Boykott der Realitäten

Über die Macht der "Informationsbiotope": Trotz der Erfolgsmeldungen von Aktivisten sind die Sanktionsaufrufe gegen Israel bislang erfolglos geblieben

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Seit der israelischen Militäroperation im Gazastreifen Ende 2008, Anfang 2009 hat die Zahl der internationalen Boykott-Aufrufe gegen Israel zugenommen, die bereits seit Jahren immer wieder vor allem in Großbritannien, den skandinavischen Ländern und in den Vereinigten Staaten laut wurden. Doch nun hätten diese Aufrufe auch Erfolg, erklären pro-palästinensische Organisationen und auch ein Artikel, der hier veröffentlicht wurde (siehe Boykott, Desinvestment und Sanktionen).

Dort heißt es: Israel gerate zunehmend unter Druck, weil wegen des Boykotts die Verkaufszahlen israelischer Produkte im Ausland gesunken seien, amerikanische Universitäten ihre Anteile an israelischen Unternehmen oder ausländischen Firmen verkauften, die Erzeugnisse an den israelischen Staat liefern, sich in Südafrika und einigen südamerikanischen Ländern die Hafenarbeiter Anfang des Jahres kurzzeitig weigerten, israelische Schiffe zu entladen, einige Staaten ihre Beziehungen zu Israel abbrachen und sich der französische Konzern Veolia nach dem Verlust einiger Verträge in Europa aus dem Bau der Jerusalemer Straßenbahn zurück gezogen habe.

Doch von einem erfolgreichen Boykott kann keine Rede sein: Gesunkene Verkaufszahlen israelischer Produkte gehen auf die internationale Finanzkrise zurück, die wohl auch eine Rolle in der Kündigung von Fondsanteilen durch eine amerikanische Universität gespielt haben dürfte, während der französische Konzern Veolia vor allem durch die durch ständige Verzögerungen beim Bau der Jerusalemer Straßenbahn und die dadurch drohenden Strafen in die Knie gezwungen wurde, aber bislang keinen Käufer für die Anteile am Konsortium gefunden hat.

Meldungen wie diese werden in Informationsbiotopen, also geschlossenen Kreisen aus Webseiten und Blogs, geschaffen, die abseits der Mainstream-Medien im Internet, jedes für sich, pro-palästinensische wie pro-israelische Aktivisten nähren und es ermöglichen, die komplexen Realitäten des Konflikts zwischen Jordan und Mittelmeer soweit zu vereinfachen, dass sie an die jeweiligen Vorstellungen der Konsumenten angepasst werden können.

“Nichts muss so sein, wie es aussieht“: Zum Zionismus

Irgendwann Ende der 90er ist der englische Professor (der sich verbittet, seinen Namen zu nennen, wenn man Schwänke über ihn erzählt), in seinem ebenso makellosen wie aus der Mode gekommenen Zweireiher mit rotem Einstecktuch stark an den Polizeichef in einem Edgar-Wallace-Film erinnernd, in seinen Londoner Hörsaal gestürmt, hat sich vor seinen an die 100 Studenten, Kriminologie, erstes Semester, die meisten aspirierende Polizeibeamte oder Polizeibeamte mit Aspirationen, einer davon ein wegen journalistischer Tätigkeit zu vier Jahren Kriminologie-Zweitstudiums ("Glauben Sie mir, dass werden Sie brauchen können", hatte der Studienberater während des Vorstellungsgespräches gesagt) verurteilter Israelstudienstudent, aufgebaut, und hat ein Bild auf den Overhead-Projektor geworfen. Auf der Leinwand vor der Klasse erschienen ein Jugendlicher und ein Polizist in Uniform im Profil, sich mit ernsten Gesichtern ansehend, der Polizist die rechte Hand auf den Oberarm des Jugendlichen gelehnt. Dahinter: Ein Straßenzug in einem großstädtischen Wohnviertel irgendwo in Großbritannien, gelbgrünes Polizeiabsperrplastikband, quer über die Straße gezogen.

