Zukunftsthema in der Warteschleife

40 Milliarden Euro im Jahr müssten in die Bildung investiert werden. Doch nach den jüngsten Wahlergebnissen gibt es zunächst Grundsätzliches zu klären

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Lange Jahre galt der Bildungsbereich als eine der größten Baustellen der deutschen Innenpolitik und gleichzeitig als zentrales Zukunftsthema des 21. Jahrhunderts. Allerorten wurden nachhaltige Konzepte eingefordert, die von der frühkindlichen Förderung bis zur grundlegenden Sanierung des Hochschulsektors reichen sollten. Diese Forderungen waren keineswegs überzogen, denn an der desaströsen Ausgangslage änderte sich wenig – obwohl die Zahl der Kita-Plätze ausgebaut, einige einsturzgefährdete Schulen renoviert und Milliardensummen in ambitionierte Forschungsprojekte und so genannte Spitzenuniversitäten investiert wurden.

Ein schlüssiges Gesamtkonzept, das der Bildungspolitik Priorität einräumt, entsprechende Umschichtungen der Bundes- und Länderausgaben in Angriff nimmt, die Ausgaben für Bildung und Forschung auf wenigstens zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigert und endlich die soziale Schieflage, die das hiesige Bildungssystem prägt wie kaum ein anderes, zu beseitigen versucht, kam im Verlauf hitziger Diskussionen, langer Sonntagsreden und immergleicher Absichtserklärungen allerdings nicht zutage.

Desinteresse an Kultur und Bildung

Wer nun damit gerechnet hatte, dass die Wahlkämpfe auf Bundes- und Länderebene einen Wettstreit der Konzepte entfesseln würden, musste die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Debatte mit viel Kontroversen und reichen Erträgen schnell begraben. Nicht einmal die kleineren Parteien mochten das Thema über eine Distanz von mehreren Wochen auf den Schild heben, und die beiden ehemaligen Regierungspartner behakten sich, wenn überhaupt, lieber mit – zweifellos ebenfalls wichtigen – Streitfragen über Mindestlöhne, Steuersenkungen oder Atomkraftwerke.

Spätestens beim Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Herausforderer Frank-Walter Steinmeier (SPD) musste dann selbst dem politikmüdesten Betrachter auffallen, um welchen Bereich die staatstragenden Parteien einen großen Bogen zu machen gedachten. Der Deutsche Kulturrat bedauerte einen Tag später, dass kultur- und bildungspolitische Fragen bei der ohnehin schalen Debatte überhaupt keine Rolle gespielt hätten, machte aber nicht allein die politischen Protagonisten für dieses Versäumnis verantwortlich. Schließlich habe ihnen das Sendeformat kaum Freiraum für eigene Schwerpunktsetzungen gelassen.

Verantwortlich sind die fragenden Journalisten und ihre Redaktionen, die offensichtlich bildungs- und kulturpolitische Fragen für entbehrlich hielten. Besonders an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also an die ARD und das ZDF, muss die Frage erlaubt sein, ob eine Verschmelzung mit den Privaten (RTL, SAT1) für ein solches Wahlduell wirklich sinnvoll ist, wenn wichtige, öffentlich-rechtlich spezifische Themen geopfert werden.

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates

Das vermutete Desinteresse an Kultur und Bildung scheint allerdings nicht nur Politik und Medien, sondern auch die Bundesbürger erfasst zu haben. Nach einer von der Dresdner Bank in Auftrag gegebenen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen:www.dresdner-bank.de/dresdner-bank/presse-center/aktuell/20090902.html sind nur 42,4 Prozent bereit, mehr Geld für die Ausbildung ihrer Kinder zu sparen. Vor zwei Jahren lag der Wert noch bei 52,3 Prozent. Diese Zahlen können mit den persönlichen Vermögensverhältnissen zusammenhängen oder der Erwartung Ausdruck verleihen, dass sich die politischen Verantwortungsträger entschiedener um finanzielle Erleichterungen kümmern. Doch es gibt andere Daten, die den Interpretationsspielraum in dieser Hinsicht einengen.

Zudem ist die Bereitschaft, zugunsten besserer Startchancen der Kinder den eigenen Konsum einzuschränken, deutlich gesunken. 2007 konnten sich 80,6 Prozent der Eltern vorstellen, bei Freizeit oder Auto zukünftig mehr zu sparen, um den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Aktuell liegt dieser Wert nur bei 70,3 Prozent.

Dresdner Bank

Viele Studierende, wenig Begeisterung

Während die Gesellschaft mehrheitlich die Achseln zuckt, machen sich viele junge Menschen daran, die im internationalen Vergleich bedenkliche Akademikerquote ein wenig aufzubessern. Rund 400.000 Studienanfänger zieht es dieser Tage an die Fachhochschulen und Universitäten. Cornelia Quennet-Thielen, die Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, die im November 2008 dem eigenen Ehemann auf der Karriereleiter nachfolgte, sieht darin einen schlagenden Beweis für den Erfolg der nationalen Bemühungen.

