Die Schwulen-Radarfalle

Ehemalige MIT-Studenten behaupten, sie könnten mit einer Software die Freunde in Facebook-Profilen in einer Weise analysieren, die zuverlässige Rückschlüsse auf die sexuelle Neigung des Account-Inhabers zulässt

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Der Begriff „Gaydar“ setzt sich aus „Gay“ und dem Suffix aus „Radar“ zusammen, gemeint ist damit ein Wahrnehmungssystem, das den Anspruch hat, mit mehr oder weniger feinen Antennen die gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung einer Person zu erkennen. Die Antennen speisen sich vorwiegend aus Gerüchten, „Intuition“ und unterschiedlichen Klischees und Annahmen. Eigentlich Bestandteil von Gossip-Gesprächen, Partytalk oder anderem Tratsch; manchmal lustig, abhängig davon, wer seinen Gaydar-Spürsinn zum Besten gibt und mit welchem Hintersinn. Auf peinliche Weise ernst, heikel und böse wird die „Gaydar-Fahndung“ dann, wenn sie den privaten, spielerischen Rahmen verläßt und in die öffentlich Sphäre wechselt; dann zeigt das subjektive Gemisch aus Gerücht, Vorurteilen und Intuition seine fiese Fratze. Die Diffamierung ist nicht weit. Von diesen Fettnäpfen umgeben ist eine Meldung, die mit dem Namen des gut beleumdeten Massachusetts Institute of Technology (MIT) renommiert und ein Software-Programm namens „Gaydar“ vorstellt, das auf eine Informationsquelle von Facebook-Accounts hinweisen soll, an die man nicht sofort denkt: die Liste der friends.

Ihr Programm sei ziemlich zuverlässig, lassen zwei ehemalige MIT-Studenten - mittlerweile mit Abschluss - im Gespräch mit der Zeitung Boston Globe erkennen. 2007 haben sie, wie die Zeitung berichtet, im Rahmen eines Seminars über ethics and law on the electronic frontier ein Software-Programm namens „Gaydar“ entwickelt, das über die Freundeliste bei Facebook-Profilen Aussagen über die sexuelle Orientierung des Facebook-Users machen kann. Irgendwelche aussagekräftigen Details darüber, wie das Programm arbeitet, sind dem Zeitungsbericht nicht zu entnehmen. Nur, dass als zentrale Kategorien „Geschlecht“, „Freunde“, deren sexuelle Ausrichtung sowie angegebene "Interessen“ fungieren und diese Daten irgendwie statistisch bearbeitet werden: „using statistical analysis“.

Im Prinzip, soviel wird erkennbar, arbeitet das Programm mit Wahrscheinlichkeitsannahmen: Dass Homosexuelle einen größeren schwulen Bekannten- und Freundeskreis als Heteros haben, dass ihre Interessen Indizien für die sexuelle Orientierung liefern können. Wie diese Indizien aussehen, darüber wird nichts, nicht der kleinste Hinweis bekannt gegeben. Den friend links in Facebook-Profilen kommt eine Schlüsselrolle im „Gaydar“-Programm zu, das wird immer wieder betont.

Das Programm erprobte sich laut seinen Schöpfern an Daten eines Samples von Facebook-Accounts, die MIT-Studenten der Klassen 2007 bis 2011 und Graduierten angelegt hatten. Zunächst wurde der Software nach ihren Angaben beigebracht, die friend links von Männern zu analysieren, die ihre sexuelle Orientierung freimütig zu erkennen geben. Genannt werden insgesamt 1.544 Männer, die sich als „hetero“ bezeichneten, 21 als „bisexuell“ und 33 als „homosexuell“.

Danach wurde die „Gaydar-Software“ mit Daten von 947 Männern gefüttert, die in ihren Facebook-Profilen nichts über ihre sexuellen Vorlieben angaben. Gaydar übernahm das Outing, es errechnte aufgrund der friend links die sexuelle Präferenz. Bei einer Stichprobe von 10 Personen, deren Homosexualität den Gaydar-Programmierern bekannt war, stellten sich die Zuordnungen als in jedem Falle richtig heraus, so die beiden Software-Entwickler.

Versuche, über die Software auch bisexuelle Männer bzw. lesbische Frauen zu outen, scheiterten allerdings. Anscheinend sind hier die Schlüsselindizien nicht so einfach herzustellen oder das Programm ist, wie an anderer Stelle vermutet wird, eine „Luftnummer“.

Indizien dafür gibt es reichlich und sie stehen - im Gegensatz zu den von den beiden Programmierern verwendeten Analyseindizes und Kategorien, die sie sich für die Auswertung der „Interessen der Freunde“ ausgedacht haben – allesamt im Bericht des Boston Globe. Ein „Check“ von 10 Personen bei einer Grundgesamtheit von 947 Männern? Man wundert sich nicht, dass die Arbeit der beiden über den Rang einer Seminararbeit nicht hinausgekommen ist.

