Auf unbegrenzte Zeit unter Verschluss

Interview mit Regine Igel zum Fall Verena Becker und zum Geheimdiensteinfluss auf den Terrorismus der 1970er Jahre in Deutschland und Italien

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Regine Igel stieß als Italienkorrespondentin in den 1980er und 1990er Jahren nicht nur auf Verbindungen zwischen Politikern und dem Organisierten Verbrechen, sondern auch zwischen Geheimdiensten und Terroristen. Bei ihren Recherchen fand sie unter anderem Anhaltspunkte dafür, dass entsprechende Strukturen auch in der deutschen Rote Armee Fraktion vorhanden gewesen sein könnten.

Frau Igel - Bundesinnenminister Schäuble hat den Antrag der Bundesanwaltschaft zurückgewiesen und entschieden, dass die Akten zum Mord am früheren Generalbundesanwalt Buback zwar eingesehen, aber nicht vom Gericht verwertet werden dürfen. Hat Sie diese Entscheidung überrascht?

Regine Igel: Nein. Dass es in diesem Fall große Geheimnisse gibt, ist ja schon seit einer ganzen Weile deutlich geworden. Nur weil jetzt Michael Buback und einige Journalisten in letzter Zeit eine Öffnung der Akten entschieden fordern, ist der Staat natürlich noch lange nicht bereit, seine Geheimnisse preiszugeben.

Welche Geheimnisse könnten das sein?

Regine Igel: Ich komme ja aus der italienischen Welt und habe zum deutschen Terrorismus wenig gearbeitet. In Italien ist sehr viel mehr bekannt geworden, weil die Justiz sehr viel mehr aufgedeckt hat. Die Staatsanwaltschaft in Italien ist ja unabhängiger als in Deutschland. Und dort weiß man, dass der Staat im Terrorismus die Finger doch sehr mit im Spiel hatte - also konkret Täter gedeckt oder eigene Agents provocateurs eingeschleust und über diese Waffen- und Sprengstoff geliefert hat. Man weiß, dass die gesamte Riege der Rotbrigadisten den Behörden schon sehr früh - 1973/74 spätestens - bekannt war. Wenn man nur gewollt hätte, hätte man alle verhaften können. Das sagte ein Politiker vor Gericht aus. Nicht anders ist das bei den anderen linksterroristischen Organisationen in Italien.

Und man weiß inzwischen eben auch, dass es Interessen gab, über den Terrorismus eine bestimmte Unruhe im Staat zu halten - beziehungsweise die Bewegung, die Mitte der 1960er Jahre unter den Studenten und Arbeitern in der westlichen Welt begonnen hatte, auch die Befreiungsbewegungen in der 3. Welt und die Dissidenten im Osten unter Kontrolle zu halten. Man wusste nicht, wo das alles enden mag und welcher Weg dort eingeschlagen wird und wollte präventiv tätig werden. In Italien wurde ja im staatlichen Untergrund auch die Möglichkeit erwogen, eine Militärdiktatur (wie damals in Griechenland, in Spanien und in Portugal) zu errichten, wenn es denn nötig werden würde.

Man kann den gesteuerten und gedeckten Terrorismus nur aus der konkreten historischen Situation des Kalten Krieges heraus verstehen. Dann findet man einige Schlüssel. In Italien wird sehr viel offener mit Geheimdienstangelegenheiten umgegangen, daher weiß man dort sehr viel mehr. Es ist aber keineswegs alles herausgekommen. Auch dort sind es nur Bruchstücke. Aber aus diesen Bruchstücken kann man sehr viel schließen.

Warum sind italienische Staatsanwaltschaften unabhängiger als deutsche?

Regine Igel: Sie sind nicht weisungsgebunden. In Deutschland ist die Staatsanwaltschaft dem Vorgesetzten untergeordnet - und das ist der jeweils regionale Justizminister. Das ist in der Verfassung so festgehalten. Insofern kann die Politik sagen, dass zu diesem oder jenem Punkt nicht ermittelt wird. Das wird sie natürlich nicht so offen tun: Es gab da vor einigen Jahren einen schönen aufklärerischen Dokumentarfilm, Maulkorb für den Staatsanwalt, der zeigt, mit welchen feinen Methoden der Staat und seine jeweiligen Vertreter vorgeht. Dazu gehört auch der vorauseilende Gehorsam - dass man weiß, wenn man zu verstehen bekommen hat, dass Ermittlungen zu einem bestimmten Punkt nicht erwünscht sind. Und dass Maßnahmen folgen, wenn man dann trotzdem weitergeht.

Gibt es im italienischen Strafrecht ein Äquivalent zum § 96 der Strafprozessordnung, der es dem Bundesinnenminister als oberstem Dienstherrn von Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz erlaubt, Akten in Strafverfahren einfach deshalb sperren zu lassen, weil das "Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten und Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde"?

