Frankreich: Militär koordiniert Grippebekämpfung

Im Verteidigungsministerium werden neben Plänen zur Abwehr von Wirtschaftsspionage, Terrorismus oder Cyberwar auch solche für die Bekämpfung der Grippepandemie ausgearbeitet

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Wer das Hôpital Foch in Suresnes nahe Paris (Hauts-de-Seine) betritt, dem stechen als erstes die großen orangefarbenen Plakate ins Auge, mit denen das Gesundheitsministerium der Bevölkerung Verhaltensmaßnahmen einimpfen will, die der neuen Grippe A/H1N1 vorbeugen sollen. Wer der Krankheit entkommen will, soll sich regelmäßig die Hände waschen, zum Niesen ein Taschentuch benutzen und den Arzt anrufen, wenn er erste Anzeichen einer Infektion bemerkt.

In dem Krankenhaus hatten sich Ende Juli zwei Mitarbeiter des medizinischen Personals mit dem H1N1-Virus infiziert. Zwanzig Patienten, bei denen das Risiko einer Infektion bestand, wurden in Quarantäne gesteckt´und mit dem antiviralen Medikament Tamiflu behandelt. Zudem wurde ein Krisenstab eingerichtet, der das leitende Personal jeden Tag um 15 Uhr zu einer Lagebesprechung zusammenrief. Alle Mitarbeiter der betroffenen Lungenheilkundeabteilung mussten Masken tragen. Wer Grippesymptome zeigte, wurde sofort untersucht und zu Hause isoliert. Nach 11 Tagen wurden die Sicherheitsmaßnahmen wieder aufgehoben.

Schon seit Januar war das Personal mit Notfallübungen auf solch ein Ereignis vorbereitet worden. Viele Ärzte zeigten sich aber verunsichert über die Art und Weise, wie die Regierung die Kontrolle über die Maßnahmen übernahm. Bisher war unbekannt, in welchem Ausmaß die Bekämpfung der H1N1-Grippe in Frankreich von der Armee koordiniert wird.

Die Militarisierung der Grippebekämpfung

"Letztlich folgen wir den Anweisungen des Militärs", berichtet eine Mitarbeiterin des Krankenhauses gegenüber Telepolis. Man bekomme den Eindruck, mitten im Krieg zu sein. Ganz falsch ist das nicht: Denn der nationale Präventions- und Kampfplan gegen die Grippepandemie (Plan national de prévention et de lutte "Pandémie grippale") wurde vom französischen Militär ausgearbeitet.

Verantwortlich zeichnet das Secrétariat général de la défense nationale (SGDN), eine beim Premierminister angesiedelte Einrichtung, die lange Zeit die Arbeit der Geheimdienste koordinierte. Dieses Sekretariat befasst sich mit der Ausarbeitung von Krisenplänen der Regierung und berät sie in Verteidigungsangelegenheiten. So erstellte das SGDN zum Beispiel den nationalen Antiterrorismusplan Vigipirate. Außerdem ist es in die Abwehr von Wirtschaftspionage und Cyberwar-Angriffen sowie die Kontrolle des Waffenhandels eingebunden.

Ab Oktober 2004 arbeite das SGDN auch am ersten Plan zur Bekämpfung des Vogelgrippe-Virus H5N1. Dieser Plan wurde immer weiter ausgebaut - und wird nun auf das Schweinegrippevirus H1N1 angewandt. Dabei wird völlig unterschlagen, dass die H1N1-Grippe ganz anders beschaffen ist, als die Vogelgrippe: Während die nun virulente Schweinegrippe sehr ansteckend zu sein scheint, aber nur in den seltensten Fällen zum Tode führt, ist die Vogelgrippe kaum ansteckend, verläuft aber in 60 Prozent der Fälle tödlich. Die in dem Plan aufgeführten Maßnahmen scheinen dem aktuellen Risiko also völlig unangemessen zu sein.

Im nationalen Präventions- und Kampfplan gegen die Grippepandemie ist festgelegt, welche Maßnahmen in jeder der sechs Epidemie-Phasen durchgeführt werden müssen. Die Regierung hatte angekündigt, dass Frankreich zur "rentrée" im September - wenn die Urlauber aus den Sommerferien zurückkehren - von dem derzeitigen Niveau 5A (Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch im Ausland) auf die maximale Alarmstufe 6 springen könnte (Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch in Frankreich), was unter anderem die Schließung öffentlicher Einrichtungen und Verkehrsmittel, Einschränkungen im Flugverkehr und medizinische Kontrollen an den Grenzen bedeuten würde. Außerdem wird das Land in Verteidigungszonen eingeteilt und jedem Präfekten ein Armeeoffizier zur Seite gestellt.

