"Die Information soll durch Propaganda ersetzt werden“

In Italien schießt Silvio Berlusconi auf alles, was noch nicht gleichgeschaltet wurde. Ein Interview mit dem Abgeordneten und Journalistengewerkschafter Giuseppe Giulietti von „Articolo 21“

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Journalisten waren für Silvio Berlusconi schon immer „Feinde der Menschheit“, haben viele von ihnen doch die unangenehme Eigenschaft für den „Cavaliere“, politisch oder persönlich negative Fakten in Erfahrung zu bringen und zu veröffentlichen. Insofern gehört die Auseinandersetzung mit kritischen und selbstbewussten Vertretern dieser Berufsgruppe seit langem zum Tagewerk des italienischen Multimilliardärs, Ministerpräsidenten und Medienmagnaten.

In den letzten Wochen haben seine Attacken auf führende un- und ausländische Presseorgane sowie die letzten oppositionellen Bastionen im einst von der KP und dann von der Mitte-Linken kontrollierten dritten Kanal der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt RAI jedoch den Charakter eines finalen Frontalangriffs angenommen, der selbst für italienische Verhältnisse ungewöhnliche Ausmaße besitzt.

Silvio Berlusconi. Bild: Presidenza della Repubblica

Jüngstes Opfer ist der Direktor der Tageszeitung der Bischofskonferenz (CEI), Dino Boffo. Der auch im laizistischen Lager hoch angesehene Chef des Avvenire trat am 3.September von seinem Posten zurück, nachdem der Direktor von Berlusconis Blatt il Giornale, Vittorio Feltri, ihn am 28.August in einem die komplette Titelseite füllenden Artikel als „polizei- und gerichtsbekannten Homosexuellen“ bezeichnet hatte. Angesichts der reaktionären Sexualmoral der katholischen Kirche ein tödlicher Vorwurf, den Feltri nach eigenem Eingeständnis aus einem anonymen Brief bezog und den Berlusconis Nachrichtenmagazin Panorama später mit angeblichen Auszügen aus Gerichtsakten zu untermauern versuchte. Demnach habe Boffo „einschlägige Treffpunkte frequentiert“ und vor acht Jahren (!) die Frau eines Mannes „belästigt“, zu dem er „eine homosexuelle Beziehung unterhielt“. Selbst wenn diese Vorwürfe stimmen sollten, zeigt unter anderem die Tatsache, dass dieser „Fall“ 2004 gegen Zahlung einer Geldbuße von 516 Euro (!) beigelegt wurde, die Dimension der „Verfehlung“.

Nach Angaben des der rechtspopulistischen Lega Nord angehörenden Innenministers Roberto Maroni enthält das erwähnte amtliche Dokument die darin genannten Vorwürfe allerdings überhaupt nicht. Dennoch warf Boffo nach einer Woche entnervt das Handtuch und reichte seinen Rücktritt ein, um sich und seine Familie vor einer Fortsetzung der Schlammschlacht durch die Schreiberlinge des FININVEST-Konzerns zu schützen, wie er in einem langen Offenen Brief darlegte. Sein eigentliches Vergehen: Unter seiner Leitung hatte der „Avvenire“ nicht nur die persönlichen Eskapaden des 72jährigen Regierungschefs, inklusive Escortservice und den fragwürdigen Beziehungen zu einer minderjährigen Neapolitanerin, sondern auch seine repressive Innen- und Flüchtlingspolitik, mitsamt der Bildung von Bürgerwehren sowie der Denunziationspflicht illegaler Einwanderer durch Lehrer, Ärzte und Kindergärtnerinnen, scharf kritisiert und mehr soziale Sicherheit für das Heer der Armen und Erwerbslosen eingefordert.