Der englische Professor schwieg, schaltete nach einer kurzen Weile den Projektor aus und sagte dann in tiefstem Arbeiter-Ostlondon-Akzent: "Und jetzt schreibt jeder auf, was da passiert ist" und verschwand, um einen Tee zu trinken. Die Auswertung der Aufsätze ergab, dass sich die Studenten so gut wie einig waren, dass sie da die Festnahme eines jugendlichen Straftäters gesehen hatten. Einige glaubten sogar, Blut auf der Kleidung des vermeintlichen Täters gesehen zu haben. Die Realität war anders, und offenbarte sich, als der englische Professor am kommenden Tag zur nächsten Vorlesung den Raum betrat, im Schlepptau den Polizisten. Und den Jugendlichen. Der sein Sohn ist. Und der gemeinsam mit seinem Vater hoch und heilig versicherte, er habe keinesfalls jemals eine Straftat begangen, auch keine blutbeschmierte Kleidung getragen, und auch zum Zeitpunkt der Aufnahme keinen Stress mit seinem alten Herren gehabt – vor allem wenn Personen in Uniformen im Spiel seien, setze das Hirn das Gesehene mit dem im Hirn aus Medien-Informationen, persönlichen Erfahrungen und/oder auf Grund einer speziellen Situation gebildeten Erwartungen zu einem Gesamtbild zusammen, erklärte der Professor. "Merkt Euch, dass nichts so sein muss, wie es aussieht, oder zu sein scheint", gab er seinen Studenten mit in den Rest des Studiums.

Es war die für den Autor dieses Textes wichtigste Lektion neben der Vorlesungsreihe "Geschichte des Zionismus", in der ein Dozent namens Colin Shindler in diesem Studienjahr akribisch das Entstehen, die Grabenkämpfe zwischen Befürwortern von Gewalt und Diplomatie, die unterschiedlichen Ströme die von religiösem und spirituellen über kulturellen bis hin zum politischen und zum revisionistischen Zionismus, um nur einige wenige der vielen Richtungen zu nennen, vorstellte. Denn auch hier gilt: Was man sieht, ist nicht notwendigerweise, was es ist. Es gibt Zionisten, die für die Besatzung der Palästinensischen Gebiete aus religiösen und/oder wirtschaftlichen Gründen sind; es gibt Zionisten, die sie als strategische Notwendigkeit betrachten; es gibt Zionisten, die nur in der Region leben, um dem Zentrum des Judentums nahe zu sein, und von denen einige, das wären die orthodoxesten unter den Ultraorthodoxen, den Staat Israel ablehnen.

Und dann gibt es noch DEN Zionismus, von dem pro-israelische Aktivisten sprechen, während sie Araber, und Palästinenser im Besonderen, zu ungebildeten, zur politischen und sozialen Diversität unfähigen Hinterwäldlern und Israel zum Land, wo Milch und Honig fließen und den Zionismus zur, meist romantisch verklärten, überlegenen gesellschaftlichen und politischen Ideologie erklären, und es gibt DEN Zionismus, den pro-palästinensische Aktivisten benutzen, um zu sagen, dass Israel schlimm ist, wenn sie nicht gerade von "Apartheid", "Holocaust", "Genozid" sprechen, und damit im Prinzip nur versuchen, etwas in Worte zu fassen, für das es kein eigenes zusammenfassendes Wort gibt, weil der Nahostkonflikt nicht einfach ist, sondern ausgesprochen komplex, indem sie sich die Begriffe bei anderen Konflikten ausleihen, und damit den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in einen Kontext mit dem Holocaust, mit der Apartheid in Südafrika, mit Kurdistan oder Tschetschenien stellen, obwohl der Konflikt im Nahen Osten es verdient hat, für sich alleine zu stehen, denn Verallgemeinerungen, Verknappungen, Beschimpfungen haben die Menschen, die tagtäglich auf beiden Seiten unter diesem Konflikt auf eine der vielen verschiedenen Möglichkeiten des Leidens ächzen, nicht nur nicht verdient - sie tragen auch nicht zur Lösung bei.

Es ist aber genau dies, das die Autorin des Textes "Boykott, Desinvestment und Sanktionen" tut: Verallgemeinern. Verknappen. Und vor allem das: Den Lesern eine ganze Reihe von fehlerhaften Informationen liefern. Mayanim Eden, oder "Eden Springs", wie die Firma im Ausland heißt, verkauft in Großbritannien mitnichten Wasser von den Golanhöhen, sondern aus Schottland und Nord-England. "Wenn wir Wasser von hier nach Europa fliegen würden, wäre die Flasche wohl doppelt so teuer", sagt ein Sprecher des Eden-Hauptsitzes in Bnei Brak, was nicht auf dem Golan, sondern ein paar Kilometer östlich von Tel Aviv liegt.

