Ostseepiraterie oder Waffenschmuggel?

Der seltsame Fall der Arctic Sea beschäftigt nicht nur die Geheimdienste. Hatte das Schiff Flugabwehrraketen für den Iran an Bord?

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„Gottes Freunde, aller Welt Feinde“ – unter dieser Losung verunsicherten die Vitalienbrüder einst von ihrer Operationsbasis Gotland aus die christliche Seefahrt in der Ostsee. 1398 vertrieben die Deutschritter die Freibeuter von Gotland und seitdem herrschte vor der Insel Ruhe – zumindest bis zum 24. Juli 2009. An diesem Tag sollen acht bewaffnete Ostseepiraten von einem Schlauchboot aus den Holzfrachter Arctic Sea geentert haben. Piraterie direkt vor der schwedischen Küste, einem lückenlos überwachten und dicht befahrenen Seegebiet?

Vollends mysteriös wird die „Kaperfahrt“ der Arctic Sea jedoch erst nach dem mutmaßlichen Piratenüberfall. Das Schiff fährt seelenruhig durch Kattegat und Skagerrak in den Ärmelkanal und verschwindet dann wie von Geisterhand von den Radarschirmen. Russland alarmiert seine Marine und seine Geheimdienste und drei Wochen später wird die Arctic Sea von einem Prisenkommando der russischen Marine aufgebracht. Russische Behörden versprechen bereits am nächsten Tag eine transparente und lückenlose Aufklärung, tun aber alles in ihrer Macht stehende, um eine öffentliche Aufklärung zu verhindern. Der Fall Arctic Sea ist ein Meer voller Ungereimtheiten.

Ein Holzfrachter sticht in See

Am frühen Morgen des 22. Juli sticht die Arctic Sea vom finnischen Pietarsaari (Jakobstad) aus in See. Das Schiff fährt unter maltesischer Flagge und wurde von der finnischen Reederei Solchart, die sich in Besitz dreier russischer Geschäftsmänner befindet, gechartert. Den Papieren zufolge sollte die Arctic Sea eine Ladung finnischen Holzes ins algerische Bejaja transportieren.

Was die Arctic Sea wirklich geladen hatte, ist jedoch unklar. Vor der Ladungsaufnahme in Finnland war das Schiff für zwei Wochen zu einem Werftaufenthalt in der russischen Enklave Kaliningrad, in der auch ein bedeutender russischer Militärstützpunkt beheimatet ist. Zeugen berichten jedenfalls, dass die Arctic Sea vor ihrer Ankunft in Finnland bereits einen merklichen Tiefgang hatte, woraus man schließen könnte, dass das Schiff nicht unbeladen zur Holzaufnahme in Pietarsaari einlief.

Russischen Angaben zufolge soll das Schiff dann zwei Tage später vor der schwedischen Insel Gotland von acht bewaffneten Piraten geentert worden sein. Die Herren Freibeuter sollen aus dem fernen estnischen Pärnu mit einem Schlauchboot gestartet sein. 260 Seemeilen, mithin rund 26 Stunden, quer durch die Ostsee und das ohne seemännisches Vorwissen? Vor Gotland sollen diese Teufelskerle dann den Frachter geentert haben – so professionell und geschwind, dass weder Mannschaft, noch Kapitän ein Notrufsignal oder einen Hilferuf per Handy tätigen konnten. Stattdessen umrundete das Schiff in aller Seelenruhe Dänemark, fuhr in den Ärmelkanal, wo es sich auch noch mit zwei Schwesterschiffen traf, und nahm am 28. Juli Kurs auf die Biskaya.

