Pimp my Überwachungsgrund

Die Posse um den hessischen Verfassungsschutz-V-Mann "123" geht in die nächste Runde. Teil 2: Zurück zum Rechtsstaat? Bloß nicht!

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Wer will denn schon etwas begründen?

Das vom Verwaltungsgericht Berlin gefällte Urteil ist in seinen Aussagen sehr deutlich und müsste, wie Wolf Wetzel in seinem Blog darlegt, für das Bundesinnenministerium eigentlich eine Abkehr von seiner bisherigen Praxis bedeuten:

Das Urteil hält unmissverständlich fest, dass die (gängige) Praxis des Verfassungsschutzes, einen massiven Eingriff in Grund- und Schutzrechte mit 'formelhaften' Satzbausteinen ('eine Aufklärung des Sachverhalts (ist) allein mit anderen nachrichtendienstlichen Mitteln nicht möglich') zu begründen, rechtswidrig ist. Darüber hinaus, und das ist in der Tat für gesamte V-Mann-Praxis des VS von erheblicher Bedeutung, weist das Gericht die Standardbegründung von VS/BMI zurück, eine nachvollziehbare Überprüfbarkeit von V-Mann-Erkenntnissen gefährde den Schutz des V-Mannes, den Verfassungsschutz und summa summarum die Bundesrepublik Deutschland. Für den Wahrheitsgehalt von V-Mann-Erkenntnissen bürge nicht die Glaubwürdigkeit des Präsidenten des Verfassungsschutzes, sondern einzig und allein eine überprüfbare 'Darstellung sämtlicher erfolglos eingesetzter nachrichtendienstlichen Mittel und die fehlenden Erfolgaussichten nicht eingesetzter nachrichtendienstlicher Mittel". Folglich müsse jede Anordnung 'substantiiert und nachprüfbar begründet' werden, was selbstverständlich auch die Überprüfbarkeit und Verifizierbarkeit von 'tatsächlichen Anhaltspunkten' einschließt.

Dass eine derart selbstverständliche Anforderung an rechtstaatliche Prinzipien bei den Sicherheitsapologeten tatsächlich zu fast schon empörten Reaktionen führt, zeigt auch, wie weit sich gerade jene, die von sich behaupten, die (innere) Sicherheit bewahren oder schützen zu wollen, von den Grenzen, die ihnen der Rechtstaat setzt, entfernt haben bzw. wie sie diese mühelos und ohne Schuldeinsicht überschreiten. Schon alleine das simple Begründen von Grundrechtseingriffen, so dass diese nachvollziehbar werden, stellt für die Herren der Sicherheit eine Zumutung dar, wie im Berufungsschreiben des Bundesinnenministeriums vom 16.9.2009 deutlich wird:

Diese Konkretisierung ist völlig neu und ist mit einer historischen, wörtlichen und teleologischen Auslegung von § 4 G 10 a.F. kaum zu begründen. Diese Konkretisierung schießt weit über das Erfordernis einer substantiierten Darlegung hinaus. Eine solch detaillierte Darlegung würde, wenn man sie ernst nehmen würde, die Offenbarung der eigenen operativen Schwächen erfordern; was kaum vom G 10 gefordert sein dürfte.

Selbst ist der Beweisfälscher

Doch nicht nur in Deutschland fühlt sich so mancher wie in einem schlechten Film, wenn er sieht, wie sich diejenigen, die sich über die zunehmende Kriminalität echauffieren, nicht zu schade dafür sind, die von ihnen stets wieder und wieder lancierten Warnungen oder durchgeführten Maßnahmen mit eigenhändig gefälschten "Beweisen" zu unterfüttern.

In Kanada erfindet ein Minister schon einmal einen Fall, um die Vorratsdatenspeicherung salonfähig zu machen, in Dänemark übersetzt das erfindungsreiche Militär ein Buch ins Arabische, um dann dessen Gefahr daran festzumachen, dass es bereits (vermeintlich) von al Qaida ins Arabische übersetzt wurde und hier in Deutschland schreibt das BKA die Botschaften selbst, die es vor Gericht als Beweis anführt. All diesen Fällen ist gemein, dass die Verantwortlichen keineswegs dazu Stellung nehmen oder gar ihr Verhalten einmal als das ansehen, das es ist: ein eklatanter Betrug am Volk, dem stets eingetrichtert wird, es möge doch Vertrauen in die Regierungen, in die Volksvertreter und in die Strafverfolgungsbehörden haben.

Werden neue Befugnisse gefordert, so wird dieses Volksvertrauen eingefordert als gäbe es nie einen Grund, dieses nicht zu haben. "Blindes Vertrauen" in Reinkultur, und noch dazu, obgleich es sich schon oft genug als Vertrauen in die Falschen herausgestellt hat.

Gefahr für die Innere Sicherheit

Was solche "Stunts" für die Innere Sicherheit bedeuten, ist nachvollziehbar: Zusammen mit einer ausufernden Gesetzesflut weichen sie das Vertrauen in das Machtgefüge, das die Demokratie mit am Leben hält, nicht nur auf - sie zerstören es. Die immer vager werdenden Straftatbestände, die, zusammen mit der Logik "bei wem nichts gefunden wird, der war bisher nur zu clever", jedes Verhalten zu einem Vabanquespiel machen, führen dazu, dass die Einhaltung der Regeln immer stärker ignoriert wird. Wer sowieso nicht mehr steuern kann, ob, wann und wieso er ins Fadenkreuz der Überwachung mit all den negativen Begleiterscheinungen gerät, der wird früher oder später zu einer "nichts-zu-verlieren"-Haltung finden. Wer nicht mehr sehen kann, ob, wann und wie er gegebenenfalls gegen Gesetze oder Verordnungen verstößt, der ignoriert diese Gefahren. Wenden sich aber zu viele von der Bevölkerung von den Regelungen ab, die die Demokratie und den Rechtstaat mit ausmachen, so bedarf es von Seiten der Sicherheitsapologeten erneuter oder verstärkter Regelungen - und deren möglichst drastische Durchsetzung. Solche eine Endlosspirale der Aufrüstung im Land mündet irgendwann in Diktatur oder Anarchie. Doch genau diese Gefahr, wie auch der Gefahr der sozialen Unruhen, wird von denen negiert, die andere Gefahren gerne auch einmal erfinden. Denn wenn diese Gefahren existent sind, dann stellt sich die Frage, warum hier "Pimp my Terrorwarnung" oder "Pimp my Überwachungsgrund" gespielt wird.

Das ergangene Urteil ist in Zeiten, in denen sich die Sicherheitsbewahrer des Rechtstaates, wie sie sich selbst deklarieren, während sie den Rechtstaat systematisch missachten und aushöhlen, umso wichtiger. Kein Wunder also, dass das Bundesinnenministerium es als Gefahr sieht. In diesem Fall handelt es sich sogar einmal um eine reale Gefahr.