“Das hübsche Bild Israels“

Beim Toronto Film Festival (hier die Liste der Filme) wurde kein „hübsches Bild Israels“ gezeigt und auch kein Hübscheres, sondern es waren Filme, die sich mit der soziopolitischen Lage ("Ajami"), mit den gerade in Israel heftigst diskutierten illegalen Einwanderern ("Bena"), auch mit der Realität des Krieges ("Carmel"), mit der Seifenblase des leichten Lebens in Tel Aviv ("HaBuah - The Bubble") befassen.

Die einzigen beiden leichteren Filme waren die Kischon-Verfilmung "Der Blaumilchkanal", in der es um die Absurditäten des israelischen Beamtenapparates geht,und die 70er-Jahre Komödie "Einajim G'doloth - Big Eyes", die von einem Basketball-Trainer handelt, der nicht weiß, was er will. Die Qualität der Filme variiert, aber sie zeigt keinesfalls ein Bild Tel Avivs, wie es das israelische Tourismusministerium gerne zeichnen möchte.

Keine verlässlichen Statistiken für den Erfolg der Boykotte

Dafür, dass die Boykott-Aufrufe in Europa tatsächlich Erfolge erzielt und zu einem Rückgang des Verkaufs israelischer Produkte geführt haben, gibt es keine verlässlichen Statistiken. Ganz im Gegenteil: Dass sich 31 Prozent der Norweger für einen Boykott Israels ausgesprochen haben sollen, hat in der Realität keinen Effekt gehabt: Das israelische wie das norwegische Wirtschaftsministerium erklärten beide auf Anfrage knapp, man habe nicht den Eindruck, als habe es irgendwann in den vergangenen Monaten einen Rückgang bei Ex- (Israel) oder Importen (Norwegen) gegeben.

Und die Zeitung Dagsavisen hatte nach dem Boykottaufruf der sozialistischen Partei sogar direkt bei Unternehmen nachgefragt und überwiegend "business as usual" zu Antwort bekommen. Was uns auf die Wirtschaftskrise bringt: In vielen Ländern, und auch in Israel, haben die unzähligen Nachrichten von finanziellem Zusammenbruch auch jene mit Kaufkraft dazu gebracht, die teuren Sachen lieber im Laden zu lassen; in Israel meldeten die Supermarkt- und Kaufhausketten deshalb Umsatzeinbrüche von bis zu einem Drittel.

Veolia

Israels Wirtschaftsministerium sowie das Statistische Landesamt führen auch den 21prozentigen Rückgang der Umsätze im Ausland in den ersten Monaten des Jahres darauf zurück - und auf den ungünstigen Wechselkurs, denn am meisten betroffen war Israels wichtigstes Exportgut: Diamanten, deren Handel stärker von der Wirtschaftskrise betroffen war und ist als der anderer Güter. Warum Veolia aus Bau und Betrieb der Jerusalemer Straßenbahn ausgestiegen ist, daran scheiden sich derweil die Geister, weil der Konzern dazu selbst kaum etwas sagt: Gut möglich, dass dabei der Verlust von Verträgen mit einigen Städten in Europa eine Rolle gespielt hat - in Kombination allerdings mit einigen anderen Faktoren, die schwerer gewogen haben dürften: Die Straßenbahn, die übrigens nur knappe 3,6 der insgesamt 13,8 Kilometer östlich der Grünen Linie verlaufen soll, kommt einfach nicht in Fahrt.

Zuerst war 2007 für die Inbetriebnahme angepeilt worden, dann 2009, im vergangenen Jahr einigte man sich dann auf Herbst 2010 - und im Mai brachte das Konsortium CityPass, an dem Veolia bis jetzt mit fünf Prozent beteiligt ist, Regierung und Jerusalemer Stadtverwaltung, die durch die Jahre langen Bauarbeiten genervten Bürger im Nacken, durch die Ankündigung auf, man werde wohl doch noch mal um die neun Monate länger brauchen. Es folgte die Androhung von heftigen, möglicherweise Dutzende Millionen Euro teuren Vertragsstrafen (von denen man bis dahin trotz der Jahre langen Verzögerungen keinen Gebrauch gemacht hatte), was das eigentlich lukrative Geschäft für Veolia, das die Bahn in den kommenden 30 Jahren hatte betreiben sollen, mit großer Sicherheit ziemlich unattraktiv gemacht haben dürfte - die zu erwartenden Einnahmen dürften nach Ansicht von Experten durch die zu erwartenden Strafen mindestens auf Null gesetzt haben; die Vertragskündigungen in Europa hätten daraus ein absolutes Verlustgeschäft gemacht - vor dem Veolia übrigens auch jetzt noch nicht sicher ist.

