Wer arm ist, stirbt früher

Ein Jahrhundert hat daran nicht viel verändert, selbst die Wohnorte sind gleich geblieben, so ein britischer Wissenschaftler

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Obwohl die Lebenserwartung im Laufe der letzten 100 Jahre drastisch höher wurde und Sterblichkeit in jungen Jahren ebenso drastisch zurückgegangen ist, während die Gesundheitsversorgung besser wurde und Wirtschaft und Gesellschaft sich stark verändert haben, hat sich an dem Zusammenhang zwischen Armut und geringerer Lebenserwartung selbst wenig geändert.

Das ist zumindest das Ergebnis einer im Britisch Medical Journal erschienenen (open access) Studie des Sozialwissenschaftlers Ian Gregory von der Lancester University. Darin wird Armut und Mortalität in England und Wales vor 100 Jahren mit der Situation heute verglichen. Dazu nutzte er Sterberegister zu Beginn des 20. Jahrhunderts von 634 Bezirken, um sie direkt mit den Daten zu vorzeitigen Todesfällen und Armut im Jahr 2001 zu vergleichen.

Die Unterschiede im Hinblick auf die Mortalität sind frappant. 127 Sterbefälle wurden zwischen 1901 und 1911 pro 1000 Geburten registriert, 2001 waren es nur noch 5,4. 33 Prozent der Todesfälle ereigneten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Kindern unter 5 Jahren, nur 13 Prozent waren Menschen über 75 Jahre. 2001 waren 65 Prozent der Todesfälle Menschen über 75, Kinder unter 5 Jahren waren nur 1 Prozent. Auch die Lebenserwartung ist stark gestiegen. Bei Männern von 46 auf 77 und bei Frauen von 50 auf 81 Jahre. Für beide Geschlechter ist damit die Lebenswartung um 31 Jahre gestiegen! Todesursachen waren vor 100 Jahren vorwiegend Krankheiten der Atemwege (Bronchitis, Lungenentzündung etc.), Infektionskrankheiten und Parasiten (Masern, Durchfall etc.), 2001 starben die Menschen primär an Krebs, Herzerkrankungen und Schlaganfällen.

Auch die Armut veränderte sich. Vor 100 Jahren hatte man nicht einmal genug, um zu leben, 2001 handelt es sich um relative Armut von Menschen im Vergleich zur Gesellschaft. Sie haben zwar das Notwendige zum Leben, aber zu wenig, um am normalen Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Gregory ging von den Kennzeichen einer relativ armen Wohngegend aus: niedrige soziale Klasse, überfüllte Wohnungen (mehr als 1 Person pro Zimmer), hohe Arbeitslosigkeit bei Männern und Haushalte ohne Auto. Vor 100 Jahren wurden bis auf das Kriterium der Haushalte ohne Autos die drei anderen zugrunde gelegt. Als überfüllte Wohnungen galten solche mit mehr als 1,5 Personen pro Zimmer. Die soziale Klasse lässt sich anhand von Beschäftigungsdaten vermuten, nämlich die Zahl von männlichen Beschäftigten über 10 Jahren in Jobs, die keine Ausbildung voraussetzen. Für die Arbeitslosigkeit gibt es keine Zahlen. Gregory legte die Zahl der Menschen in den Arbeitshäusern zugrunde, die dort waren, weil sie sich nicht selbst ernähren konnten.

Grafik: Gregory/BMJ

Gregory teilte die Bevölkerung derselben Bezirke in fünf soziale Schichten, die jeweils 20 Prozent umfassen, für den Anfang des 20. Jahrhunderts und 2001. Danach stimmen die Armutszonen in etwa überein. Die höchste Armut findet sich in den städtischen und industrialisierten Gebieten, die allerdings größer geworden sind. Die Mortalitätsraten sind nach den Daten auch in etwa gleich geblieben, allerdings ist die Sterblichkeit in einigen ländlichen Gebieten 2001 höher als vor 100 Jahren. So war die Mortalitätsrate der 10 Prozent der Bevölkerung, die in den Gebieten mit der höchsten Mortalitätsrate lebten, um 1,79 höher als bei den 10 Prozent, die in den Gebieten mit den niedrigsten Mortalitätsraten lebten. 100 Jahre zuvor lag der Wert bei 2.05. Die Mortalitätrate in den Gebieten mit dem ärmsten Zehntel der Bevölkerung lag 2001 um 1,36 Mal höher als in den wohlhabenden Gebieten, vor 100 Jahren war sie 1,39 Mal höher.

Die relative Verbindung von Mortalität und Armut in bestimmten Gebieten ist also über 100 Jahre ähnlich geblieben, so dass sich heute aus dem Wohnort die Lebenserwartung statistisch ableiten lässt, auch wenn die geografische Ungleichheit geringfügig zurückgegangen ist. Die heutigen Krankheiten, an denen die Menschen vorzeitig sterben, könnten auch eine Verbindung zu den ungesunden Lebensbedingungen der Menschen 100 Jahre zuvor haben, vermutet Gregory. So wird in ärmeren Gebieten auch stärker geraucht, weswegen dort die Lungenkrebserkrankungen häufiger sind.