"Nahezu entnervend demokratisch"

Am 29. August fand in München der 3. Parteitag des bayerischen Landesverbandes der Piratenpartei statt

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Die Halbwertszeit von alternativen Konzepten innerhalb junger Parteien nimmt mit Eintritt in die politische Verantwortung stetig ab: Waren es bei den Grünen von der Neugründung bis zur Regierungspartei immerhin noch 18 Jahre, bis sich die Alternativen im politischen Mainstream auflösten wie Kaba in heißer Milch, so hat diese Genese bei der Linkspartei/PDS nur zehn Jahre gedauert. Doch zeigt sich auch: Sobald sich die Positionen der etablierten Parteien anzugleichen beginnen, treten neue Parteien auf, die sich mit Leidenschaft neuer Themen annehmen, bis die erste Regierungsbeteiligung winkt, sämtliche Prinzipien über Bord geworfen werden und das Spiel politischer Dissidenz anderswo von vorne beginnt. Im Moment ist es die Piratenpartei, welche sich für die Belange der Staatsbürger im IT-Zeitalter annimmt, Urheberrecht, Patente, Datenschutz und Informationsfreiheit auf ihre politische Agenda gesetzt hat und dabei bis zum Masochismus dem Prinzip der Basisdemokratie frönt.

Topdemokratisches Procedere

Am 29. August trafen sich ca. 250 Mitglieder in der Münchner Freiheizhalle [sic] zum 3. Parteitag des deutschlandweit größten Landesverbandes, um Finanzielles und Satzungsänderungen zu beschließen sowie einen neuen Vorstand zu wählen. Das Durchschnittsalter der Anwesenden belief sich schätzungsweise auf 26 Jahre. Viele orange- oder schwarzgewandete Zopfträger, aber auch Junggebliebene mit Jello-Biafra-T-Shirts; viele Bionade- und Matetrinker, aber auch viele Biertrinker waren darunter.

Nachdem Gäste aus Österreich und der Schweiz ihre Grußworte gesprochen und betont hatten, die Piraten wären keine Partei, sondern ein Work-in-Progress-Kollektiv, wurde vom Versammlungsleiter, dem Sven-Giegold-Lookalike Ralf "Serbitar" Kelzenberg das topdemokratische Procedere der Abstimmung erklärt, welches gleich so demokratisch war, dass es während des Parteitages immer wieder für Verwirrung sorgte: Mit dem Heben beider Hände konnten die Mitglieder Geschäftsordnungsanträge abgeben, was regelmäßig von Selbstdarstellern genutzt wurde, um Kommentare abzugeben.

Die Kandidaten selbst wurden anhand des Approval-Voting-Verfahrens ("Ihr schreibt auf den Stimmzettel alle Kandidaten, denen ihr eine Stimme gebt") gewählt, was bei mehr als zwei Amtsanwärtern sinnvoll sein kann. Allerdings traten bei diesem Parteitag nie mehr als zwei Bewerber gleichzeitig an. Dafür stellte sich das Verfahren als zeitraubend und kontraproduktiv heraus, weil es mehrmals erklärt werden musste. Und es musste auch mehrmals abgestimmt werden, bevor die Parteibasis überhaupt begriffen hatte, wie man wählt.

Erfreulich unprofessionell

Gefühlte zwei Stunden wurde angeregt über Legitimation und Rolle des Parteisprechers diskutiert (muss dieser Teil des Vorstands sein oder soll er das gerade nicht?). Dann folgten unter anderem Debatten darüber, ob zwei Anträge, die bereits angenommen wurden, einander widersprechen oder ergänzen: Ist mit Satzungsänderungsantrag 3 (das Beisitzermodell) Satzungspunkt 1 außer Kraft gesetzt? Muss, da Satzungsänderungsantrag 3 angenommen wurde, noch über Satzungsänderungspunkt 4 (Vorstandserweiterung II) abgestimmt werden?