Das Militär soll dann auch direkt zum Einsatz kommen. So sollen unter anderem Reservisten einberufen werden, um den Einsatz der Armee im Inneren zu gewährleisten. Das Militär soll den Zugang zu Krisenzentren und Verteidigungseinrichtungen einschränken und Gesundheitskontrollen durchführen. Außerdem sollen Soldaten bei der Verteilung von Hilfsgütern eingesetzt werden.

Zwangsimpfungen im Herbst?

Im Zusammenhang mit einer anderen möglichen Maßnahme weckt die tragende Rolle des Militärs Unbehagen: Ende Mai berichtete das Journal du Dimanche, die Regierung erwäge die Zwangsimpfung der gesamten französischen Bevölkerung, sollte sich das Virus im Herbst massiv verbreiten.

"Niemand hätte das Recht, sich einer Impfung zu verweigern - außer im Falle einer medizinischen Indikation" sagt Anne Laude vom Institut droit et santé der Universität Paris-V-Descartes. Zwangsverabreichungen von Impfdosen sind vor allem deshalb fragwürdig, weil sie tief in die Persönlichkeitsrechte eingreifen. Zudem sind die Nebenwirkungen der Impfungen oft nicht abschätzbar, eine "medizinische Indikation" ist also bei niemandem auszuschließen. Damit sind solche Impfungen de facto Menschenexperimente in großem Stil. Überdies nützen die bereits von der Regierung bestellten Impfstoffe überhaupt nichts, wenn das Virus sich durch Mutationen verändern sollte. Hinzu kommen die hohen Impfkosten von bis zu einer Milliarde Euro.

Katastrophenszenarien versetzen die Gesellschaft in einen Schockzustand

Zwar ist bisher nicht entschieden, ob die Regierung diesen drastischen Schritt gehen wird und wie diese Zwangsimpfungen umgesetzt werden sollen. Dennoch stellt sich die Frage, welche Rolle dem Militär bei solchen Zwangsmaßnahmen zukommen könnte. Unter Umständen könnte sich das umgekehrte Szenario abspielen wie in dem Film Outbreak (1995) von Wolfgang Petersen, wo das Militär gewaltsam versucht, die Verabreichung eines Antiserums gegen einen Biokampfstoff zu verhindern.

In jedem Fall sind diese Vorschläge ein gutes Beispiel für die These der Globalisierungskritikerin Naomi Klein, die von einem Schock-Zustand spricht, in den moderne Gesellschaften - hier etwa durch die Grippeangst - versetzt werden, um dann drastische Maßnahmen durchzuziehen, die unter normalen Umständen nie akzeptiert worden wären. So könnte die Ausrufung einer Pandemie dazu führen, dass die Bevölkerung Einschränkungen der Freiheit und Eingriffe in Persönlichkeitsrechte klagloser akzeptiert. Denkbar wäre auch, dass die klare Trennung zwischen zivil angeforderter Amtshilfe und der Übernahme hoheitlicher Funktionen durch das Militär im Pandemiefall nicht mehr aufrecht erhalten wird.

Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen schon heute: Die Einwohner der französischen Hauptstadt sind es bereits gewohnt, im Alltag patrouillierenden Militärs zu begegnen. So laufen einem an strategischen Punkten der Pariser Metro zu jeder Tageszeit ganze Gruppen nervöser Soldaten über den Weg, den Finger am Abzug ihrer FA-MAS-Sturmgewehre. Dabei ist klar, dass diese Militärpräsenz kein Attentat verhindern wird. Diese Simulation von Sicherheit bewirkt eher das Gegenteil: Die Fahrgäste fühlen sich ständig daran erinnert, Zielscheiben zu sein.

Ähnlich funktioniert die präventive Militarisierung im Fall der Grippebekämpfung. "Heute stehen wir schon im Bann der Seuche, bevor sie bei uns angekommen ist", gibt die Historikerin Silvia Berger zu Bedenken. Vor allem durch ihre Bekämpfung wird ein politisch ausbeutbarer Bedrohungszustand erzeugt. Die französische Regierung habe mit ihren Maßnahmen vor allem für Angst in der Bevölkerung gesorgt, kritisierte auch Professor Bernard Debré vom Nationalen Ethik-Komitee. Die durch den H1N1-Virus ausgelöste Krankheit bezeichnete er als ein "Grippchen", das weniger gefährlich sei als die normale Saisongrippe.