Regine Igel: Ja, das gibt es dort auch. Ich denke, das hat jeder Staat. Damit schützt er sich, wenn er meint, selbst die Gesetze brechen zu müssen. In Italien war das Zauberwort immer die Staatsräson. Das heißt, dass zum Schutz des Staates und bestimmter Personen, die im Auftrage des Staates die Gesetze brechend tätig waren, bestimmte Sachen nicht aufgedeckt werden. Insofern gibt es natürlich immer noch Geheimnisse. Es ist ja nicht so, dass in Italien alles komplett aufgedeckt worden ist. Aber es ist immerhin so viel aufgedeckt worden, dass man einiges daraus schließen kann und dass hohe Geheimdienstfunktionäre für ihre kriminelle Tätigkeit verurteilt werden konnten.

Aus dem Innenministerium hieß es, wenn die Bundesanwaltschaft Unterlagen verwerten wolle, dann werde man "prüfen, ob die für eine wirksame nachrichtendienstliche Tätigkeit des Verfassungsschutzes bei der Gewinnung und Führung von Quellen unerlässliche Vertraulichkeit ausnahmsweise zurückgestellt werden kann". Glauben Sie, dass dabei etwas herauskommen wird?

Regine Igel: Eher nicht. Das ist dasselbe Spiel. Man zeigt sich offen und demokratisch, weiß aber genau, dass da bestimmte Sachen drinstehen, die das Volk, die Öffentlichkeit und die Justiz nicht wissen dürfen. Man muss ja immer auch bedenken: Wenn in Terrorangelegenheiten herauskommt, dass Personen aus Staatsstellen verantwortlich waren, dann ist das ja immer noch ein Straftatbestand. Da geht es nicht nur um die Staatsräson, die das Volk vor allzu bösen Nachrichten schützen muss, sondern es müssen natürlich auch konkrete Verantwortliche geschützt werden. Das gilt übrigens auch für Stasi-Funktionäre, die im Terrorismus tätig waren.

Gibt es Anhaltspunkte dafür, was eine Gerichtsverwertung der Akten ans Licht bringen könnte?

Regine Igel: Ich kann da nur von Italien her auf Deutschland schließen, um nicht einfach etwas ins Blaue hinein zu vermuten. Es gibt allerdings sehr viele Parallelen, weil Italien und Deutschland ja die Frontstaaten im Kalten Krieg waren. In Deutschland war der Ostblock gleich nebenan und in Italien mit der im Westen einmalig starken PCI, der kommunistischen Partei im Landesinneren selbst sehr präsent. Die Maßnahmen, die in den beiden Ländern geheimpolitisch durchgesetzt wurden, sind sehr ähnlich. Das hat sogar der 2. Mann des militärischen Geheimdienstes vor Gericht eingeräumt. Dieser Gianadelio Maletti ist selbst (allerdings in Abwesenheit, da er sich 1980 nach Südafrika abgesetzt hat) zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Die westlichen Geheimdienste haben sehr eng zusammengearbeitet, das ist alles bekannt. Und hochbrisant - es gab offensichtlich auch eine Zusammenarbeit zwischen Osten und Westen. Man stellt ja jetzt in Deutschland mehr und mehr fest, dass eine ganze Menge Mitglieder der RAF oder der Revolutionären Zellen oder der Bewegung 2. Juni Kontakte mit der Stasi hatten. Es sind inzwischen (einschließlich der zehn, die in der DDR untergekommen sind) 23 - also eine sehr hohe Zahl. In der italienischen Justiz sprach man mit den ersten Aufdeckungen Anfang der 80er Jahre sogar von der "RAF sovietica". Es gibt viele Hinweise, dass es eine Deckung von Westseite für die Förderung des Terrorismus durch die Stasi gab.

Und was die Stasi in Deutschland war, das war für Italien der tschechische Geheimdienst. In der Tschechoslowakei wurden Rotbrigadisten schon seit Mitte der 60er-Jahre paramilitärisch ausgebildet und gingen anschließend geheimdienstlich in die Roten Brigaden. Das sind inzwischen klare und erwiesene Erkenntnisse.Wenn man diesen Bereich einmal aus Italien kennt, wo eben sehr viel entschiedener in den Staatsanwaltschaften und in den Parlamentskommissionen ermittelt wird (gerade die Parlamentskommissionen haben sehr viel aufgedeckt und der Öffentlichkeit verfügbar gemacht, während in Deutschland solche parlamentarischen Untersuchungsergebnisse nicht öffentlich gemacht werden), dann kann man Rückschlüsse ziehen, dass man die Indizien, die man jetzt alle hier bekommt, auch auf Deutschland übertragen kann. Natürlich mit aller Vorsicht, aber als ermittlungstechnische Thesen sind sie durchaus verwendbar.

Sie haben vor zwei Jahren Michael Buback, den Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, über einen möglichen Hintergrund zum Mord an seinem Vater informiert. Danach könnte Siegfried Buback dabei gewesen sein, dahinter zu kommen, dass Geheimdienste möglicherweise lange vor seiner Enttarnung über den Kanzlerspion Günther Guillaume Bescheid wussten, aber ihr Wissen zurückhielten, um es im richtigen Moment einsetzen zu können. Danach hätte es also ein Motiv gegeben, den Mord an Buback trotz der vielleicht über Becker bekannten Anschlagspläne ebenso geschehen zu lassen wie den Mord an Aldo Moro.

