War der Befehl zum Abwurf der Bomben falsch?

Bei der Explosion der Tanklaster in Afghanistan kamen laut Nato-Untersuchungsteam möglicherweise bis zu 120 Menschen ums Leben, darunter vermutlich auch Zivilisten. Update: Verteidigungsminister Jung räumt Fehler ein

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Auf der Webseite der Bundeswehr ist deren Welt noch in Ordnung: Die Bombardierung der Tanklastzüge vom vergangenen Freitag wird dort als erfolgreichreicher Einsatz gegen Aufständische gemeldet - „aufgeklärt und um 1.49 Uhr Ortszeit erfolgreich bekämpft“. Ein paar Zeilen weiter unten trifft das Auge des Lesers auf ein "US-Lob für Bundeswehr in Afghanistan". Isaf-Kommandeur Stanley A. McChrystal kommt hier zu Wort und lobt: „Die Deutschen leisten großartige Arbeit.“ Nach diesem Wochenende stimmen beide Meldungen nicht mehr so richtig mit der veränderten Realität überein.

Was für die Deutschen offenbar eine glasklares Ziel war, erscheint dem Untersuchungsteam der Nato nicht so, berichtete dagegen die Washington Post. Der Artikel fand sich gestern in großen deutschen Medien zitiert, gelesen wurde er auch im Bundesverteidigungsministerium. Er liefert neue Informationen zum Hergang des umstrittenen nächtlichen Luftangriffs auf zwei von den Taliban entführte Tanklaster. Diese Informationen stammen aus der allernächsten Nähe zum Nato-Fact-Finding-Team und sind mit scharfen Kommentaren des Nato-Kommandeurs McChrystal zum Bomben-Befehl des deutschen Oberst gewürzt.

Laut Zeitung hatten Berater McChrystals dem Reporter der Zeitung erlaubt, das Nato-Untersuchungsteam zu begleiten. Dem Isaf-Kommadeur war es offensichtlich wichtig, dass in diesem Fall unterschiedliche Wahrnehmungen möglichst laut werden. McChrystal wird im Artikel damit zitiert, wie ernst es ihm mit der Untersuchung der Affäre ist, bei der „möglicherweise unschuldige Afghanen ums Leben kamen oder verletzt wurden“. Zudem wird mehrmals die neue Richtlinie McChrystals ins Spiel gebracht. Darin geht es darum, genau solche Angriffe mit zivilen Opfern zu vermeiden. Solche Aktionen, die schon oft genug für böse Schlagzeilen und Verbitterung bei der Bevölkerung gesorgt haben, würden die Mission in Afghanistan gefährden, daher der Impuls zum Umdenken im amerikanischen Kommandostab. Nun wird alles sehr genau genommen. Das Timing der Bundeswehr ist ungünstig.

War der Befehl zum Abwurf der Bomben falsch, wie dies auch internationale Reaktionen unterstellen? Der Bericht mit dem General im Rücken suggeriert es. Es seien aller Wahrscheinlichkeit nach Zivilisten ums Leben gekommen, heißt es dort. Zitiert werden Zeugen und ein von der Explosion verletzter Junge in einem Krankenhaus. Das Nato-Untersuchungsteam schätzt die Toten auf 120, die Bundeswehr bleibt seit Freitag 15 Uhr bei ihrer Darstellung, wonach über „50 Aufständische getötet“ wurden und „Unbeteiligte vermutlich nicht zu Schaden (kamen)“.

Vorgeworfen wird dem befehlsgebenden Deutschen vor allem, dass er sich nur auf einen Informanten verlassen hat (das verstoße gegen die neuen Richtlinien), der die diffusen Punkte, die von einer Aufklärungskamera des Bombers in das Kommandozentrum übertragen wurden, allesamt als bewaffnete Taliban sehen ließ. Jeder, der sich zum Zeitpunkt der Bombardierung (der unterschiedlich angegeben wird, allem Anschein nach gegen 2 Uhr morgens), an diesem Ort befunden hat, war demnach ein Aufständischer. Der Lagebericht eines Informanten, der ihn via Telefon an deutsche Aufklärer mitteilte, stimmte laut Oberst Klein zu „100 Prozent“ mit dem überein, was ansonsten an Information da war.