Erfreulich selbstkritisch und unrhetorisch verlief dann der Bericht des Vorstandes über die Aktivitäten des Vorstandes. Der nicht wieder zur Wahl antretende erste Vorsitzende Andreas Popp ("Wir wollen, dass alles von der Basis ausgeht - wir sind die Piratenpartei, nicht die SPD") berichtete von der Beitrittswelle während der Europawahl, welche den Vorstand zeitweise nahezu gelähmt hatte: Innerhalb kürzester Zeit war die Mitgliedstärke der Piratenpartei Bayern von 300 auf 1500 gestiegen und man musste so viele Aufnahmeanträge bearbeiten, dass für andere Aktivitäten fast keine Zeit mehr übrig blieb.

"Strategische Ausrichtung nötig"

Nachdem sehr aufgeregt über den Rechenschaftsbericht des Vorstandes und den Bericht der Rechnungsprüfer debattiert wurde, da ersterer inhaltlich zwar korrekt, formal aber mangelhaft war, ging man zur Wahl des Vorsitzenden über. Hier bewarben sich der bisher stellvertretende Vorsitzende Klaus Mueller ("Wir müssen den Vorwurf, die Piratenpartei wäre inhaltsleer, entkräften") und Roland "ValiDOM" Jungnickel, der sogleich in ein anrührendes Politiker-Speech verfiel und wie zum Beweis der These seines Kontrahenten folgende Parole ausgab: "Jetzt, wo wir so viele geworden sind, ist eine strategische Ausrichtung nötig."

Auf die Aufforderung, doch auch bitte so etwas ähnliches wie eine politische Rede zu halten, entfuhren den Kandidaten unter anderem folgende Sätze: "Das bayerische Schiff hat Wind in den Segeln und deswegen schaffen wir es auch gegen den Strom in Berlin" (Jungnickel). "Wenn wir politisch mitreden wollen, stehen wir am Anfang. Aber wir schaffen es." (Mueller). Im Laufe der Kandidatur konnte man noch erfahren, dass Jungnickel erst seit zwei Monaten Mitglied bei der Piratenpartei ist, vorher mit dem Gedanken gespielt hat, der FDP oder den GRÜNEN beizutreten und Kunst und Kultur der Internetnutzer für so beschaffen hält, dass daraus Werte abgeleitet werden können. Leidenschaft übermannte das Parteivolk erst, als gefragt wurde, wie beide zur Legalisierung von Haschisch stehen. Anschließend wählte man Klaus Mueller zum Vorsitzenden und Roland "ValiDOM" Jungnickel zu dessen Stellvertreter.

Demokratitis und Transparenzokokken

Ansätze von Begeisterung regten sich wieder, als der 22 Jahre alte Alexander Bock zum Generalsekretär gewählt wurde, der es mit einer kurzen Rede ("Wir sind hier, weil wir etwas verändern wollen und nicht weil wir es spannend finden, über Satzungsänderungen abzustimmen") verstand, die momentanen Stimmung der Parteimitglieder wiederzugeben. Anschließend wurde noch darüber diskutiert, ob weiter diskutiert werden sollte und ein Geschäftsordnungsantrag gestellt, dass man von nun ab keine Geschäftsordnungsanträge mehr zulassen solle.

Abgesehen davon, dass einen Monat vor der Wahl eine Diskussion über die strategische Weiterentwicklung der Partei in der Tat recht müßig ist, scheint bei den Piraten so weit Eintracht zu herrschen, dass Fragen der Organisation und nicht des Inhalts die Parteiseele am meisten beschäftigen. Die Bezirke zu fördern und die Bereitschaft der Vorsitzenden, die Parteibasis persönlich in den Bezirken zu besuchen, standen im Vordergrund.

Insgesamt wurde auf dem Parteitag so fleißig Basisdemokratie geübt, dass ein Mitglied dem Parteitag das Prädikat "nahezu entnervend demokratisch" beschied. Bislang leidet die positiv-dilettantische Jungpartei noch an Demokratitis und Transparenzokokken - und die Zukunft wird zeigen, ob diese Beschwerden aufgrund der Ambitionen von Polit-Karrieristen professionell ausgeschwitzt werden oder diesem Anfang auch weiterhin ein Zauber innewohnen wird.