Zwar verhandelt man mit der Buskooperative Dan, die fast ausschließlich in Tel Aviv operiert, aber die hat weder Erfahrungen mit Eisenbahnen irgendeiner Art noch möchte sie gerne irgendwelche Strafen zahlen - für den Rest des Konsortiums und für die Regierung, die das Ganze genehmigen muss, ein deal breaker und für Veolia erst einmal kein Anlass zur Hoffnung, denn weitere Kandidaten sind nicht in Sicht.

Hampshire College: Keine politischen Motive, sondern finanzielle Erwägungen

Und ein Sprecher des Hampshire Colleges im US-Bundesstaat Massachussetts wiederholte in einem Telefonat am Dienstag erneut, was man ungefähr so bereits im Februar unter anderem dem Boston Globe nachlesen konnte: Die Entscheidung, sich aus einem Investment Fonds der State Street Global Advisors, der institutionellen Investment-Abteilung der US-Investmentfirma State Street, zurück zu ziehen, habe nichts mit einem bestimmten Land oder einer bestimmten politischen Bewegung zu tun gehabt, heißt es als Antwort auf die Behauptung der "Students for Justice in Palestine", einer lokalen Campus-Organisation, der Rückzug sei die Antwort der Universitätsleitung auf eine Petition, die insgesamt 800 Studenten unterzeichnet haben.

Viele der Unternehmen, an denen der Fonds Anteile hält, hätten die Bestimmung des Colleges für "sozialverantwortliche Investitionen" verletzt. Tatsächlich habe man sich nur von Anteilen an vier der sechs von den Studenten auf die schwarze Liste gesetzten Unternehmen getrennt. Man halte weiterhin Anteile an drei israelischen Unternehmen und an mehr als 200 Firmen, die enge Verbindungen zu Israel haben.

Außer den sozialen Erwägungen hätten, räumt der Sprecher ein, zudem rein finanzielle Erwägungen eine Rolle gespielt: Der State Street Global Advisors-Fonds machte ein Viertel aller Gesamtinvestitionen des kleinen aber teuren Colleges aus, das durch die Finanzkrise wie viele andere Privat-Unis in den Staaten Probleme hat, seinen bedürftigen Studenten weiterhin in gewohnter Weise finanziell durchs Studium zu helfen: "So oder so hätten wir uns von zu diesem Zeitpunkt von Aktien trennen oder hohe Verluste in Kauf nehmen müssen. Alles in allem haben wir Glück gehabt."

Informationsbiotope im Netz

Wie gesagt: Was man sieht, ist nicht unbedingt was war oder ist. Dieser Satz hat im Zeitalter des Internets eine zusätzliche Bedeutung gewonnen. Die Informationen im Text scheinen zu einem großen Teil aus Pressemitteilungen von pro-palästinensischen Aktivisten-Organisationen und Berichten aus Medien mit erklärt pro-palästinensischer Ausrichtung entnommen zu sein - was einem gewissen Trend entspricht: Im Netz haben sich regelrecht Informationsbiotope gebildet, die einem bestimmten Interessentenkreis zuliefern und sich dabei selbst nähren.

Falsche Informationen werden durch dutzendfache Wiederholung irgendwann als wahr angenommen, die Widerlegung nimmt kaum jemand wahr, weil sie im Nachbar-Biotop stattfindet. Im pro-israelischen Umfeld lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten: Man sammelt sich seine Informationen irgendwo im Dunstkreis von Israel National News (rechtsextrem) und Jerusalem Post (staatstragend, wenn die Regierung konservativ ist) zusammen, bereitet sie im eigenen Blog auf, das wiederum von Gleichgesinnten gelesen wird, die höchstens mal bei Haaretz oder Jedioth vorbeischauen, um nur zwei israelische Mainstream-Medien zu nennen, um in den sogenannten "Talkbacks", wie die Foren in Israel heißen, mal kräftig gegen die Linken, die angeblich Israels Medien fest im Griff haben und die natürlich auch für alles Übel im Lande verantwortlich sind, zu pöbeln.

