Wer will schon an die Fakten

Warum sich in Deutschland eine Seite wie factcheck.org bisher nicht etablieren konnte

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Die Diskussion über die Gesundheitsreform in den USA zeigt es wieder einmal: Befürworter und Gegner kämpfen mit harten Bandagen, machen sich gegenseitig heftige Vorwürfe und zaubern allerlei Zahlen aus dem Hut. Wer die Wahrheit solcher Aussagen überprüfen will, hat in den USA einen klaren Anlaufpunkt: Die Website factcheck.org, die von Wissenschaftlern und Journalisten der University of Pennsylvania betrieben wird. Aktuelle Fragen werden aufgegriffen und beantwortet, mit klar überprüfbaren Quellen belegt, Bürger können ihre Fragen stellen. Die Factchecker sahen sich natürlich auch Obamas Rede zur Gesundheitsreform an und überprüften den Wahrheitsgehalt.Möglich wird das ganze durch die Annenberg Foundation, die an der Universität das Annenberg Public Policy Center finanziert. Ironie der Geschichte: Stifter Walter Annenberg war zuvor selbst im Mediengeschäft tätig und betrachtete als Verleger Wahrheit eher als Begleitumstand oder gar als lästiges Übel.

In Deutschland gibt es Seiten wie abgeordnetenwatch.de, doch im Jahr 2005 existierte bereits etwas Vergleichbares, nämlich factcheck-deutschland.de. Die Journalisten Iris Karlovits, Andrea Protscher und Mathew D. Rose starteten zum damaligen Bundestagswahlkampf ihr Angebot, das stark am amerikanischen Vorbild ausgerichtet war. Die Seite beschäftigte sich vor allem mit den ökonomischen Aussagen der Parteien, zu Wirtschaft, Arbeit und sozialer Sicherung. Wissenschaftlich unterstützt wurde die Website vom Team um Josef Schmid, Professor für politische Wirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Das Redaktionsteam bekam für seine Arbeit im August und September 2005 von Frank Hansen als Privatmann eine Finanzierung, nicht von desssen Stiftung. Auf Dauer konnten sich Factcheck Deutschland nicht halten. "Wir haben nach einer Stiftung gesucht, doch keine gefunden, die wirklich zu unserem Vorhaben gepasst hat", sagt Iris Karlovits. Und sie hätten ansonsten "einen irren Personalstab" gebraucht, um auf Dauer die Themen abzudecken.

Der eigentliche Grund dafür, warum sich Factcheck damals nicht etablieren konnte, dürfte eher in der politischen Kultur Deutschlands zu suchen sein. "In den USA gibt es ein Grundmisstrauen gegenüber der Politik, das beim einzelnen Bürger ansetzt", sagt Hans J. Kleinsteuber, der bis vor kurzem Journalistik-Professor an der Universität Hamburg war. Man halte mit der Wissenstradition von Universitäten und investigativem Journalismus dagegen. Der USA-Spezialist führt auch an, dass hierzulande eine Tradition fehle, die Exekutive dazu zu zwingen, ihre Arbeit transparent zu machen. In den USA gibt es den Freedom of Information Act, der bereits 1966 unterzeichnet wurde. Er ermöglicht es jedem Bürger, Einsicht in Dokumente zu nehmen. Zwar gab es in der Anfangszeit Versuche, die Transparenzbestrebungen zu torpedieren, doch spätestens in den Siebzigern hatte sich das Einsichtsrecht der Bürger durchgesetzt. Der Freedom of Information Act kennt Einschränkungen, was Geheimdienste und Militär angeht, aber längst nicht so restriktive wie in Deutschland. "Bei uns kann man sich kaum vorstellen, dass Interna aus dem Militär bekannt gegeben werden müssen, doch US-Journalisten schaffen das immer wieder", weiß Kleinsteuber. In allen einzelnen Bundesstaaten legen ebenfalls Gesetze den freien Zugang zu Akten fest - sie sind allerdings recht unterschiedlich ausgeprägt.

