Verlorene Illusionen

Die Schröder-Ära als Weg in Richtung neue Klassengesellschaft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Wahldesaster der SPD bei den Bundestagswahlen 2009 und die einige Jahre zuvor geschehene Neugründung der Linkspartei ist in der Parteiengeschichte der Sozialdemokraten vom Muster her keine neue historische Erscheinung. Wann immer Parteichef Franz Müntefering in der Berliner Parteizentrale seine Berührungsverbote gegenüber der Linken verkündete, stand die Bronzebüste des "Parteiheiligen“ Willy Brandt nicht weit. Wie kleinkariert sich die SPD-Führung in dieser Frage verhielt, wird deutlich, wenn man weiß, dass Brandt selbst einmal einer linken Abspaltung der SPD angehörte.

Derartige Abspaltungen sind also prinzipiell nicht neu, neu aber sind die gesellschaftspolitischen Konstellationen, die aktuell zur Gründung der Linkspartei und der Krise der SPD führte. Anfang des 20. Jahrhunderts war es die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 durch die SPD-Fraktion im Reichstag, warum sich mehr als ein Dutzend SPD-Abgeordnete von der Mutterpartei abwandten. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen und gründeten daraufhin 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Links sein, das bedeutete damals sich gegen den Ersten Weltkrieg zu wenden.

Rund 14 Jahre später wiederholte sich der Vorgang der linken Abspaltung. Diesmal waren es sechs Mitglieder der SPD-Reichtagsfraktion, die von der Mutterpartei ausgeschlossen wurden und daraufhin im Herbst 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) gründeten. Die SAP kritisierte die zögerliche und unentschlossene Haltung der SPD gegenüber der aufkommenden faschistischen Gefahr durch die NSDAP und setzte sich für eine Einheitsfront von SPD, KPD und Gewerkschaften ein. Auch Willy Brandt trat in seiner Heimatstadt Lübeck der SAP bei. Nach ihrer letzten Regierungsbeteiligung 1928 wurde die SPD in der Opposition angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise zwischen KPD und NSDAP zerrieben und kam im März 1933 nur noch auf 18,3 Prozent der Stimmen.

Die jüngste linke Abspaltung der SPD begann mit dem Partei-Ausschluss von regierungskritischen Gewerkschaftern in Nürnberg, was im Januar 2005 zur Gründung der Partei „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ führte, die sich 2007 mit der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zur Linkspartei verband.

Im historischen Rückblick ist zu konstatieren, dass die Abspaltungen durch den Gang der Geschichte quasi „legitimiert“ wurden, berücksichtigt man, dass der Weg der Mehrheits-SPD die sich abzeichnenden Katastrophen nicht verhindern konnte: Weder ab 1914 das unsägliche Gemetzel in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges noch 1933 die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Gegenüber diesen historischen Katastrophen ist das jetzige Wahldesaster der SPD natürlich nicht vergleichbar (auch wenn wir nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht). Die jeweiligen Abspaltungen aber können auch als ein politisches Sensorium gegenüber gesellschaftspolitischen Entwicklungen gesehen werden, als kleine Schnellboote, die dem großen Tanker der Mutterpartei die Richtung vorzugeben versuchten, ohne dass dieser freilich seinen Kurs änderte. Wir können somit Mutterpartei und Abspaltungen als einen Ausdruck von sozialen Kämpfen und des Ringens um politische Vertretung ansehen. Und wir können analysieren, was für eine Politik und welches Problem zur aktuellen Abspaltung und dem aktuellen Niedergang der Mutterpartei führte.

Mittlerweile sind sich die meisten intelligenten Kommentatoren einig, dass die Regierungspolitik des SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 den Anfang des Niedergangs der SPD darstellte und dass dabei die Agenda 2010 und Hartz IV im Mittelpunkt standen. 1998 hatte sich nach den langen Jahren der konservativen Regierung von Helmut Kohl die Mehrheit der Wähler für eine rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder und Josef Fischer (Grüne) entschieden. In sie wurden große Hoffnungen auf eine Politik für die Arbeitnehmer, für den Atomausstieg, für Frieden und eine öko-soziale Erneuerung der Gesellschaft gesetzt. Der erste große Schock für die Wähler dieser Koalition kam mit der Beteiligung Deutschlands am Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999. Die zweite Schockwelle verbreitete sich 2003, als Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung den Deutschen harte Zeiten voraussagte. Das stimmte nicht ganz: Hart wurden die Zeiten nur für die von Hartz IV Betroffenen und die Arbeitnehmer, während die Kapitalbesitzer zumindest bis zur weltweiten Finanzkrise 2008 üppige Gewinne einstrichen.