Nahezu an jedem beliebigen Abend außer an Jom Kippur, wenn Israel geschlossen ist, kann man in Israels Kneipen dann Zeuge werden, wie sich die Angehörigen beider Gruppen, die gerade in der Region zu Besuch sind, am Ende der letzten Demo des Tages oder nach dem jüngsten Gespräch über die Notwendigkeit der israelischen Besiedlung des Westjordanlandes, das dann mit seinen biblischen Namen Judäa und Samaria bezeichnet wird, aneinander vorbei reden, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen, und man kann, während sich die anwesenden israelischen Juden, Christen und Muslime, von denen recht viele das Nachtleben Jerusalems, Tel Avivs und Haifas trotz der Belehrungen ausländischer Aktivisten schätzen, danach sehnen in Ruhe ihre Gespräche über irgendwas mit F fortsetzen zu können, miterleben, wie es kräftig kracht zwischen beiden Lagern, weil beide völlig unterschiedliche Informationen zum gleichen Vorgang in den Raum stellen.

Dass es im Nahostkonflikt unterschiedliche Narrative, also Sichtweisen eines Vorganges, wie beispielsweise des Krieges 1948/49, gibt, ist nichts Neues: Was für Juden die Unabhängigkeit war, ist für Araber die Nakba (Katastrophe). Die einen sagen, die Flüchtlinge seien geflohen; die anderen erklären, sie seien geflüchtet. In der Schnittmenge sind beide Narrative wahr: 48/49 endete für die einen ihre Welt, und begann für die anderen eine neue. 48/49 und 1967, während des Sechs-Tage-Krieges flohen manche und andere wurden vertrieben. Neu sind allerdings die Meta-Realitäten ausländischer Aktivisten, die die jeweilige Seite, für die sie eintreten, romantisieren und die Gegenseite verdammen und die diese gruselige Romantisierung aus persönlichen Berichten, deren Wahrheitsgehalt nach der x-ten Wiederholung nicht nur nicht mehr nachprüfbar geworden ist, wenn es jemand tun wollen würde, sondern auch so verklärt worden ist, dass die eigene Seite nur noch in vollster Glorie dastehen kann, und wenn auch nur, weil die andere Seite so furchtbar ist.

Informationen und Aktivisten

Gleichzeitig werden Hinweise auf einen Mangel auf Informationen gestreut und selbst die Ausführungen von Experten oft von der Hand gewiesen, weil man es ja von jemandem erzählt bekommen hat, der es von jemandem erzählt bekommen hat, dessen Wahrheitsliebe und Überblick über die Dinge er völlig vertraut. Oder weil auf der anderen Seite die Dinge so unübersichtlich sind, dass sich auch Experten irren können. So machte beispielsweise nach der Stürmung eines Gefängnisses in der palästinensischen Stadt Jenin im März 2006 durch das israelische Militär die Geschichte die Runde, die Soldaten hätten gegen die Zivilbevölkerung mit sogenannten "Dumm-Dumm-Geschossen" eingesetzt, also Patronen, die sich beim Eindringen in den menschlichen Körper in Einzelgeschosse aufteilen und dadurch verheerendste Verletzungen anrichten - in einem Krankenhaus seien junge Männer mit Verletzungen an den Beinen behandelt worden.

Selbst die Palästinensische Autonomiebehörde, sonst stets schnell bei der Sache machte sich diese Version niemals zu eigen, denn nicht nur die behandelnden Ärzte hatten erklärt, die Verletzungen seien durch abgesplitterten Straßenbelag an diesem ausgesprochen heißen Tag hervor gerufen worden - mehrere Journalisten hatten auch noch gefilmt, wie Soldaten mehrmals auf die Straße feuerten. Dennoch hält sich die Version bis heute - und verschleiert damit den Blick darauf, dass das Militär während dieser Operation völlig veraltete Methoden angewandt hatte. Heutzutage sollen gegenüber der Zivilbevölkerung so gut wie ausschließlich Gummigeschosse und Tränengas zum Einsatz kommen, was schon gefährlich genug ist. Aber Echt-Munition ist noch gefährlicher. Und ihr Einsatz führte übrigens zur Suspendierung der verantwortlichen Soldaten.