Die Arctic Sea verschwindet

In den Tagen danach muss jedoch etwas Besonderes passiert sein, denn plötzlich verschwand die Arctic Sea von den Bildschirmen. Das bordinterne Positionssystem AIS wurde ausgeschaltet, auf Funksprüche reagierte man nicht, und anscheinend übermalte man sogar den Schiffsnamen. Entgegen anders lautender Meldungen wusste die NATO jedoch jederzeit sehr genau, wo sich die Arctic Sea befand. Offensichtlich ahnte man an Bord nicht, dass die nun von allen Stellen gestreute Piratengeschichte bereits zum Politikum geworden war. Präsident Medwedew erklärte die Affäre nun zur Chefsache und setzte sowohl den Inlandsgeheimdienst FSB, als auch den Militärgeheimdienst GRU auf die Arctic Sea an. Gleichzeitig machten sich zwei russische Atom-U-Boote und mindestens eine Fregatte und drei Landungsschiffe der Schwarzmeerflotte, die sich zu diesem Zeitpunkt kurz vor Gibraltar im Mittelmeer befanden und Kurs auf die Ostsee hatten, auf die Suche nach der Arctic Sea.

Am 12. August traf der russische Flottenverband angeblich in der Biskaya ein und startete eine zweitägige Suche. Während die drei Landungsschiffe am 14. August die Suche abgebrochen haben, nahm die Fregatte Ladniy an diesem Tag plötzlich Kurs auf die Kapverden. Am 18. August konnten die Russen den „fliehenden“ Holzfrachter aufbringen – 300 Seemeilen nördlich der Kapverden. Der FSB sorgte sogleich dafür, dass die Mannschaft und die „Piraten“ auf der kapverdischen Insel Sal in russische Obhut genommen und wenig später zur Befragung nach Russland geflogen wurden. Der Umstand, dass dafür gleich zwei riesige Frachtflugzeuge vom Typ Iljuschin Il-76 eingesetzt wurden, lässt vermuten, dass die Ladung ebenfalls gelöscht wurde – und die Ladung bestand wahrscheinlich nicht aus finnischem Holz.

Vorhang auf für die Piraten

Hölzern wirkte jedoch die Inszenierung der Piraten - acht stiernackige, großflächig tätowierte Kleinganoven russischer Herkunft wurden der Weltpresse vorgeführt. Muss man sich so moderne Ostseepiraten vorstellen? Nach Angaben der Verteidigung waren die acht Muskelmänner Umweltschützer, die zu einer Übungsfahrt ausliefen, um ein Navigationssystem zu testen, dann in Seenot gerieten und vom Kapitän der Arctic Sea widerrechtlich an Bord festgehalten wurden. Der Verkäufer des Navigationssystems wird sich nun einiges von den „Umweltschützern“ anhören müssen.

Ein maltesisches Schiff einer finnischen Reederei, das in schwedischen Gewässern „entführt“, und in französischen Gewässern „verschwunden“ ist – eine EU-Angelegenheit, so sollte man meinen. Aber nicht die EU, sondern Russland setzte alle Mittel in Bewegung, um den Holzfrachter mit seiner – laut Papieren – leidlich wertvollen Ladung in seine Gewalt zu bringen. An den fünfzehn russischen Seemännern an Bord der Arctic Sea lag dieser seltene Fall von Mütterchen Russlands Fürsorge sicherlich nicht.

Russische Raketen hinter finnischem Holzfurnier für den Iran?

Israelische, russische und europäische Geheimdienstquellen sind sich in einem Punkt einig – an Bord der Arctic Sea waren Raketen, die vermutlich bei dem Werftaufenthalt in Kaliningrad an Bord des Schiffes gebracht und in den Zwischenböden verschweißt wurden. Diese Vermutung wird auch vom EU-Pirateriebeauftragten und ehemaligen estnischen Admiral Tarmo Kouts in einem Interview mit dem Time Magazine geteilt. Es gäbe keine andere plausible Erklärung für die ganze Geschichte – an Bord seien russische Raketen gewesen, die für ein Land in Nahost bestimmt waren.

Diese Meinung vertritt auch der deutsch-israelische Journalist Gil Yaron, der sich in einem Artikel auf „gut informierte israelische Quellen“ beruft und brisante Details nennt. Iranische Interessenten sollen demnach über russische Waffenhändler Luftabwehrraketen vom Typ S-300 geordert haben, die in Kaliningrad an Bord der Arctic Sea verladen wurden. Dies geschah ohne Wissen des Kremls, der erst durch Informationen eines westlichen Geheimdienstes – gemeint ist hiermit offensichtlich der Mossad – von diesem Deal erfahren hat.

