Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz

Haute tension, Frontière(s), A l’intèrieur, Eden Lake

Wie eine Bundesoberbehörde die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts befolgt

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Teil 1: Kasperltheater, Folterpornos und Zensoren

Franzosen, Briten, Österreicher, Schweizer, Finnen und auch die Amerikaner machen es sich leicht. Filme für Erwachsene werden ungekürzt für Erwachsene freigegeben, für Kinder aber nicht. Alle demokratischen, mit Deutschland vergleichbaren Staaten dieser Welt sind der Meinung, dass das reicht. In Frankreich muss man 16 sein, um die vollständige Fassung von Haute tension, Frontière(s), A l’intèrieur oder Eden Lake sehen zu dürfen, in den USA 17, in Österreich und Großbritannien 18. Kann man so die Jugend schützen? Auf keinen Fall! Nur wir Deutsche wissen, wie es richtig geht. Man braucht miteinander konkurrierende Einrichtungen und ein kompliziertes, mehrgliedriges Prüfverfahren, das dazu führt, dass auf DVD-Hüllen "FSK ab 18" steht oder "SPIO/JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung" oder "SPIO/JK geprüft: strafrechtlich unbedenklich". Am Ende werden dann Filme, die aus Gründen des Jugendschutzes auch für Erwachsene nur gekürzt auf den Markt gekommen sind, gleich ganz verboten. Da wir hierzulande nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, muss es dafür gute Gründe geben. Ich will versuchen, diese Gründe zu entdecken.

Bildungsstandort Deutschland

Man kann nicht überall der Erste sein. Wir haben uns dafür entschieden, an vorderster Front gegen die jugendgefährdenden Medien zu kämpfen. Beim Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt sind wir dagegen, gemessen an anderen Industriestaaten, ganz weit hinten. Das steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu Politikerreden, denen zufolge die Bildung unser wichtigster Rohstoff ist und wir durch Investitionen in die Bildung die Zukunft unserer Kinder sichern. Solche Investitionen wären demnach die beste Form von Jugendschutz. Aber ist Geld wirklich so wichtig? Kann nicht auch so eine Bundesprüfstelle, die sicher viel billiger ist als kleine Schulklassen und gut ausgebildete Lehrer, den Bildungsstandort Deutschland stärken? Und in der Tat, von der BPjM lässt sich etwas lernen.

Lektion 1: Rhetoriktricks (kosten praktisch nichts). Sehr beliebt: Man nimmt dem Gegenüber den Wind aus den Segeln, indem man sich überlegt, was einem dieser vorwerfen könnte und nennt den Vorwurf gleich selber. Wenn man das geschickt macht, entsteht der Eindruck, als habe man die Einwände des Gegners bereits berücksichtigt, weshalb darüber nicht mehr diskutiert werden muss. Also etwa so: "Man wirft uns vor, dass wir gegen die Freiheit der Kunst verstoßen, die ein hohes Verfassungsgut ist, aber das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass auch der Jugendschutz ein hohes Verfassungsgut ist und in jedem Einzelfall zwischen diesen beiden Gütern genau abgewogen werden muss. Wir kennen diese Vorgaben des Gerichts, und selbstverständlich befolgen wir sie, denn schließlich befinden wir uns in einem Rechtsstaat." Das ist schön, bleibt aber reine Rhetorik, wenn keine Belege folgen. Aus der Indizierungsentscheidung (IE) zu A l’intèrieur (S. 12):

Das 3er-Gremium vermag in dem verfahrensgegenständlichen Film keine den Jugendschutz überwiegende Kunst festzustellen. Ein besonderes künstlerisches Konzept und eine künstlerische Gestaltung oder Einbettung in eine Gesamtkonzeption eines Kunstwerkes sind trotz z.T. für gut befundener schauspielerischer Leistung nicht feststellbar.

Das liest sich doch sehr gut. So muss im Land der Dichter und Denker eine Begründung sein, die zum Verbot eines Filmes führt. Dieser Film ist keine Kunst, weil … ja genau, weil er keine Kunst ist. Im ersten Satz schreibt das 3er-Gremium, dass es keine Kunst festzustellen vermag. Und im zweiten, in dem der naive Leser die Begründung erwarten würde, erfährt man, dass die Kunst nicht feststellbar ist. Das ist nochmal dasselbe, wirkt aber irgendwie anders und klingt nach mehr, weil die Aktivkonstruktion (wir können nichts feststellen) durch eine verallgemeinernde Passivkonstruktion (nicht feststellbar) ersetzt wird. Rhetorisch kann ich dem durchaus etwas abgewinnen, zumal der "Gründe"-Teil solcher IE immer mit diesem Versatzstück beginnt: "Die DVD [deutscher Verleihtitel] war anregungsgemäß zu indizieren."

