Freiheit des Andersdenkenden

Die Piratenpartei kämpft mit dem McCarthyismus des 21. Jahrhunderts

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Andreas Popp und Jens Seipenbusch machten etwas, was dem Spiegel-Volontär Ole Reissmann in der letzten Woche die Schlagzeile "Junge Freiheit kapert Piratenpartei" wert war. Sah man sich die Vorfälle genauer an, fand man allerdings nichts, was die Überschrift gerechtfertigt hätte. Stattdessen war von einem Interview die Rede, das Popp der rechtskonservativen Zeitung gab, und von einem Fragenbogen, den Seipenbusch für sie ausgefüllt hatte.

Weder in dem Interview noch in den Antworten (in denen der Piraten-Bundesvorsitzende nicht etwa Carl Schmitts Staatsgefüge, sondern Adornos Jargon der Eigentlichkeit als Lieblingsbuch nennt), finden sich in irgendeiner Weise Äußerungen, die auch nur annähernd etwas mit problematisierten Positionen der Zeitung zu tun hätten. Weil das offenbar auch Reissmann auffiel, zitierte er wohlweislich nichts von den beiden Piraten, sondern zog für seine Erregung stattdessen die Fragen heran. So wird kritisiert, dass Seipenbusch darüber Auskunft gab, "was für ihn Heimat bedeute, was ihm seine Eltern mitgegeben hätten und woran er glaube".

Was an diesen Fragen so "seicht" sein soll (wie Reissmann meint), dass Seipenbusch sie weglegen hätte sollen, anstatt sie zu beantworten, bleibt allerdings offen. Diejenige nach der Bedeutung von Heimat war vor nicht allzu langer Zeit Abiturthema in einem großen deutschen Bundesland. Woran Piratenparteimitglieder glauben, dazu wurden sie auch von Telepolis schon befragt. Und ohne die Standardfrage nach den Eltern könnte beispielsweise die Karriere von Familienministerin von der Leyen nur ausgesprochen unzureichend erklärt werden.

Sehr bedingt seriös zitiert Reissmann auch Vorwürfe aus einem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht von 2005, der offenbar deshalb so alt sein musste, weil das Bundesverfassungsgericht diese Praxis kurz darauf in einem ausgesprochen lesenswerten Urteil als unzulässig pauschalisierenden Verstoß gegen die Pressefreiheit verbot.

Letztendlich begrenzt sich der Vorwurf des Volontärs gegen die beiden Piraten darauf, dass sie überhaupt mit der Zeitung sprachen - wie vor ihnen übrigens auch Ephraim Kishon, Joseph Stiglitz, Ernst Benda, Egon Bahr, Vera Lengsfeld und Rolf Hochhuth. Alles Personen, die - wenn man der Logik Reissmanns folgen wollte - von der Jungen Freiheit "gekapert" wurden. Dass dieses Bild vom "Kapern" aber mindestens genauso gut auch umgedreht anwendbar ist, das legte Jens Seipenbusch in seinem Blog dar:

[...] eine Zusammenarbeit mit rechten Parteien kommt nicht in Frage, auch für mich nicht, genau das hat Andreas Popp ja auch gesagt. Ist es aber die richtige Antwort, einer Zeitung nicht die eigene politische Meinung darzulegen? [...] Ich denke bei der Bewertung dieses Interviews an die Leser der Jungen Freiheit, nicht an die Macher. Wenn wir diese Menschen nicht für würdig befinden, mit ihnen über Politik zu reden, dann geben wir sie verloren. Wenn wir sie zurückholen wollen ins demokratische Spektrum, dann müssen wir mit ihnen reden, ihnen klarmachen, warum die rechte Ideologie menschenfeindlich ist. Sie zu verachten, sich von ihnen zu distanzieren, mag den Linken dabei helfen, ihre eigene Identität zu definieren - in der angesprochenen Sache ist es eher schädlich.

Reissmanns Polemik und ein ähnlicher Text der Grünen-Politikerin Julia Seeliger in der Taz machten ungewollt darauf aufmerksam, dass es Zensurextremisten nicht nur in der Union gibt. Gerade in der SPD schützten in der jüngsten Vergangenheit Politiker wie Sebastian Edathy und Brigitte Zypries immer öfter den Bequembegriff "rechts" vor, wenn es um die Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen ging. Das praktische an diesem Begriff ist, dass er in den letzten Jahren so inflationär verwendet wurde, dass sich mittlerweile politisch Unliebsames fast jeder Richtung mit ihm bedenken lässt.

Der neue McCarthyismus geht dabei ähnlich vor wie der alte in den 1950er Jahren: Über teilweise beeindruckend lange Beziehungsketten steht jeder Angegriffene irgendwann einmal mit dem in Verbindung, was grade als das absolute Böse gilt: Im Amerika der 1950er Jahre war das der Kommunismus. Und damals war es der Begriff "pinko", mit dem unter anderem Bürgerrechtlern eine Nähe zu Moskau unterstellt wurde.

Es dürfte auch den meisten Piraten klar sein, dass politische Macht in den Händen von Personen, die auf Politically Incorrect die Meldung bejubeln, dass ein Teilnehmer der Demonstration Freiheit statt Angst auf die Frage nach der Dienstnummer eines Polizisten blutig geprügelt und angezeigt wurde, sehr wahrscheinlich nicht zu einem besseren Schutz von Grundrechten führen würde.

Doch gerade angesichts von derart dreist zur Schau gestellter Dumm- und Grobheit ist beziehungsweise wäre es keineswegs verabscheuungswürdig, wenn Grundrechtsschützer so viel Abstraktionsvermögen aufbringen, dass sie auch den eigenen Feinden das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit nicht absprechen, sondern es stattdessen verteidigen - in jedem Medium, das ihnen die Möglichkeit dazu bietet. "Ich teile ihre Meinung nicht, aber ich bin bereit, mein Leben dafür einzusetzen, dass Sie sie äußern dürfen" schrieb Voltaire einst. Und das ist nicht, wie mancher Möchtegernzensor meinte anmerken zu müssen, eine Ideologie der absoluten Freiheit, die sich selbst ad absurdum führt, sondern das absolute Minimum davon - nichts weiter als Kant cum Grundgesetz.