Labour-Partei lieferte Blaupause für die Schröder-Regierung

Dabei bildeten die von der Schröder-Fischer-Regierung zu verantwortenden politischen Entscheidungen wie die Deregulierung der Finanzmärkte und Hartz IV nur die Oberfläche eines tiefer gehenden, ernsthaften ideologischen Problems: Der Kapitulation vor der Dominanz des ungebändigten Kapitals und die Unterwerfung unter die Hegemonie des Neoliberalismus. Die deutsche Sozialdemokratie folgte damit dem Weg der britischen Sozialdemokraten, der Labour-Partei, was sich auch in einem gemeinsamen Manifest über einen angeblichen „Dritten Weg“ zeigte. Ähnlich wie die SPD steht auch die Labour-Partei heute vor einem Scherbenhaufen und ihr einstiges politisches Wunderkind Tony Blair ist heute eine der „meistgehassten“ Politiker in Großbritannien, wie eine dortige Zeitung schrieb (was auch mit seinem Kurs im Irak-Krieg zu tun hat). Und ähnlich wie Schröder hatte Blair die politische Macht nach langen Jahren der Opposition übernommen und stand für die Hoffnungen der Wähler auf eine neue und gerechtere Politik.

Der Weg der britischen Sozialdemokraten ist deshalb hier interessant, weil er das Vorbild für die Schröder-SPD wurde. Als Tony Blair Ende der 1990er Jahre in einem erdrutschartigen Wahlsieg die 18-jährige Regierungszeit der britischen Konservativen beendete, hatte Großbritannien bereits einen radikalen gesellschaftlichen Wandel hinter sich. „Maggy“ Thatcher hatte ab 1979 die Macht der Gewerkschaften massiv beschnitten, die Steuern gesenkt, die Rolle des Staates zurückgedrängt, Staatsunternehmen privatisiert und das Arbeitslosengeld sowie Sozialprogramme gekürzt. Sie lieferte damit die Blaupausen für ein neoliberales Gesellschaftsmodell, das kurz darauf in den USA, aber erst sehr viel später in Deutschland durchgesetzt wurde: Dort pikanterweise nicht unter der Kohl-Regierung, sondern eben unter Rot-Grün.

Bei den Wahlen 1997 erlebte die Labour-Partei unter Tony Blair ihren bis dahin gewaltigsten Wahl-Sieg seit 1945. Doch die Partei, die auch 2001 erneut an den Wahlurnen unter dem Label „Labour“ gewann, war längst eine Partei geworden, die mit der alten englischen Sozialdemokratie nichts mehr gemein hatte. Der „Thatcherismus“ hatte innerhalb von rund 20 Jahren das politische Koordinatensystem deutlich nach rechts verschoben. Diese Verschiebung hatte auch die Labour-Partei erfasst. Stand die Partei von 1985 noch selbstbewusst für die Politik der sozialintegrativen Regulierung des Marktes bzw. des Kapitalismus, so von 1997 unter Blair für die „Dynamisierung“ des Kapitalismus.

Die Politik der englischen Sozialdemokratie war seit Blair getragen von der Überzeugung, dass aus den großen ideologischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts der Kapitalismus als Sieger hervorgegangen ist, mit ihrer Politik der „neuen Mitte“ wandte sie sich ab von der verbleibenden Arbeiterklasse und den Gewerkschaften. Damit verbunden wurde das „Soziale“ neu definiert. Aus dem Wohlfahrtsstaat wurde eine Restgröße, die gerade noch eine Grundsicherung für die Ärmsten bereitstellte. Der Staat habe die Aufgabe, Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Möglichkeiten des Einzelnen zu schaffen. Wohlfahrt wurde als Mittel zur Befähigung der Individuen auf flexibilisierten Arbeitsmärkten und zur Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft im globalen Kontext gesehen.

Nicht mehr die Überwindung oder Eindämmung des real existierenden Kapitalismus war das Ziel dieser Labour-Politik, sondern gerade die Förderung dieser Wirtschaftsform. Und das war die Blaupause für das Vorgehen der Schröder-Regierung. Auch hier stand die prinzipielle Kapitulation vor kapitalgetriebenen Märkten und einer marktradikalen Ideologie im Mittelpunkt. Erneut wie schon oft in der Geschichte gab sich die SPD-Führung staatsmännischer als der Staat und übernahm die Aufgabe, um „Deutschland fit für die Zukunft zu machen“, die – wie Kritiker es formulierten – „sozialpolitische Drecksarbeit“ zu machen. Der passende Mann dafür war Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD), der am liebsten eigenhändig die „Sozialschmarotzer“ aus der sozialen Hängematte geworfen hätte. Er wirbt heute für die FDP und an seiner Person lässt sich auch – ähnlich wie bei der Labour-Party - der Wandel festmachen, den die SPD in ihrer 16-jährigen Oppositionszeit unterlag.