"In Deutschland werden Journalisten, die Einsicht in Staatshandeln nehmen wollen, immer wieder abgeblockt", stellt Kleinsteuber fest. "Wir haben in der Tat eine massiv obrigkeitsstaatliche Tradition." Man gebe seinen Bürgern zu verstehen, dass Politiker alles richtig machten, und die Bürger das akzeptieren müssten. Zwar ist im Januar 2006 das Informationsfreiheitsgesetz auf Bundesebene in Kraft getreten, doch in vielen Bundesländern fehlen entsprechende Landesgesetze. Nicht zuletzt in Niedersachsen, wo im Fall Gorleben nach wie vor zentrale Dokumente unter Verschluss bleiben. "Allein die Vorstellung, dass ein Staat 30 Jahre später Informationen zurückhalten kann, ist unglaublich", sagt Kleinsteuber. Als das Informationsfreiheitsgesetz vom Bundestag erzwungen wurde, machte die Minsterialbürokratie es so restriktiv wie möglich. Auch in den USA müssen Bürger für die Akteneinsicht bezahlen, doch in Deutschland werden dafür Kosten "nach Verwaltungsaufwand" angesetzt, was schon mal über 100 Euro für vier Seiten bedeuten kann. Dokumente werden schnell als "Vertraulich" oder "Veschlusssache" eingestuft, und es ist viel schwerer, sie wieder "deklassifizieren" zu lassen. Nur ganz allmählich werden Archivdokumente freigegeben.

Für Ulrich Müller von der Watchdog-Gruppe Lobbycontrol liegt ein Unterschied zwischen Deutschland und den USA im Politikstil: "Es ist eine andere Art des Wahlkampfs, man macht viel mehr Negativaussagen über die gegnerischen Parteien beziehungsweise die einzelnen Kandidaten." Die Formen der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung sind drastischer, "wenn wir hier einen gleichen Politikstil wie in den USA hätten, würden Institutionen wie factcheck.org sich schnell etablieren", sagt der Lobbyisten-Beobachter. In Deutschland wird vor allem nach Parteilinie abgestimmt, wogegen die USA keinen Fraktionszwang kennen. Dort ist insofern auch viel wichtiger, wie ein Kandidat zu einzelnen Themen abgestimmt hat. Das fördert Watchdog-Organisationen, sie müssen zudem genug Personal haben, um jeden Kandidaten abzuchecken. Die bessere Verfügbarkeit von Daten und die große Zahl von Watchdog-Organisationen in den USA beflügeln sich allerdings auch gegenseitig.

In Deutschland ist man es nicht gewohnt, dass Politik transparent abläuft. In den USA zum Beispiel tagen die parlamentarischen Ausschüsse in der Regel öffentlich, hierzulande ist es umgekehrt. Man könnte fast sagen, US-Politiker haben Angst vor ihren Journalisten und vor Bürgern, die viel schneller auf den Barrikaden stehen. Deswegen geben sie von sich aus mehr Informationen heraus. Auch wir glauben den Pressestellen von Parteien und Unternehmen nicht wirklich, aber eine Gegenbewegung etabliert sich erst allmählich. So ohne weiteres will keiner eine Menge Geld zum Beispiel in eine Universitätsabteilung stecken, die sich hauptsächlich um ein solches Factchecking kümmern würde. Zeitungen haben inzwischen Factcheck-Kolumnen, eine übergreifende Institution fehlt aber.

Doch im Jahr 2009 könnte es besser für ein Vorhaben wie Factcheck in Deutschland stehen. Die Internet-Generation misstraut Politiker-Aussagen massiv, zugleich weiß sie, wie man Informationen recherchiert. Und Bürger sind auch bereit, Watchdog-Organisationen wie Lobbycontrol zu finanzieren: Ulrich Müller und seine Mitstreiter misstrauen den Einflüsterern der deutschen Politik und gehen Fällen intransparenter Beeinflussung nach. Der Verein Lobbycontrol bekam am Anfang Mittel von der Bewegungsstiftung, mittelfristig finanziert er sich vor allem durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Es geht also auch hierzulande, auch wenn es in den USA deutlich mehr Stiftungen gibt, und deutlich höheren Summen im Spiel sind.