Regine Igel: Ja, das kann man wieder so schließen. Aldo Moro ist allerdings ein sehr viel komplexerer politischer Fall, weil der eine Regierungsbildung mit den Kommunisten zusammen plante. Da waren sowohl der Westen als auch der Osten strikt dagegen, weil das ein Unsicherheitsfaktor im Gleichgewicht der Kräfte war. Man befürchtete, dass sich Italien möglicherweise zum Ostblock schlägt, oder dass Italien die NATO verlässt. Es waren Schreckensszenarien für beide Seiten, und sie haben seinerzeit auch beide angekündigt und deutlich gemacht, dass sie geheimdienstlich diese große Koalition zwischen Kommunisten und Christdemokraten verhindern wollten. Das war ein sehr dramatischer Fall.

Bei Buback hingegen weiß ich auch nicht mehr, als das, was ich seinerzeit in meinem Buch darüber geschrieben hatte - also das, was in Italien darüber kursierte. Es konnte mir auch bisher niemand konkrete Auskünfte zum Fall Buback geben. Aber Michael Buback ist ja inzwischen selbst tätig geworden und hat festgestellt, dass sein Vater sein Augenmerk sehr auf Spionagefälle gelegt hatte. Und er ist dort offensichtlich im Fall Guillaume auf Geheimnisse gestoßen, die Geheimpolitik waren und nicht herauskommen sollten.

Michael Buback meinte diese Woche, in den von Schäuble zurückgehaltenen Akten würde möglicherweise nicht drinstehen, wer konkret geschossen hat - aber sie könnten für den Mordfall interessante Erkenntnisse dazu enthalten, ab welchem Zeitpunkt Verena Becker mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet hat. Haben Sie darüber Erkenntnisse, wann das gewesen sein könnte? Michael Buback geht ja davon aus, dass das bereits 1974 gewesen sein könnte.

Regine Igel: Es gibt ja diese Stasi-Akten, die jetzt auch schon öfter zitiert wurden. Darin heißt es, dass Verena Becker durch den westdeutschen Verfassungsschutz "kontrolliert wird". Da stellt sich natürlich die Frage, was das genau heißt. Vielleicht heißt das nur "beobachtet", vielleicht bedeutet das aber auch, Kontrolle zu haben und eng zusammen zu arbeiten. Das ist ja sozusagen das Maximum an Kontrolle.

Was könnte Ihrer Ansicht nach sonst noch Interessantes in den Akten stehen?

Regine Igel: Es gibt ja Akten, die im Stuttgarter Staatsarchiv bis zum Jahr 2060 unter Verschluss stehen. Da müssen also ungeheure Sachen drinstehen - wie soll man sich sonst erklären, dass etwas bis 2060 unter Verschluss stehen muss? Und diese Akte Verena Becker, um die es jetzt aktuell geht, ist ja auf unbegrenzte Zeit verschlossen. Ich weiß nicht, ob diese Anordnung von Schäuble kommt, aber er hat sie jedenfalls bereits vor einiger Zeit bestätigt. Für meine Begriffe steht da drin, dass sie möglicherweise nicht nur eine West-, sondern auch eine Doppelagentin war, in jedem Fall aber, dass sie schon früh für den Verfassungsschutz tätig war. Der Journalist Udo Schulze hat im Aktenstudium des Urteils des Becker-Prozesses von 1978 entdeckt, dass die Becker bei ihrer Festnahme in Singen 1977 200 Ostmark in der Hosentasche hatte. Da dieses Geld im Westen Deutschlands überhaupt keinen Nutzen hatte, ist das doch ein nicht unwesentliches Indiz, dass die Becker Kontakte zum Osten hatte, entweder gerade da war oder demnächst hinfahren wollte. Interessanterweise spielt dieses Indiz heute nicht mehr die geringste Rolle. Obwohl doch eigentlich früher immer alles Böse aus dem Osten kam.

Wie soll man sonst erklären, dass bestimmte Beweismittel einschließlich Zeugen von Seiten der ermittelnden Behörden unterdrückt werden. Das ist so auffällig: Diese Zeugen, die alle eine schlanke, kleine Frau auf dem Rücksitz des Motorrades, von dem aus geschossen wurde, gesehen haben, werden alle unter den Tisch gefegt. Da liegt schon sehr nahe, dass da eine Täterin - oder auch ein kleiner, schmal gebauter Täter - in keinem Fall herauskommen soll. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir das nie definitiv erfahren, sondern alle irgendwann von dem Fall ablassen werden, weil ihn eine Mauer umgibt, die nicht durchdrungen werden soll. Es sei denn, es würde mal jemand vom direkten Täterkreis anfangen zu sprechen.

Weitere Bücher von Regine Igel:
Silvio Berlusconi. Eine italienische Karriere. Rastatt: Pabel-Moewig 1990.
Andreotti. Politik zwischen Mafia und Geheimdienst. München: Herbig 1997.