Zweimal ist im Artikel die Rede davon, dass die Software-Studie der Studenten bislang in keiner wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht wurde. Dabei datiert die Entwicklung des Programmes schon von 2007. Die beiden Gaydar-Software-Entwickler hoffen weiter auf eine Veröffentlichung in einem wissenschaftlichen Fachblatt, heißt es im Bericht. Und herrlich: Genau deswegen wollen sie auch keine Details über ihr Programm verraten. Dazu – und auch das hat seine Pointe – wird ihr Schweigen über Details der Programm-Konzeption auch mit einem ausgeprägten Sinn für Diskretion begründet: „Die einzige Kopie der Daten ist auf einer verschlüsselten DVD, die sie einem Professor übergaben.“ Ein nicht näher präzisiertes - „ethical review board“ habe seine Anerkennung ausgesprochen.

Und doch...

...lassen sich auch Begründungen anführen, die dafür sprechen, dass die Arbeit der beiden Programmierer, die als Carter Jernigan und Behram Mistree genannt werden, mehr ist als Flunkerei. Zum Beispiel die im Zeitungsbericht zitierte Aussage des Seminarleiters, Hal Abelson, den eine Webadresse auch tatsächlich als MIT-Professor of Computer Science and Engineering ausweist. Er verdeutlicht den Anspruch „Gaydar“ vor allem als Warnung zu verstehen:

When they first did it, it was absolutely striking - we said, ‘Oh my God - you can actually put some computation behind that’. That pulls the rug out from a whole policy and technology perspective that the point is to give you control over your information - because you don’t have control over your information.

Die Botschaft: Selbst wenn man seine eigenen Daten, die man über ein soziales Netzwerk nach außen gibt, so gut es geht, steuert, so findet dies seine Grenzen dort, wo über Freunde Angaben nach außen dringen, die man eigentlich für sich behalten will. Die Grundannahme, womit das „Gaydar-Programm“ arbeitet, mag wissenschaftlich gesehen banal und fragwürdig sein – sie läuft im Grunde genommen auf den ollen Spruch hinaus „Sag mir, wer deine Freunde sind und ich sag dir, wer du bist“. Das mit „Gaydar“ angesprochene Datenproblem wird aber schon weniger banal und noch viel fragwürdiger, wenn man sich Beispiele des Umgangs mit Daten aus sozialen Netzwerken vor Augen hält.

So wurde im Juli dieses Jahres von Usern moniert, dass Facebook jede E-Mail-Adresse, die im Account eines Profils gefunden wird, speichert und mit dem Accountinhaber dauerhaft assoziert, eingeschlossen jene, die der Inhaber selbst als unerwünscht entfernt.

Zutage kam diese Praxis, als einem Blogger auffiel, dass ihm Facebook zwei Personen als Bekanntschaften/Freunde vorschlug, die der Account-Inhaber zwar kannte, weil sie entfernte Verwandte sind und er sie deswegen vor Jahren einmal kennengelernt hatte, mit denen er aber jahrelang weder in direkten noch indirekten Kontakt stand: „We had no friends in common, we had never worked at the same place, we even lived in different parts of the world.“ Wie nun kam Facebook auf diesen Vorschlag?

Via Gmail, so die Beweisführung des verblüfften Facebook-Users („So how did Facebook know that we knew each other?“). Gmail-Kontakte können in den Facebook-Account importiert werden und Facebook generiert daraus Vorschläge für Bekanntschaften nach dem Prinzip der Freund eines Freundes könnte ein interessanter Kontakt sein. Dieses Prinzip wurde offensichtlich eine ganze Zeit lang auch in solchen Fällen stur aufrecht erhalten, bei denen der Facebook-Account-Inhaber beim Importieren der Gmail-Kontaktliste bestimmte Namen nicht mit hinübernehmen wollte und sie aus der neu angelegten Liste im Facebook-Profil gestrichen hatte.

Mittlerweile, so deutet der Facebook-User an, kann der Account-Inhaber sein Profil so einstellen, dass er sich gegen diese Zudringlichkeit des Netzwerkes wehren kann. Ein ungutes Gefühl, was das Datenmanagement betrifft, bleibt. Möglicherweise hat auch das geschilderte Phänomen nur episodischen, periphären Charakter, eine Kleinigkeit nur, vielleicht. Hält man sich aber das darunterliegende Prinzip vor Augen, dass sich mein Profil in einer sozialen Netzwerkseite maßgeblich über meine „Freunde“ generiert, und denkt dazu nicht einmal nur das an das kommerziell motvierte Targeting, das darüber betrieben werden kann, sondern an die Recherchebemühungen von Journalisten, Arbeitgebern und Ämtern, die in sozialen Netzwerkseiten auf wertvolle Informationen hoffen, dann ist die Radarfalle aus dem MIT-Seminar doch nicht so schlecht aufgestellt.

Auch werden die Fettnäpfe der sexuellen Orientierung, in die sie gestellt ist, mit keinerlei Namen, Berufen, irgendwie identifizierbaren Gruppen oder Indizien, wie weietr oben beklagt, verknüpft. Insofern funktioniert die Diskretion der beiden „Gaydar“-Software-Luftnummer-Schelme: Was über das „Gaydar-Software-Projekt“ bislang bekannt ist, liefert keinerlei Hinweise, die ein einziges diffamierendes Klischee bekräftigen, das über Schwule im Umlauf ist – außer die Annahme selbst, dass die sexuelle Orientierung über Klischees herauszufinden wäre.