikationsstrukturen der Krankenhäuser häufig „nicht gerade wirtschaftlich“ zu nennen seien. Wirtschaftlich allerdings durchaus im Sinne der Pharmaindustrie. Um den materiellen Schaden in Grenzen zu halten, ist letztlich der Hausarzt gefordert, die von den Kliniken verordneten Medikationen auf ihre Wirkstoffe hin zu untersuchen und gegebenenfalls Arzneimittel aus früheren Verschreibungen weiterzuverwenden, statt sie durch neue zu ersetzen.

Einen weiteren Grund für das Anwachsen solcher Müllberge sehen Kritiker in den knapp bemessenen Verfallsdaten. Zahlreiche Arzneimittel landen „auf dem Müll, die eigentlich noch haltbar wären, dies per Gesetz einfach nicht sind und daher entsorgt werden müssen“, beklagt Susanne Weckmann, die Pressesprecherin der kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Ob ein Medikament noch die gebotene Wirksamkeit besitzt, müsste jeweils von sachkundiger Stelle festgestellt werden. Doch bislang fehlt es an einem brauchbaren Kontrollsystem. So werden weiterhin Kassenbeiträge und Steuergelder – etwa im Falle übereifrig anberaumter staatlicher Vorratshaltung im Hinblick auf etwaige Pandemien – zum Fenster hinausgeworfen.

Einen der Gründe für die Misere sehen Kritiker in der Packungsgrößenverordnung des Bundesministeriums für Gesundheit. Sie schreibt vor, dass Arzneimittel nur in drei verschiedenen Packungsgrößen vertrieben werden dürfen. Doch die überdecken „nicht immer den tatsächlichen Therapieraum. Vor allem bei Akuttherapien bleiben häufig einige Tabletten übrig“, weiß Susanne Weckmann. Auch wenn Patienten die Hauptschuld am Arzneimittelmüll gegeben wird – es ist ein Unterschied, ob nach Abbruch einer Therapie noch sechs oder 86 Tabletten in den Abfall wandern.

Weiterreichung nicht gebrauchter Medikamente und Verkauf von Teilmengen

Die hohen Verluste an Volksvermögen wären wesentlich zu reduzieren, könnten überflüssig gewordene Medikamente, die die Haltbarkeitsgrenze noch nicht erreicht haben, wieder in Verkehr gebracht, also an andere Patienten weitergereicht werden. Doch das verbietet ausdrücklich das Arzneimittelgesetz. Die Befürworter dieser Regelung – allen voran die Apothekerschaft – verteidigen sie mit hygienischen Argumenten und geben vor allem zu bedenken, dass für die Wirksamkeit von Medikamenten aus zweiter Hand nicht garantiert werden könne. Dagegen hält Franz Daschner, ehemaliger Direktor des Instituts für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum in Freiburg, die Weiterverwendung von Medikamenten für unbedenklich, sofern die entsprechenden Lagerbedingungen eingehalten wurden und die Verfallsdaten nicht überschritten sind.

Die beste Lösung des Problems wäre die Problemvermeidung, nämlich statt standardisierte Packungen von Medikamenten zu verschreiben eine individuell auf den Patienten und den einzelnen Fall abgestellte Therapie anzuwenden. In englischsprachigen Ländern ist es traditionell üblich, dass ein Arzt nach eigenem Ermessen auch kleinste Mengen von Tabletten verschreibt, die jeder Drugstore vorrätig hat. Dass es auch in Deutschland einmal so weit kommen könnte, erscheint dem Bundesverband deutscher Apotheker aus Sicherheitsgründen als nicht wünschenswert.

Doch die gesetzliche Grundlage für eine flexiblere Therapie ist bereits vorhanden: Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat im Mai 2006 entschieden, dass die Umverpackung („Zweitverblisterung“ in vorgeformte Plastikbehälter, die mit einer Metallfolie verschweißt werden) von Fertigmedikamenten in der Apotheke rechtmäßig ist. Apotheker sind sogar zur Abgabe „von wirtschaftlichen Einzelmengen“ verpflichtet, wenn der Arzt es verordnet [Arzneimittelgesetz § 129, Abs. 1]. „Bei der Abgabe von einzelnen Tabletten könnten dann Einsparungen erzielt werden, wenn diese Tabletten aus Großgebinden oder loser Einzelware abgegeben werden und zudem die Ärzte nicht nur in Einzelfällen, sondern regelmäßig von dieser Möglichkeit Gebrauch machten,“ erhofft sich das Bundesministerium für Gesundheit.

Vorerst machen von dieser Möglichkeit allerdings nur wenige Ärzte Gebrauch. Eine Stellungnahme mehrerer nach den Gründen befragten Standesvertretungen blieb aus. In etlichen Bundesländern laufen indes bereits Modellversuche in Alten- und Pflegeheimen, deren Bewohner mit ihrer Wochenration an Arzneien in einfach zu handhabenden Blistern – in einzelne Fächer unterteilten Plastikschläuchen – zu versorgen. Im Vordergrund dieses Versuchs steht zu Recht die optimale Versorgung der Patienten. So erhofft man sich eine regelmäßige Einnahme der Medikamente, baut damit aber auch auf eine größere Wirtschaftlichkeit, so eine Sprecherin der AOK Bayern, die mit insgesamt acht Apotheken an dem Modellversuch beteiligt ist. Auch das Ministerium für Gesundheit und Soziales in Sachsen-Anhalt hat eine auf den einzelnen Patienten und Fall abgestimmte Medikation im Blick, die dem Patienten die Einhaltung der Einnahmezeiten erleichtert, wobei aber „vor allem keine überschüssigen Arzneimittel übrig bleiben, die andernfalls in den Müll wandern würden.“

Sowenig eine Neigung bei Ärzten, aber auch Apothekern erkennbar ist, von der neuen rechtlichen Möglichkeit Gebrauch zu machen, so zuversichtlich gibt sich die Blisterindustrie, die darin einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Nutzen für die eigene Branche sieht und nicht zuletzt einen Wettbewerbsvorteil ortsansässiger Apotheken gegenüber den in den Markt drängenden Versandapotheken. In der Praxis könnte es dann im Idealfall so aussehen: Apotheken halten Kanister mit den losen Tabletten bereit, die dann je nach Bedarf in kleineren Mengen in Blister („Durchdrückpackungen“) geschweißt werden.

Durch die patientengenaue Verteilung der Medikamente könnten "Millionenbeträge“ eingespart werden. Diese Entwicklung dürfte nicht mehr aufzuhalten sein, davon ist die Blisterindustrie überzeugt und sieht darin ein zukunftsträchtiges Geschäft. In einer Zeit, in der laut über ein vor dem Kollaps stehendes Gesundheitssystem geklagt wird, erscheint sie geradezu geboten.

Der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe hat vorgeschlagen, aus Kostengründen nur noch die nötigsten medizinischen Leistungen von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlen zu lassen, wobei sich sofort die Frage erhebt, wer entscheidet, was nötig ist und was nicht. Leonhard Hansen, Vorsitzender des Vorstands der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, denkt über eine drastische Ausweitung der Praxisgebühren nach. Ein wirtschaftlicherer Umgang mit Medikationen wäre in jedem Fall ein gerechterer und ebenso effizienter Umgang mit dem Volksvermögen.