Möglicherweise hat sich Berlusconi bei seiner publizistischen und juristischen Herbstoffensive (die mitte-linken Tageszeitungen „l’Unità“ und „la Repubblica“ wurden von seinen Anwälten vor wenigen Tagen wegen des Stellens kritischer Fragen auf Zahlung von einer Million Euro Schadensersatz verklagt) allerdings verspekuliert. Das ohnehin belastete Verhältnis zur einflussreichen katholischen Kirche ist vollends im Eimer. Ein lange geplantes Schlichtungsgespräch mit dem Staatssekretär des Vatikans, Kardinal Tarcisio Bertone, wurde prompt abgesagt. Die Stellungnahmen des Klerus und der Laienverbände nehmen täglich an Schärfe zu. Aber auch Presse und Zivilgesellschaft sind in ihrer Verurteilung von Berlusconis Vorgehen einhellig. Am vorsichtigsten äußerte sich noch die Zeitung des Turiner FIAT-Konzerns „La Stampa“, die am 4.9.2009 in einem Leitartikel von „einer Niederlage für alle“ sprach. Sie schloss mit den Worten: „Die Demonstrationen von Stärke sind kein Zeichen von Sicherheit, wenn sie sich gegen Opfer richten, die im Vergleich sehr viel schwächer erscheinen, sondern verraten vielmehr, dass hier jemand in Schwierigkeiten steckt.“

Die linksunabhängige Tageszeitung il manifesto sah am 29.August einen „kopflosen Cavaliere“ wild um sich schlagen. Der ehemalige Sozialminister der Vorgängerregierung Prodi und Generalsekretär der Linkspartei Rifondazione Comunista, Paolo Ferrero, erinnerte daran, dass die aktuelle Offensive in fataler Weise der Strategie und den autoritären Zielvorstellungen der rechtsradikalen Geheimloge Propaganda Due-P2 gleiche (Liberazione vom 4.9.2009). Die Anfang der 80er Jahre aufgeflogene rechte Freimauererloge und ihr inhaftierter Großmeister Licio Gelli werden mit der so genannten „Strategie der Spannung“ der 70er Jahre und dem verheerenden Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2.August 1980 in Verbindung gebracht wird. Das heute einflussreichste Mitglied der P2 heißt Silvio Berlusconi.

Der Vorsitzende der 980.000 Mitglieder zählenden christlichen Laienorganisation ACLI, Andrea Olivero, sieht denn auch „hinter dem Angriff auf den Avvenire „einen gezielten Willen zur Einschüchterung“ („il manifesto“ 2.9.2009). Die französische Zeitung Le Monde sprach vom „Versuch, die Presse zu knebeln“, und der keineswegs linke britische „Daily Telegraph“ diagnostizierte eine „paranoide Pathologie Berlusconis, die über die nationalen Grenzen hinaus reicht.

Für den 19.September 2009 rufen nun die Einheitsgewerkschaft der italienischen Journalisten FNSI sowie die im Februar 2002 gegründete, linksliberale Vereinigung Articolo 21, die Autoren, Regisseure, Redakteure und Juristen vereint, zu einer landesweiten Demonstration in Rom auf. Neben dem Literaturnobelpreisträger Dario Fo und diversen linken Gruppen und Parteien hat sich auch der größte Gewerkschaftsbund CGIL (5,5 Millionen Mitglieder) der Initiative angeschlossen.

Giuseppe Giulietti

Über die Lage in Italien sprachen wir mit dem parteilosen Abgeordneten, ehemaligen RAI-Journalisten, Mediengewerkschafter und Vorstandsmitglied von Articolo 21, Giuseppe Giulietti (55).

Berlusconi wünscht ein Ende der negativen Nachrichten

In Italien scheint eine regelrechte Medienschlacht stattzufinden, wobei sich die Attacken von Silvio Berlusconi und seinen Leuten nicht mehr nur gegen mitte-links Blätter wie l'Unità und la Repubblica richteten, sondern zunehmend auch gegen führende Presseorgane der katholischen Kirche wie das Wochenmagazin „Famiglia Cristiana“ und die Tageszeitung der Bischofskonferenz „Avvenire“. Wie beurteilen Sie die Ereignisse der letzten Tage?

Giuseppe Giulietti:Man muss diese Angelegenheit von den vielen Details trennen, die damit verbunden sind. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass Berlusconi die Fassung verloren und einen schlichten Wutausbruch gegen die Presse gehabt hat. Meiner Ansicht nach ist das nicht der Fall. Dahinter steckt ein ganz nüchterner Plan, den Berlusconi schon lange ausgebrütet hat und der unabhängig von den Formen, in denen er daher kommt, jetzt dem finalen Projekt der beschleunigten Schaffung einer Präsidialrepublik mit "halb vereinten Netzwerken" entspricht und binnen kurzem vielleicht auch mit "vereinten Netzwerken".