"Wir indizieren" ist zu wenig. Das 3er-Gremium folgt scheinbar einem höheren Gesetz. Da ich dieses Gesetz nicht kenne und bei Rhetoriktricks immer misstrauisch werde, frage ich mich allerdings, ob keine Kunst feststellbar war, weil dieser Film ein Machwerk ist (davon gibt es viele), oder ob es vielleicht doch am Vermögen respektive Unvermögen des 3er-Gremiums lag, so etwas zu beurteilen. Von den anonymisierten Beisitzern ist nur bekannt, dass sie aus den Bereichen "Anbieter von Bildträgern und von Telemedien" bzw. "Kirchen u. Religionsgemeinschaften" kommen. Über ihre Qualifikation sagt das kaum etwas. Mit "Qualifikation" meine ich nicht eine irgendwie geartete sittlich-religiöse Gesinnung, einen gottgefälligen Lebenswandel oder die allerbesten Absichten, die ich keinem der Beteiligten absprechen möchte. Ich meine so etwas Prosaisches wie die Fähigkeit zu einer analytischen Filmbetrachtung und gewisse Grundkenntnisse über das Medium.

Bildliche Visualisierung

Falls eine solche Qualifikation vorhanden ist, müsste sie sich im Begründungstext entsprechend niederschlagen. Ich orientiere mich ganz an den Vorgaben der BPjM. Zitat (IE zu A l’intèrieur, Seite 7):

Bei der Prüfung einer möglichen jugendgefährdenden Wirkung von gewalthaltigen Träger- und Telemedien auf Kinder und Jugendliche sind auch die jeweilige Genrezugehörigkeit sowie die genretypische dramaturgische und bildliche Visualisierung zu berücksichtigen. Auch bei der Maßgabe, dass es sich bei dem verfahrensgegenständlichen Film um einen Horrorfilm handelt, konnte das Gremium nicht zu einer anderen Einschätzung gelangen.

Solche stilistischen Schnitzer wie die jugendgefährdende Wirkung auf die Jugend, die bildliche Visualisierung und die voyeuristische Betrachtung des Betrachters (siehe Teil 1) passieren mir auch. Meistens fallen sie mir auf, wenn ich einen Text noch einmal durchlese. Dann ändere ich sie, weil man seine Glaubwürdigkeit untergräbt, wenn man die Arbeit anderer Leute beurteilt und die eigenen Texte schlampig hinschludert (das wirft auch kein gutes Licht auf den Bildungsstandort). Aber ich will hier nicht den verhinderten Deutschlehrer geben. Die Frage ist: Konnte das 3er-Gremium zu keiner anderen Einschätzung gelangen, weil dieser Film miserabel ist und nur Gewalttaten aneinanderfügt, um niedere Triebe zu befriedigen oder weil das Gremium von Horrorfilmen keine Ahnung hat? In diesem Fall wäre es den drei Damen und/oder Herren unmöglich, die selber formulierten Ansprüche zu erfüllen. Das Gremium hätte sich dann selbst disqualifiziert.

Wir wissen jetzt also, dass Filme generell als Kunstwerk zu betrachten sind und dass man die Qualität eines Kunstwerks nur beurteilen kann, wenn man weiß, zu welcher Gruppe von anderen Kunstwerken es gehört, in welcher künstlerischen Tradition es steht, auf welche traditionellen Darstellungsformen es sich bezieht und so fort. Für Horrorfilme gilt das genauso wie für Schmonzetten, Krimis und 101 Dalmatiner, den Lieblingsfilm von Frau Monssen-Engberding. Es handelt sich hierbei nicht um eine originäre Erkenntnis der BPjM, sondern um eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Der BPjM ist das bekannt, denn sie schreibt in der IE zu A l’intèrieur (S. 10):

Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zum Ausdruck gebracht werden. […] Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Fantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit.

(BVerfG v. 24.02.1971, 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173, 189)

Neben dieser wertbezogenen, auf die freie schöpferische Gestaltung abzielenden Umschreibung greift das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen auch auf einen eher formalen Kunstbegriff zurück. Diesen formuliert es wie folgt: " Das Wesentliche eines Kunstwerks liegt darin, dass bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind."

(BVerfG v. 17.07.1984, BvR 816/82, BVerfGE 67, 213, 226 f.)

Aus dem "eher formalen Kunstbegriff" folgt, dass man die Form berücksichtigen muss. Das ist schwieriger als die Aufzählung von ein paar Gewalttaten. Die Mitglieder des 3er-Gremiums dürfen das privat durchaus als zu anstrengend empfinden. Und wenn die BPjM der Meinung sein sollte, dass ein solcher Kunstbegriff den reibungslosen Ablauf der Indizierung stört, kann sie versuchen, ein anderes Urteil zu erwirken. Aber solange ihr das nicht geglückt ist, muss sich eine solche Behörde, die zensieren und verbieten kann, an das halten, was das Bundesverfassungsgericht verlangt. Es geht hier nicht um ein paar Filme. Es geht um unsere Grundrechte. Das betrifft jeden und hat nichts damit zu tun, ob man solche Filme mag.