“Mehrere Aufklärungsmittel“

Im „ansonsten“ liegt der entscheidende Streitpunkt. Die Washington Post, also das Nato-Untersuchungsteam, berichtet hier nur von den unscharfen über hundert Punkten auf den Bildschirmen, die nach dem Abwurf verschwunden waren: „numerous black dots around the trucks“ („jeder von ihnen eine Wärmebild eines Menschen, ohne dass ein Detail bestätigen könnte, dass sie Waffen tragen“). Die Deutschen führen dagegen noch andere Quellen, über die aber nichts weiter gesagt wird, ins Feld. So widerspricht der Sprecher des Verteidigungsministeriums dem zentralen Vorwurf, die Deutschen hätten sich nur auf eine Quelle verlassen. Die Situation sei „längere Zeit beobachtet worden“ und dabei seien „mehrere Aufklärungsmittel“ verwendet worden, wird Ministeriumssprecher Raabe etwa von der Zeit zitiert.

Das Verteidigungsministerium weiß es besser, darauf deuten auch die weiteren Aussagen von Raabe hin, wonach die Zahlen des Nato-Untersuchungsteams „nicht nachvollziehbar“ seien und man im Ministerium “weiterhin keine Erkenntnisse über getötete Zivilisten" habe. Das scheint aber eher einer militärischen Kardinalstugend, der Standhaftigkeit, geschuldet als einer präzisen, umsichtigen Analyse. Denn die Plausibilität in den Berichten der afghanischen Zeugen lässt sich nicht so leichter Hand vom Tisch wischen.

Auch wenn sie sich in den Motiven, weshalb sich Zivilisten nächtens an den Lastern zu schaffen machten, widersprechen. So heißt es einmal, dass sie in der Nacht von den Taliban zu Hilfe gerufen wurden, um den festsitzenden Laster zu befreien, zum anderen sollen Dorfbewohner informiert worden sein, dass sie am Laster Treibstoff abschöpfen könnten (in manchen Versionen soll dies auch mit dem ersten Motiv übereinstimmen, da der Laster leichter gemacht werden sollte).

Hätte man sie dann nicht zu einem späteren Zeitpunkt bombardieren können?

In der Wahrnehmung der Bundeswehr zählte vor allem das Gefahrenmoment für die eigene Militärbasis: Die Tanklaster hätten als Vehikel für einen mörderischen Selbstmordanschlag verwendet werden können. Doch wenn sie festsaßen, hätte man sie dann nicht zu einem späteren Zeitpunkt bombardieren können, bei Tageslicht, wenn die Situation besser zu erkennen war?

Richtig eifrig bei der Aufklärung war die Bundeswehr bis gestern nicht. Laut Washington-Post schickte man erst am späten Mittag des nachfolgenden Tages einen Aufklärungstrupp zum Ort des Geschehens. Und nur ganze sechs Zeilen hatte der Bericht, den die Deutschen über den Vorfall an das Nato-Hauptquartier weiterschickten. Selbstbewusste Lakonie oder eine Analyse, die auf einem eingeschränkten Blinkwinkel basiert?

Die Aussagen auf der politischen Ebene stimmen demgegenüber auch nicht zuversichtlich, was die Einsichtsfähigkeit von Spitzenpolitikern in komplexe Situationen angeht und die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind. Macht der Wahlkampf nicht nur die Wähler, sondern auch die Kanzlerin so müde, dass ihr neben pflichtschuldig abgelieferten Versprechen einer Untersuchung und Floskeln zur Unterstützung der Bundeswehrsoldaten nur ein Spruch einfällt, den man keinem Schüler nachsehen würde:

"Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern."

Das Diffuse an dem „erfolgreichreichen Einsatz gegen Aufständische“ bei Kunduz scheint aber auch die SPD-Spitze stumpf zu machen. Der ansonsten für seine Analysen geschätzte Müntefering holte angesichts des Plädoyers seines früheren Kanzlers für ein genaues Datum für das Ende des Afgahnistan-Einsatzes weit und grundlegend aus und verlor dabei jeden nachvollziehbaren Faden:

Alle wollen so schnell wie möglich raus, sie müssen sich ganz besonders anstrengen, um von sich selbst aus zivil in afghanischer Souveränität ihr Land in eine größere Sicherheit zu führen. Wann das dazu führt, dass man raus kann, das kann man heute nicht mit einem konkreten Jahr beschreiben.

Die Überforderung mit den komplizierten Verhältnissen in Afghanistan ist überall zu spüren, nicht nur bei der Bundeswehr.

Update:

Mittlerweile räumt Verteidigungsminister Jung ein, dass es dem Luftangriff auch Zivilisten zum Opfer gefallen sein könnten. Dem ZDF gegenüber soll er allerdings nochmals betont haben, "dass der überwiegende Anteil Taliban gewesen sind". Der Staatssekretär seines Ministeriums, Christan Schmidt wird mit einer Äußerung zitiert, die Zweifel an den afghanischen Quellen der Bundeswehr zu erkennen gibt, sie hätten sich demnach „nicht als hundertprozentig zuverlässig“ erwiesen.