Berlusconi ist ein Führer, der wahrscheinlich am Ende seiner Laufbahn angelangt ist und der, weil es ihm es nicht mehr gelingt, seinem sozialen Block (d.h. seiner gesellschaftlichen Massenbasis; Anm. d.Red.) als Regierungschef Antworten zu liefern, eine undurchsichtige und in Europa eher unbekannte Operation versucht: Die Politik mit Hilfe der Waffen, die ihm zur Verfügung stehen (das heißt der Kontrolle der Medienorgane und insbesondere der Fernsehsender) komplett durch Propaganda zu ersetzen.

Das wäre nichts völlig Neues.

Giuseppe Giulietti: Es gibt allerdings eine Beschleunigung in dieser Richtung, die nicht unterschätzt werden sollte. In der Vergangenheit lautete das Schema, mit dem Berlusconi jeden Kritiker delegitimierte: Meine Feinde sind alles Rote und Kommunisten. Ich leite den Angriff auf die Kommunisten und schmeiße "rote" Journalisten und Drehbuchautoren raus, die mich ärgern. Das Neue ist, dass er jetzt noch vor den Direktoren der Zeitungen einige soziale Themen, die sozialen Subjekte, die sie repräsentieren, sowie die Zeitungen, die diese Themen auf unterschiedliche und oftmals milde Weise behandeln, mit auf seine Feindesliste, auf die Liste der "Abweichler" und "Abartigen" setzt.

Ein Beispiel: Es ist klar, dass Berlusconi den Sender RAI 3 und dessen Tagesschau TG 3 als Feinde betrachtet. Aber was hat ihn vor Wut grün und blau werden lassen und den Angriff ausgelöst? Einmal, dass TG 3, vielleicht vollkommen zufällig, beschlossen hat, die Fabrikbesetzung der INNSE-Arbeiter in Mailand und die neuesten Arbeitslosen- und Konjunkturzahlen des Nationalen Statistikinstituts ISTAT als Aufmacher zu nehmen. Am Tag darauf ist Berlusconi fuchsteufelswild und erklärt, dass jetzt so getan werde als sei nichts gewesen und er es nicht mehr ertragen könne. Die Nachrichtensendung TG 3 wird zum Feind, der die Krise repräsentiert, ja sogar noch versucht sie zu verschärfen.

Der "Avvenire" ist sicher keine Zeitung, die gegen den Ministerpräsidenten eingestellt ist. Sie hat ihm sogar bei seinem Wahlsieg geholfen. Wieso wird sie zum Feind? Nicht weil sie sich auf Berlusconis Privatleben bezieht, sondern wegen der Entscheidung den illegalen Aufenthalt zum Verbrechen zu machen. In dem Moment, in dem "Avvenire" schreibt, dass der Straftatbestand der illegalen Einwanderung das eigentliche Übel sei, berührt sie eines der Themen, die Berlusconis Bündnis mit der Lega Nord zementiert und wird zu einem Gegner. Genauso bei "Famiglia Cristiana", wenn die das Thema der Armenküchen aufgreift.

Meines Erachtens hat Berlusconi diese "Herbstoffensive" vorbereitet, um RAI 3 zum Schweigen zu bringen und hat sogar noch zwei Hanseln aus der Mitte-Linken gefunden, die sich dafür einspannen ließen und sich seinen Bedingungen fügten. Nach dem Motto: "Entweder akzeptiert Ihr, was ich sage, oder ich ernenne die entsprechenden Funktionsträger auch für RAI 3 mit Hilfe meiner Parlamentsmehrheit." Hier wird der Versuch unternommen, auch den letzten verbliebenen Raum für andere Meinungen zu beseitigen. Ein Angriff, der Themen betrifft, die er nicht mehr vertreten sehen will. Das hat er vor einigen Monaten ausdrücklich gesagt. Er will im Fernsehen keine Meldungen mehr sehen, die Armut oder die wirtschaftliche und soziale Krise betreffen und all das, was "Beklemmung" auslösen kann. Die Propaganda soll alle Teile der Information überschwemmen.“

Aber läuft er bei Fragen wie den Migranten nicht Gefahr in Auseinandersetzungen mit dem sozialen Block der Basiskatholiken zu geraten?