Agenda 2010: Beispiel für blinden Aktionismus

Im Mittelpunkt der Schröderschen „Reformen“ stand der Arbeitsmarkt. Der ursprüngliche Auftrag an die von dem ehemaligen VW-Manager Peter Hartz geführte und nach ihm benannte Kommission lautete, die Arbeitsämter zu modernisieren, um die Vermittlung von Arbeitslosen in Arbeit zu beschleunigen. Als Hartz im August 2002 seinen Bericht der Bundesregierung übergab, war daraus ein Werk mit umfangreichen Reformvorschlägen geworden. Mit zahlreichen Neuerungen wie „Ich-AG“ oder der Erleichterung von Leiharbeit wollte man die steigende Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Die Redlichkeit dieser Absicht ist sicherlich der Grund, warum Sozialdemokraten auch heute noch an der Agenda 2010 festhalten wollen, dabei aber die Augen vor den gravierenden gesellschaftlichen Folgen verschließen.

Denn das den Reformen zugrundeliegende Paradigma, dass Maßnahmen am Arbeitsmarkt der Schlüssel zu mehr Beschäftigung sind, ist in höchster Linie fragwürdig. Wer ein Auto besitzt, kauft nicht deshalb 200 Reifen, weil die momentan günstig zu haben sind. Auch ein Unternehmer ohne Aufträge stellt nicht deshalb neue Mitarbeiter ein, weil sie gerade ihre Arbeitskraft für billiges Geld zu Markte tragen müssen. Sondern wegen gestiegener Nachfrage nach seinen Produkten. Aus diesem Grund gibt es auch keinen Wissenschaftler auf diesen Planeten, der einen kausalen Zusammenhang von Arbeitsmarktreformen und mehr Arbeitsplätzen nachweisen kann. Es ist die anspringende Konjunktur oder oder es sind Investitionsprogramme, die neue Arbeitsplätze schaffen und nicht die Absenkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfeniveau.

So gesehen ist die Agenda 2010 ein gigantisches Beispiel für einen blinden Aktivismus, bei dem umgebaut und reformiert und erneuert wird, ohne dass eine wirkliche Lösung des Problems in Sicht käme. Hauptsache ist, dass so getan wird, als würde man politisch etwas anpacken. Die SPD-Führung wurde nicht müde, jeden leichten Rückgang der Arbeitslosigkeit auf ihre Arbeitsmarkt-Reformen zurückzuführen, freilich ohne jemals einen Beweis zu liefern. Hinter diesem regierungsamtlichen Schein aber wurde die Agenda 2010 von den Betroffenen völlig anders wahrgenommen: Als gigantische Disziplinierungsmaßnahme für die Arbeitnehmer bis hin zum Erleben von nackter Existenzangst, wenn wegen Sanktionen das Arbeitslosengeld II völlig gekürzt wurde. Und durch die Förderung von Niedriglöhnen und Zwangsarbeitsformen wie die Ein-Euro-Jobs wurde die ohnehin im vergangenen Jahrzehnt zunehmend geschwächte Position der Arbeitnehmer noch weiter geschwächt.

Die SPD unter Schröder hatte ebenso wie Blair keine andere Antwort auf die Zumutungen des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, als die Ratschläge aus dem Wahngebilde des Neoliberalismus aufzunehmen: Dass man den Standort Deutschland mit Deregulierung und Privatisierung so fit für den Weltmarkt machen müsse, dass alle Konkurrenz niedergebügelt werden könne. Dies schaffe dann Arbeitsplätze. Soziale Gerechtigkeit hat in diesem Turbokapitalismus keinen Platz mehr und wurde zur sozialen Restkategorie „Chancengleichheit“ umbenannt: Für den großen Lebenslauf sollte jeder zumindest mit den gleichen Turnschuhen starten können, was er dann daraus mache, bleibe jedem selbst überlassen. Das war nur noch ein erbärmlicher Schatten bisheriger sozialdemokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen.

Die Arbeitnehmer und die von Hartz IV-Betroffenen fanden diese Politik der Schröder- und Müntefering-SPD immer mehr gegen ihre Interessen gerichtet und stimmten mit ihren Füßen ab, als sie die Partei verließen und den Wahlurnen fernblieben. 1998 erreichte die SPD 40,9 Prozent der Stimmen, zusammen mit den Grünen eine Mehrheit von 47,6 Prozent. Am Ende der Periode Schröder, zu der auch die Amtszeit Franz-Walter Steinmeiers in der Großen Koalition gehört, war die SPD auf das historische Tief von 23 Prozent gesunken.

Die Partei der Agenda 2010 hatte innerlich vor dem Neoliberalismus kapituliert und es versäumt, Konzepte für eine soziale Politik im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Schröder steht damit für den Übergang von der alten Bundesrepublik der sozialen Sicherheit und des Klassenkompromisses zur Bundesrepublik der sozialen Spaltung und prekärer Lebensverhältnisse. Mit dem „Dritten Weg“ ging die SPD ebenso wie die Labour Party einen Weg fort von den Interessen ihrer traditionellen Klientel und der arbeitnehmerischen Mitte. Es war ein Weg, der in die soziale Kälte und in Richtung einer neuen Klassengesellschaft führte - und an dem die Partei nun schließlich fast zerbrochen ist.