Die Mär von den "verlorenen Stimmen"

Wie ein Votum für kleine Parteien und unabhängige Kandidaten den politischen Willensbildungsprozess beeinflusst

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer die Piratenpartei wähle, so Guido Westerwelle, der müsse sich damit abfinden, dass seine Stimme "verloren" sei. Eine durchaus unrichtige Behauptung. Denn trotz der Fünf-Prozent-Hürde, auf die der FDP-Chef offenbar anspielte, haben Stimmen für kleine Parteien in mehrerlei Hinsicht Einfluss.

Tatsächlich sind in einer deutlichen Mehrheit der Wahlkreise eher jene Stimmen "verloren", welche große Teile der 40 bis 45 Prozent Nicht-Unions- und Nicht-SPD-Wähler den oft ohne fundierte Kenntnis angekreuzten Direktkandidaten des jeweils vermeintlich kleineren Übels unter den großen Parteien geben. Rationaler als die "Wahl" zwischen Kandidaten mit praktisch identischem Abstimmungsverhalten wäre hier das bewusste Setzen von Anreizen:

Denn auch mit Stimmen für Bewerber und Parteien, die ohne Mandate bleiben, lassen sich Themen fördern. Ein Effekt, der immer stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt und der auch dazu beitrug, dass sich die Zahl der unabhängigen Direktkandidaten in den insgesamt 299 Wahlkreisen seit der letzten Wahl von 60 auf noch nie da gewesene 166 erhöht hat. Viele davon treten für Volksabstimmungen ein, andere für ein bedingungsloses Grundeinkommen - und manche für Beides.

Den meisten ist bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit eines Einzugs in den Bundestag ausgesprochen gering ist. Allerdings haben sie durchaus Chancen, dem einen oder anderen Bewerber einer Volkspartei das Direktmandat zu kosten. Und der (oder dessen Nachfolger) beschäftigt sich dann möglicherweise in Zukunft intensiver mit den Fragen, die seinen freien Herausforderern ein besonderes Anliegen sind.

Auch Parteien können durch solche Stimmwegnahme-Effekte Aufmerksamkeit auf Themen lenken. So führten beispielsweise die ersten Prozente für die Grünen schon vor dem Einzug in den Bundestag zum Beginn einer Umweltdiskussion in der SPD und die Wahlerfolge der Republikaner in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren trugen entscheidend zum bald darauf zwischen den Volksparteien geschlossenen "Asylkompromiss" bei.

Auch wenn etablierte Parteien von Schwerpunktparteien vertretene Positionen bereits einzunehmen scheinen, kann es sinnvoll sein, stattdessen die kleine Themenpartei oder den unabhängigen Direktkandidaten zu wählen. Denn häufig handelt es sich um eine Art Scheinbefürwortung, die wahrscheinlich auch in Folge eines Wahlsieges keine entsprechende Umsetzung nach sich zieht. So etwas zeigte sich beispielsweise im Bereich der Direkten Demokratie. Sie wird zwar von der SPD seit Jahren offiziell begrüßt - ihre Bundestagsabgeordneten ließen entsprechende Anträge von Grünen, FDP und Linkspartei aber scheitern.

Andere Scheinbefürworter finden sich in der Frage freier Bildung: Dort locken etablierte Parteien auf dem Papier oder im Wahl-O-Maten Wähler mit Positionen an, die sich beim genaueren Hinsehen als ihr Gegenteil erweisen. Ein Trick ist die Ablehnung von Studiengebühren auf der unzuständigen Bundes- und die Befürwortung auf der zuständigen Landesebene, ein anderer sind Einschränkungen wie jene auf ein Erststudium während einer sehr kurzen Regelstudienzeit oder der Deklarationsumweg über extrem hohe Verwaltungsgebühren. "Könnte man den Aussagen zu den Wahl-O-Mat-Thesen glauben", so Studentenfunktionär Florian Kaiser, "dürfte es in der BRD kein gebührenpflichtiges Studium geben, da hiernach nur die FDP und die Partei Bibeltreuer Christen das gebührenfreie Erststudium ablehnen. Die Politik in den Ländern hat uns hier in den letzten Jahren aber ganz anderes offenbart."