Giuseppe Giulietti: Genau da verläuft die Grenze dieser seiner Aktion. Einerseits versucht er eine Demonstration extremer Stärke. Andererseits ist da das Problem, mit dem Berlusconi nicht fertig wird und mit dem er den Bruch riskiert. Von seinem Standpunkt aus sollte man den Mantel des Schweigens über alles ausbreiten, was ihm nicht gefällt. Aber gerade weil eine ökonomische und soziale Krise real vorhanden ist, betrifft das, was ihm nicht gefällt, nicht nur jene, die er als die "Roten" bezeichnet, sondern Millionen Italiener, inklusive jener, die sich als gemäßigt verstehen oder sogar viele der Menschen, die ihn gewählt haben. Das ist das große Limit der extremen Karte, die er derzeit ausspielt.“

Berlusconi darf man nicht unterschätzen

Kann es passieren, dass er aus diesem Kräftemessen geschwächt oder gar als Verlierer hervorgeht?

Giuseppe Giulietti: Ich würde seine Fähigkeit sich außerhalb der Regeln zu bewegen und die ziemlich trübe Situation, in der wir uns befinden, nicht unterschätzen. So haben zumindest die großen Vertreter der Arbeiterbewegung in der Vergangenheit jene nicht sehr klaren sozialen Passagen genannt, bei denen alle Ergebnisse möglich sind – ein positives genauso wie eines das die Lage paradoxerweise noch verschlimmert. Berlusconi darf man nicht unterschätzen, weil er ein Mann und ein Politiker ist, der nicht den gewohnten Ritualen folgt. Einer, der aus dem Rahmen fällt und entschlossen ist alle Karten auszuspielen – den Verfassungsbruch inklusive. Man muss berücksichtigen, dass das Parlament im Wesentlichen bereits geschlossen ist. Die Entscheidungen trifft er mit Hilfe der Regierungsmehrheit und um ganz sicher zu gehen, stellt er in der Regel die Vertrauensfrage.

Aber ist die eigentliche Ursache für die jetzige Lage nicht die Tatsache, dass auch bei anderen Mehrheiten im Grunde niemals ein Gesetz über den Interessenkonflikt verabschiedet wurde und man zugelassen hat, dass sich in Italien eine Situation entwickelte, die in den westlichen Demokratien ziemlich einzigartig ist?

Giuseppe Giulietti: Ja. Jetzt wird klar, was für ein schwerer Fehler bei der Beurteilung des Interessenkonfliktes gemacht wurde. Es handelte sich nicht um eine Frage des Überbaus bzw. um ein letztlich wirkungsloses Epiphänomen. Auf diesem Weg hat Berlusconi Gift in die Arterien der Gemeinde gepumpt und die Wahrnehmung der Gesellschaft verändert. Nur in Italien konnte ich Artikel und sogar Bücher lesen, die behaupteten, Fernsehsender würden das Wahlverhalten nicht beeinflussen. Es gibt einen ganzen Hofstaat von Kommentatoren und Intellektuellen, die Essays verfasst haben, über die man sich ausschütten kann vor Lachen. Das ist es, was nicht zur Kenntnis genommen wurde, was man für ein Problem der zuständigen Sachbearbeiter gehalten hat oder eine Forderung von Leuten, die zu sehr an der Verfassung kleben.“

Trotz der Verschlechterung der gesellschaftlichen Situation versucht Ihr jetzt zusammen mit anderen Organisationen und Verbänden eine Gegenoffensive. Welchen Erfolg kann die für den 19.September geplante zentrale Demonstration in Rom haben?

Giuseppe Giulietti: Eine gewisse Abstumpfung ist unverkennbar, dennoch würde ich sagen, die gesellschaftlichen Bedingungen für diese Aktion sind vorhanden. Es ist allerdings besser, wenn sie nicht von einer Partei ausgeht. Die Linke ist sehr zerstritten. Die Initiative eines Teils von ihr würde vom anderen Teil boykottiert. Es ist das Beste, dass die Demonstration von der FNSI, von Wirtschaftswissenschaftlern, von der linken Kulturdachorganisation ARCI und vom Verband der Christlichen Arbeiter Italiens (ACLI) organisiert wird und auch Kulturschaffende von Kino und Theater daran beteiligt sind. So kann es gelingen, dass ein breites Netzwerk von Gruppen und Organisationen zustande kommt und auch der Bereich der prekär Beschäftigten aus der Kulturszene einbezogen wird.

Berlusconi hat klar gemacht, was er vorhat und zu verstehen gegeben, dass er dabei auch auf die heimtückischste Weise vorgehen wird. Es genügt nicht, sich darüber zu empören. Man muss eine Antwort auf der Straße organisieren.