Aktivismus ist eine Welt für sich

Aktivismus ist eine Welt für sich, in der die Sache, für die er eintritt, oft nur noch Anlass, aber nicht mehr Leitschnur ist, und in der Lösungen oft keinen Platz mehr haben, weil sie diese Welt zerstören könnten und in der das, was die Menschen wollen, nicht unbedingt das ist, was der Aktivist will, der sich zu Hause im digitalen Info-Biotop sein scheußlich-schönes Bild der Sache gebildet hat. So wären die meisten Israelis zum Beispiel die ohne Genehmigung gebauten Siedlungsaußenposten im Westjordanland besser gestern als heute los, während nicht wenige ausländische pro-israelische Aktivisten nach einem Besuch in so einem Posten das Archaische, das Religiöse rühmen und die ewige Beibehaltung dieser Kleinstsiedlungen, der Bewohner bei geschätzten 400 Siedlern liegt, fordern, weil's in der Bibel stehe, und/oder weil...

Und so müssen mit der Zeit ganze palästinensische Dörfer feststellen, dass die freitäglichen Demonstrationen ausländischer Aktivisten nicht die Mauer, die in weiten Teilen ein Zaun ist, beseitigen, die sie von ihrem Land trennt, sondern dass das verbliebene Land auch noch von Ausländern, Soldaten und Polizisten zertrampelt wird und sie zudem an die Grenzen, und darüber hinaus, ihrer Moralvorstellungen gebracht werden, wenn die Ausländer und Ausländerinnen an heißen Tagen die Hüllen bis zum Nötigsten fallen lassen.

Die weniger Action-geladene, aber dafür um so härtere, weil oft langwierig und durch sichtbare Rückschläge zermürbende Arbeit machen derweil die Freiwilligen einheimischer Organisationen auf beiden Seiten, wie die Frauen von Machsom (Checkpoint) Watch, die Tag für Tag an den Kontrollposten der Armee stehen, und den meist jungen, entweder übereifrigen oder völlig frustrierten Soldaten durch ihre Präsenz darauf hinweisen, dass es Ärger gibt, wenn sie die Zivilbevölkerung schikanieren. Oder die Mitarbeiter von einheimischen Organisationen, Arabischen und Jüdischen gleichermaßen, die Regierung und Militär mit Klagen überziehen (siehe Grund zum Klagen) und damit bereits mehr Erfolge gegen den Verlauf der Sperrmauer erzielt haben, als die ausländischen Aktivisten mit ihren Demonstrationen.

Unwissen und Erfolgsgeschichten

Die Aktionen der Aktivisten sind weitgehend zum Selbstzweck geworden, und damit auch die Boykottaufrufe, die in der Tat seit Gaza zugenommen haben. Operation "Gegossenes Blei" (nur nebenbei: Es gibt eine gemeinsame Kommission von Verteidigungsministerium und Regierung, die Kriegen und Operationen Namen gibt; die Prozesse, die zu diesen Namen führen, konnte auch ein Sprecher des Verteidigungsministeriums nicht erklären) und die Ereignisse, die dazu führten, haben auf beiden Seiten Emotionen aufkommen lassen, wie sie selbst der Libanon-Krieg nicht erzeugte und über deren Beweggründe man nur spekulieren kann, weil es dazu einfach noch keine Studien gibt: Vielleicht liegt es daran, dass sowohl Israel als auch Hamas die Berichterstattung mehr denn je steuerten, und es ihnen damit gelang, ihre respektive Seite über Fernsehbilder und Blogs besser denn je anzusprechen.

Jedenfalls war in jenen Wochen selbst von am Nahost-Konflikt normalerweise chronisch Uninteressierten immer wieder Aussagen wie "Den Menschen da geht's wegen der Israelis schon so schlecht, und jetzt geben die denen auch noch was aufs Dach" zu hören, während der Raketenbeschuss von Sderot nicht die gleiche Wirkung erzeugen konnte: "Warum ziehen die nicht weg?", war hier eine ebenso häufige Frage wie Aussagen entlang von "Die Raketen haben doch bisher kaum jemanden getötet". Die Angst vor dem nächsten Angriff, die bedrückenden Tage und Nächte im Bunker und die Armut, hervorgerufen durch die von den Raketen erzeugte hohe Arbeitslosigkeit, die die Menschen vom Wegzug abhielt und -hält, lässt sich eben wenn überhaupt schlecht filmen. Es ist nur eine Vermutung, aber so dürfte die Meinungslage in der westlichen Welt entstanden sein.