Eine Entführung hätte es demnach nie gegeben. Russland inszenierte lediglich die Entführung, um sein Gesicht zu wahren. Die tätowierten Knastbrüder waren demnach ebenfalls Staffage. Ob sie überhaupt je an Bord der Arctic Sea waren? Vielleicht hat man sie auch erst vor der portugiesischen Küste an Bord gebracht – dies würde die schmunzelnde Äußerung eines hohen EU-Beamten erklären, der sagte, dass Schiff sei vor der Küste Portugals zum zweiten Mal „entführt“ worden. Offiziell dementiert Russland jeglichen Zusammenhang mit einem Waffenschmuggel natürlich aufs Schärfste.

Iran und die israelische Bedrohung

Es ist seit längerem bekannt, dass Iran liebend gerne in den Besitz des modernen S-300 Luftabwehrsystems kommen würde. Eine offizielle Anfrage in Moskau konnte in letzter Minute durch die Israelis torpediert werden. Russland lieferte keine S-300 nach Iran, dafür verzichtete Israel auf den Verkauf moderner Waffensysteme an Georgien. So groß das Interesse Irans ist, die S-300 in seinen Besitz zu bekommen, so groß ist das Interesse Israels, eben dies zu verhindern. Das S-300 Luftabwehrsystem wäre eine ernsthafte Bedrohung für israelische Kampfbomber auf ihrem Weg zu iranischen Atomanlagen. Wie gefährlich diese Bedrohung für Israel ist, zeigt nicht zuletzt der streng geheime Überraschungsbesuch Benjamin Netanjahus letzte Woche in Moskau. Noch nicht einmal seine engsten Mitarbeiter wussten, dass der israelische Premier im Privatflugzeug eines Freundes nach Moskau flog, um sich auf höchster Ebene mit der russischen Führung zu beraten. Es ist anzunehmen, dass dabei auch die Affäre um die Arctic Sea eine Rolle spielte.

Silowiki im Visier

In Russland gibt es nicht nur die Mafia, die Interessen an hochprofitablen Waffengeschäften hat. In den obersten Reihen des Militärs und der Sicherheitsdienste gibt es einige „Silowiki“, die eine gefährliche Eigendynamik entwickelt haben. In den letzen Jahren gab es aus diesen Kreisen vermehrt proiranische und antiisraelische Stimmen.

Es wäre durchaus denkbar, dass diese „Silowiki“ auch bei dem vermeintlichen Waffenschmuggel auf der Arctic Sea ihre Finger im Spiel hatten. Dem eher liberalen Präsidenten Medwedew, der sich in seinem Ringen nach einer Öffnung gegenüber dem Westen neuerdings sogar offen für Sanktionen gegenüber Iran zeigt, ist dies freilich ein Dorn im Auge.

Hohe Stellen in Moskau möchten daher auch gerne ein Mäntelchen des Schweigens über die Affäre Arctic Sea hängen. Für investigative Journalisten ist Russland bekanntermaßen ein gefährliches Pflaster – vor allem, wenn man einflussreichen Schattenmännern in den obersten Militär- und Sicherheitsapparaten auf die Füße tritt. Einem Reporter der Komsomolskaja Prawda, der in Archangelsk, dem Heimatort der Arctic Sea-Besatzung, zu fleißig recherchierte, legte man nahe, dass er doch besser verschwinden solle – schließlich gäbe es viele Kriminalfälle in der Stadt.

Noch massiver war der Druck, dem sich der Journalist und Seefahrtsexperte Michail Woltenko ausgesetzt sah. Nach massiven Drohanrufen verließ er fluchtartig das Land. Zunächst versteckte er sich in Istanbul, nun ist er in Thailand untergetaucht. Die Wahrheit über die Arctic Sea ist zumindest nicht mehr an Bord – nachdem russische Geheimdienstler und „Kriminologen“ das Schiff mehrere Wochen lang „inspiziert“ haben, wird es nun auf den Kanaren an die Malteser übergeben, unter deren Flagge die Arctic Sea registriert ist.