Wir haben mit dem starken Anstieg bei der Zahl der Erstsemester das Ziel fast erreicht, dass 40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium aufnehmen. Zu diesem Erfolg hat ganz wesentlich der Hochschulpakt 2020 von Bund und Ländern beigetragen.

Cornelia Quennet-Thielen

Auch Henry Tesch (CDU), Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern, ist von der Entwicklung der jüngsten Zeit angetan.

Der von Bund und Ländern gemeinsam getragene Hochschulpakt schafft die in den nächsten Jahren dringend benötigten Studienplätze. Der Ausbau von Universitäten und Fachhochschulen geht Hand in Hand mit einer Qualitätsoffensive in der Lehre, damit noch mehr Studierende ihr Studium erfolgreich zu Ende führen können. Die Bologna-Reform war notwendig und richtig, um das deutsche Hochschulsystem international wettbewerbsfähiger auszurichten.

Henry Tesch

Die Rekordwerte verdanken sich allerdings leider nicht einer sprunghaft gestiegenen Attraktivität der deutschen Hochschulausbildung, sondern nur den geburtenstarken Jahrgängen im Westen der Republik und obendrein den ersten doppelten Abiturientenjahrgängen, die ihre Schulen nach der Verkürzung der Gymnasialzeit ein Jahr früher verlassen können. Oder müssen, denn von echter Begeisterung ist bei den Erstsemestern schon seit Jahren wenig zu spüren. Zwar erwarben im vergangenen Jahr knapp 20 Prozent mehr junge Menschen ein Abitur oder die Fachhochschulreife als 2003. Doch die Zahl der Studienanfänger stieg derweil lediglich um magere 2,4 Prozent. Im vergangenen Jahr wollte bereits jeder vierte Abiturient ohne Studium in das Berufsleben starten.

Die Gründe für diese Zurückhaltung sind ebenso zahlreich wie die Defizite des Bildungssystems. Viele potenzielle Nachwuchs-Akademiker misstrauen den politischen Botschaften, die das Thema immer wieder zur Chefsache erklären und den – ganz offensichtlich falschen - Eindruck erwecken, man sei auf die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts bestens vorbereitet. Hinzu kommen materielle Unsicherheiten, die Angst vor Finanzierungsproblemen und einem anwachsenden Schuldenberg, aber auch Zweifel an der Qualität und Konkurrenzfähigkeit von Ausbildungswegen, die zwischen Reformunfähigkeit und blindem Aktionismus in Sachen Bologna-Reform hin und her schwanken (Keine wissenschaftlichen Abschlüsse - aber jede Menge Stipendien).

40 Milliarden und die Wirtschaftskrise

Das deutsche Bildungssystem hat folglich auch ein Imageproblem, doch die finanziellen Schwierigkeiten fallen noch schwerer in die Waagschale. In einem Statement zum „Weltlehrertag 2009“ am Montag dieser Woche beziffern die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) den Investitionsbedarf für alte Versäumnisse und neue Reformen auf 40 Milliarden Euro pro Jahr. Dass diese Summe den Einrichtungen und ihren Besuchern zur Verfügung gestellt wird, ist in Anbetracht der Wirtschafts- und Finanzkrise allerdings wenig wahrscheinlich. Eine Orientierung der Bildungsausgaben an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, über deren prozentuale Höhe ohnehin gestritten wird, könnte in der aktuellen Situation auch unerfreuliche Konsequenzen haben, glaubt der VBE-Bundesvorsitzender Udo Beckmann.

Der VBE bleibt bei seiner Forderung, sich nicht allein auf die prozentuale Erhöhung der Bildungsausgaben auf sieben Prozent des BIP bis 2015 zu verlassen. Durch die Wirtschaftskrise wird allein in diesem Jahr laut Bundesregierung das BIP um 3,7 Prozent zurückgehen. Deshalb muss für die Bildungsausgaben ein absoluter Mindestsockel bezogen auf das Erfolgsjahr 2007 festgelegt werden. Sonst laufen wir Gefahr, dass möglicherweise 2015 absolut weniger Geld für Bildung zur Verfügung steht.

Udo Beckmann, VBE

Dafür wäre nicht allein die globale Entwicklung verantwortlich. Auch nationale Entscheidungen wie die umstrittene „Schuldenbremse“ dürften dazu beitragen, den finanzpolitischen Spielraum der öffentlichen Haushalte so weit einzuschränken, dass die viel beschworene "Bildungsrepublik" hierzulande ein Phantom bleibt.

Kern der Bildungsrepublik Deutschland muss sein: Staat zu machen mit starken Schulen. Dafür ist es notwendig, Bildungsfinanzen in den Haushalten als Investitionen einzustellen. Die im Juni beschlossene Schuldenbremse ist das ganze Gegenteil davon. Solange Ausgaben für Bildung und Erziehung als Haushaltsbelastung und nicht als Investition deklariert werden, fallen sie unter das Spardiktat der Finanzminister.