Und damit auch die Boykottaufrufe von Gewerkschaften, Parteien, Solidaritätsgruppen aus aller Welt, die jetzt pro-palästinensische Aktivisten zum Erfolg erklären, die selbst auch dann keiner wären, wenn sie von vielen Menschen befolgt würden, was nicht der Fall ist, weil sich außerhalb von Solidaritätsgruppen kaum jemand an Gaza, und was da im Januar war, mehr erinnert, und die, die es tun, nicht wirklich wissen, wo eigentlich überall Israel drin ist - zum Beispiel im Blumenstrauß zum Muttertag.

Blumen stehen auf der Liste der israelischen Exporte ganz weit oben, und die Chance, dass die Rose für die Angebetete in Europa von einer palästinensischen Mitarbeiterin gesät, geschnitten oder abgepackt wurde, ist recht groß. Denn nicht nur, dass Israel einer der größten Exporteure von Blumen ist - viele der Mitarbeiter, wie auch in anderen Industrien, sind arabische Israelis oder Palästinenser, deren Jobs in dieser und anderen stark von Exporten abhängigen Industrien als erste auf dem Spiel stehen, wenn es mit dem Absatz nicht mehr klappt. Aber noch viel mehr als das: Der Preis ist erfahrungsgemäß nicht so wie erwartet. In so gut wie allen Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten boykottiert wurden, war der Effekt anders als erhofft: Im Irak, in Kuba, in Iran, in Libyen stellten sich die Menschen auf die Seite des eigentlich von ihnen ungeliebten Regime, weil die mit martialischen Sprüchen gelobten, den Menschen aus ihren plötzlichen Notlagen zu helfen, oder ihnen wenigstens ein Wir-Gefühl vermitteln, das dabei hilft, durchzuhalten.

Ähnliches ist schon beim kleinsten Boykott-Aufruf auch in Israel zu beobachten: Die Äußerungen von ehemaligen und amtierenden Botschaftern und Politikern und selbst Journalisten sind eher Gefühlsaussagen, als auf echten Zahlen und Fakten basierende Analysen und Beobachtungen. Mit gleich viel Verve zeigt man sich erfreut, wenn irgendjemand im Ausland etwas Nettes über Israel sagt, und das sit noch viel mehr in diesen Monaten der Fall, in denen sich im Nahen Osten nichts vor und nichts zurück bewegt (siehe Die Fehler des Präsidenten und Der Gipfel der grimmigen Männer).

Boykott und Stillstand

Auch der Sinn eines Boykotts der israelischen Akademie, sofern er denn überhaupt durchsetzbar wäre, ist umstritten - ebenso die Folgen. Während einer langen öffentlichen Debatte über mehrere Boykott-Aufrufe in Großbritannien seit 2007 kommentierte die Zeitung Guardian im Juli 2008, ein akademischer Boykott würde "mit großer Wahrscheinlichkeit" mehr schaden als nützen:

Würde Israels Regierung ihre Politik ändern, wenn israelische Akademiker vom Rest der Welt abgeschnitten wären? Bestimmt nicht. Stattdessen würden die Falken gestärkt, deren Dogma von Groß-Israel davon abhängt, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist. Forschung und akademischer Austausch sind das Gegenteil davon und müssen deshalb nicht boykottiert, sondern bewahrt und gefördert werden.

Mit dem akademischen Austausch über Ländergrenzen hinweg, wie er von manchen westlichen Universitäten durch online-Projekte, die es Israelis ermöglichen, sich mit Akademikern in verfeindeten Ländern auszutauschen, bis zum Extrem gepflegt wird, kämen frische Ideen ins Land, die den Horizont einer Gesellschaft erweitern und sie weiterbringen, indem sie zu Visionen wachsen. In der Tat wurden so die Kibbutzim in Israel als sozialistisches Experiment geboren, weil Einwanderer aus Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts den Eindruck des aufkommenden Sozialismus mit brachten, und in der Tat überlebten nur jene, die frühzeitig auf die Bildung ihrer Mitglieder drangen. Und auch auf der palästinensischen Seite entstanden Institutionen, und auch die zarten Pflänzchen geschäftlichen, und damit wirtschaftlichen Erfolges auf der Grundlage von Bildung und internationaler Zusammenarbeit.