Darüber hinaus sorgt die Abgabe einer Stimme für eine der kleinen Parteien dafür, dass diese von den bereitgestellten Mitteln profitieren kann. Das Parteiengesetz subventioniert nämlich nicht nur Spenden mit einem aus Steuergeldern finanzierten Zuschlag von stolzen 38 Prozent, sondern auch Wählerstimmen, die nach § 18 mit 85 Cent pro Stimme vergütet werden. Für diese Ausschüttung gilt keine Fünf-Prozent-Hürde. Stattdessen liegt die Schwelle hier bei 0,5 Prozent in der "jeweils letzten Europa- oder Bundestagswahl".

Allerdings ist die Regelung mit einer gewichtigen Einschränkung versehen: Nach Absatz 5 dieses Paragrafen werden solche früher als Wahlkampfkostenerstattung bekannten Gelder nämlich nur in äquivalenter Höhe der Einnahmen aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen, Zinsen und wirtschaftlichen Aktivitäten ausgeschüttet. Dass sich die Auszahlung bei allen über vier Millionen liegenden Stimmen auf 70 Cent verringert, ist kein wirklicher Ausgleich für die Nachteile, die kleinen und weniger wirtschaftsnahen Parteien durch diese Regelung erwachsen.

Mit entsprechend besserer finanzieller Ausstattung können kleine Parteien auch die sehr hohen bürokratischen Anforderungen für eine Wahlteilnahme besser bewältigen und in mehr Bundesländern antreten. Ein wichtiger Grund dafür, dass viele kleine Parteien so geringe Ergebnisse einfahren, ist nämlich die Tatsache, dass sie nur in einigen Bundesländern auf dem Wahlzettel stehen. Tritt eine Partei dagegen in allen oder fast allen Bundesländern an, wie aktuell die Piratenpartei, dann stehen ihre Chancen schon wesentlich besser als beispielsweise die der Titanic-Partei, die 2005 nur auf verhältnismäßig wenigen Wahlzetteln angekreuzt werden konnte.

Die bürokratischen Hürden sind auch mit dafür verantwortlich, dass die (nicht etwa in der Verfassung, sondern in § 6 Absatz 6 des Bundeswahlgesetzes festgeschriebene) Fünf-Prozent-Hürde eher schrittweise übersprungen wird. Steigende Ergebnisse steigern darüber hinaus nicht nur die Bekanntheit einer Partei, sondern überzeugen auch stetig mehr Wähler davon, dass sie den Einzug in ein Parlament schaffen kann. Die Grünen etwa erzielten bei den Bundestagswahlen 1980 1,5 Prozent und gelangten von dieser Basis aus 1983 mit 5,6 Prozent erstmals ins Bonner Parlament.

Nicht nur aus all diesen Gründen scheint die Wahl eines freien Direktkandidaten und/oder einer kleinen Partei eine durchaus rationalere Alternative zum Wahlboykott. Weil der Nichtwähleranteil nicht zu einem geringeren Mandatsanteil von für unwählbar befundenen Parteien führt, sondern proportional vereinnahmt wird, ist dieses Mittel zum Protest nur bedingt geeignet: Selbst Stimmenthaltungen von deutlich über 50 Prozent bei Europa- oder Kommunalwahlen erzeugten bisher nicht die von manchen Kritikern einer uneingeschränkten Parteienherrschaft propagierten Effekte. Seit der Afghanistanwahl weiß man zumindest, ab welchem Nichtwähleranteil europäische Beobachter in Drittweltländern eine Wahl als "problematisch" einstufen - nämlich erst unterhalb einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent. Ein Ziel, das für die Bundestagswahl eher unrealistisch erscheint.