Udo Beckmann, VBE

Beide Verbände beschränken sich allerdings nicht auf das wenig einfallsreiche Plädoyer für zusätzliche Investitionen in Milliardenhöhe. Um die Mittel zielgerichtet und effizient einsetzen zu können, seien darüber hinaus Korrekturen an der Föderalismusreform nötig. Außerdem müsse der „Trend zu schleichender Privatisierung im Bildungsbereich“ endlich gestoppt werden, um den oft fatalen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbiografie zu entkoppeln.

Die Bildungsfinanzierung in der Marktwirtschaft

Was die jüngsten Wahlergebnisse für die Ausrichtung der nationalen Bildungspolitik bedeuten, lässt sich noch nicht in allen Einzelheiten abschätzen. Tendenzen sind gleichwohl erkennbar. Eine schwarz-gelbe Bundesregierung wird sich angesichts der komplexen politischen Gemengelage kaum dazu entschließen können, das ungeliebte BAföG kurzfristig abzuschaffen, aber zweifellos auf eine weitere Privatisierung des Bildungsbereichs drängen und im Sinne der bisherigen Bundesministerin Annette Schavan (CDU) an der "Erschließung eines funktionierenden Marktes der Bildungsfinanzierung" arbeiten.

Die umstrittenen Studienkredite, welche die Rückzahlungssumme nach Abschluss einer Hochschulausbildung deutlich erhöhen, könnten in den nächsten Jahren zu einem wichtigen Finanzierungsinstrument ausgebaut werden. Gleiches gilt für das nationale Stipendiensystem, das der nordrhein-westfälische "Innovationsminister" Andreas Pinkwart (FDP) „den besten“ – und nicht den sozial bedürftigsten - zehn Prozent der Studierenden zugute kommen lassen möchte. Kein Wunder also, dass einflussreiche Verbände wie die Hochschulrektorenkonferenz bereits einen Tag nach der Bundestagswahl versuchten, den potenziellen Reformeifer einer neuen Regierung zu kanalisieren.

Wir brauchen auch neue Initiativen. Die soziale Situation der Studierenden ist nach wie vor nicht ausreichend gesichert. Das wirkt sich negativ auf Studienzeiten, Abbruchquoten und die grundsätzliche Neigung zu studieren aus. Das ist - ganz abgesehen von dem individuellen Recht auf Bildung - volkswirtschaftlich falsch. Das BAföG sollte daher endlich so erhöht werden, dass der Lebensunterhalt gesichert ist und alle Studierenden, die diese Unterstützung benötigen, sie auch bekommen.

Margret Wintermantel, Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz

Da die Bildungspolitik vorwiegend in die Zuständigkeit der Länder fällt, wird es allerdings nicht nur auf die Vorgaben des Bundes ankommen. Nach den Ergebnissen der letzten Urnengänge ist davon auszugehen, dass der Flickenteppich, der Deutschland in gebührenpflichtige und gebührenfreie Sektoren teilt, weiter in Bewegung bleibt. In Thüringen dürfte die von der Regierung Dieter Althaus anvisierte Einführung allgemeiner Studiengebühren nach der Landtagswahl vom Tisch sein. Bei einer schwarz-roten Regierungskoalition wird aber wenig gegen die Beibehaltung der Langzeitstudiengebühren sprechen, die auch in Sachsen zur Debatte stehen.

Schleswig-Holstein könnte - vom erst einführenden, dann abschaffenden und jetzt zögernden Ausnahmefall Hessen abgesehen - das einzige westdeutsche Bundesland sein, in dem trotz schwarz-gelber Mehrheit keine Studiengebühren erhoben werden. Die FDP hat sich medienwirksam auf die Seite der Gegner geschlagen, die CDU hielt die Campusmaut daraufhin für „nicht durchsetzbar“. Selbst die katastrophale Haushaltslage wird die mögliche neue Koalition in diesem Bereich wenigstens mittelfristig wohl nicht zum Umdenken bewegen. Die strukturellen Probleme der Hochschullandschaft Schleswig-Holstein bleiben dennoch bestehen. „Regionalpolitischer Proporz und lokales Kirchturmdenken verhindern effiziente Strukturen“, stellte Aloys Altmann, Präsident des Landesrechnungshofes, Anfang 2009 fest.

Derweil können sich Nachwuchsakademiker im Saarland möglicherweise auf die Abschaffung der Studiengebühren freuen. Nach erfolgversprechenden Sondierungsgesprächen spricht einiges für eine rot-rot-grüne Regierungskoalition, die bei einer Beibehaltung der bisherigen Regelung umgehend mit einem veritablen Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen hätte.

Dass von Schwarz-Gelb bis auf weiteres kein radikaler Kahlschlag und von Rot-Rot-Grün kein mutiger Aufbruch in die Bildungsrepublik zu erwarten ist, hängt mit den Veränderungen des Parteiensystems und selbstredend mit der Lage der öffentlichen Haushalte zusammen. Wenn dieser Befund die Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte unbekümmert fortschreibt, besteht gleichwohl ein beträchtlicher Anlass zur allgemeinen Beunruhigung.