Der akademische Boykott

Ein Boykott der Akademie hätte eine mittelfristig eine intellektuelle Isolation zur Folge, die zu einem Mangel an Visionen führen würde, der den Stillstand im Friedensprozess mit den Palästinensern auf Dauer manifestieren würde, sagen die Gegner des Boykotts, die an Zahl die der Befürworter international bei weitem überschreiten. Selbst unter palästinensischen Akademikern hat das zu einer erbitterten Debatte geführt, deren beide Lager ungefähr gleich groß zu sein scheinen: "Nicht auszudenken, was wäre, wenn sich das durchsetzen würde", sagt Sari Nusseibeh, Präsident der Al Kuds-Universität in Ost-Jerusalem:

Es sind gerade die Akademiker, die sich selbst dann noch austauschen, wenn sonst niemand mehr miteinander spricht. Es sind Akademiker, die die interessantesten Ideen für einen Frieden entwickeln, nicht die Politiker.

Nusseibeh selbst pflegt diesen Austausch so gut er kann, und auch gegen den Widerstand von Studenten und mancher Kollegen, die das als Verrat an der palästinensischen Sache sehen: So trifft er sich regelmäßig mit Funktionären der Hebräischen Universität in Jerusalem, die sich einer großen Zahl von israelisch-arabischen und palästinensischen Studenten rühmt: "Unsere Studenten werden allein auf der Grundlage ihrer akademischen Aussichten aufgenommen", erklärt eine Sprecherin und weist die Behauptung zurück, man beteilige sich aktiv an der Siedlungspolitik:

Wir betreiben hier Forschung und Lehre und keine Politik; unsere Studenten und Dozenten bilden das gesamte gesellschaftliche, politische und weltanschauliche Bild der Region ab. Bei uns herrscht wie an allen anderen staatlichen Universitäten die Vorschrift, die Kurse frei von Politik und Weltanschauung zu halten.

Was allerdings nicht für alle Bereiche der Universität gleichermaßen zu gelten scheint: Die archäologische Abteilung gräbt regelmäßig im Westjordanland nach Überresten jüdischer Zivilisationen, die dann gerne von rechten Parteien als weitere Legitimation für den israelischen Besitzanspruch auf das Gebiet gewertet wird. Und: Die Rothberg School, der englischsprachige Teil der Universität, an dem vor allem amerikanische und britische Studenten Auslandsjahre absolvieren, ist nicht nur berühmt für ihre akademische Anspruchslosigkeit, sondern auch notorisch für die Forderung der Studenten nach Dozenten, die ihre, so gut wie immer pro-israelische, Weltanschauung vertreten.

"Wir forschen ohne die politischen Folgen zu erwägen", antwortet die Sprecherin ohne auf die Rothberg School einzugehen und führt Akademiker der Universität an, die regelmäßig religiöse Juden und Christen gegen sich aufbringen, indem sie versuchen, die Phänomene der Thora wissenschaftlich zu erklären - so hatte beispielsweise Anfang der 90er Jahre Nathan Paldor, damals Meereskundler an der Hebräischen Universität, gemeinsam mit seinem Kollegen Doron Nof von der Florida State University erklärt, dass für die Teilung des Roten Meeres keinesfalls höhere Eingebung notwendig gewesen sein muss - ein paar heftig starke Winde hätten gereicht, um das Meer an einer seichten Stelle bis auf den Grund zu teilen, um dann mit einem weiteren starken Wind von der Seite die Armee des Pharaos hinweg zu reißen.

Später brachten die beiden dann die Christen auf, als sie bekannt gaben, Jesus sei gar nicht auf Wasser durch den See Genezareth gelaufen, sondern über eine dünne Eisschicht. "Ohne die Zusammenarbeit von Forschern aus aller Welt wären diese tollen Erkenntnisse doch nicht möglich gewesen", sagt die Sprecherin lachend, legt auf, und lässt den Anrufer auch dieses Mal mit dem Eindruck zurück, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint. Nicht mal in der Bibel.