Unschuldige bezahlen

Die Süddeutsche Zeitung entlässt angeblich Mitarbeiter. Wirtschaftsredakteur Marc Beise ist wahrscheinlich nicht dabei

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Anfang der Woche wurde bekannt, dass es bei der Süddeutsche Zeitung in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise betriebsbedingte Entlassungen geben soll. Hintergrund ist, dass das Blatt 2009 zum ersten Mal in seiner Geschichte rote Zahlen schreiben dürfte. Nach Informationen der Berliner Zeitung rechnet man angeblich mit bis zu 10 Millionen. Am Dienstag tagte der Herausgeberrat über Konsequenzen, bis Freitag sind die Mitarbeiter aufgerufen, "Sparvorschläge" zu machen und am Wochenende sollen die Führungskräfte in einer Klausursitzung am Starnberger See zusammenkommen. Bis zum 27. Oktober will man dann Entscheidungen treffen und diese auf einer Betriebsversammlung bekannt geben. Bereits im letzten Jahr hatten sich die Süddeutsche Zeitung und ihr Verlag über Abfindungen von mehr als 70 Mitarbeitern getrennt.

Schon relativ sicher scheint allerdings nach Informationen aus Unternehmenskreisen, dass ein Mitarbeiter nicht von der Entlassungswelle betroffen sein wird - obwohl er wie kein anderer1 zur Entstehung der Finanzkrise beitrug, die nun zu den Verlusten führt: Marc Beise - ein vorher bei der Offenbach-Post und beim Handelsblatt beschäftigter Fernsehtalkshowgast, der bei der SZ vom Oktober 1999 an das Ressort Wirtschaft leitete.

Mit Schwadronaden wie "Schröder hatte recht" und Büchern wie "Deutschland - falsch regiert" kritisierte Beise das "Elend der kleinen Schritte", schwärmte davon, "was der Markt kann" und lobte Friedrich Merz und Bernd Raffelhüschen. "Die Entlohnung", so Beise 2006 in Verteidigung der bereits vor der Finanzkrise in die Kritik gekommenen Managerbezüge, "erfolgt in der Marktwirtschaft aus guten Gründen nicht nach Gerechtigkeitskriterien". Welche "guten Gründe" das sein sollen, ließ er allerdings offen. Damals benutzte der Wirtschaftsjournalist "Regulierung" wie ein Schimpfwort. Und auf die seinen Angaben nach "schwierige" Frage, was der Staat denn überhaupt für Aufgaben hat, fiel ihm nur ein, dass er Millionäre mit "großen Reformen [...] beeindrucken" solle, damit sie anschließend investieren. Die einzig vernünftige staatliche Regelsetzung war für ihn die Schaffung von "Rahmenbedingungen" für eine "Entlastung der Unternehmen".

Im November 2008, als die Weltwirtschaftskrise nicht mehr zu übersehen war, versuchte Beise einen Kunstgriff: Er nahm eine historische Bedeutung des Wortes "Neoliberalismus" und berief sich darauf, dass man ihn und Andere ganz furchtbar missverstanden hätte. Definiert man allerdings "Neoliberalismus" in diesem älteren, ursprünglichen Sinne, dann würden zwei ganz sicher nicht dazugehören: Gerhard Schröder und Marc Beise. Gerade Schröder entmachtete das Kartellamt, die Kerninstanz dieses historischen Neoliberalismus, wie kein zweiter vor ihm. Die Finanzmärkte deregulierte er nicht nur, sondern er ließ sie (was sich als noch wesentlich schädlicher erwies) ihre eigenen Regeln aufstellen. Gleiches gilt für die Art und Weise, in der natürliche Monopole seit den 1990er Jahren reihenweise privatisiert wurden. Die Väter des historischen Neoliberalismus, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, hätten hier scharf opponiert. Doch Beise klatschte Beifall.

Rüstow - in der Mont-Pèllerin-Socitey großer Gegenspieler Friedrich von Hayeks2 - entwickelte bereits in den 1930er Jahren seine "Theorie der subtheologischen Befangenheit". In seiner Schrift "Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem" stellt er fest, dass die Deisten des 18. Jahrhunderts den Wettbewerb als ein Instrument der Vorsehung ansahen, der als automatischer Ersatz für die "Ehrlichkeit" dienen sollte - doch bereits nach kurzer Zeit wurde die Ableitung des Wettbewerbs aus der Vorsehung vergessen und der Wettbewerb selber an die Stelle Gottes gesetzt.3 Der "Aberglaube" an die unbedingte Gültigkeit bestehender ökonomischer Gesetze verhinderte nach Rüstow notwendige Eingriffe zur Sicherstellung der Funktionstüchtigkeit der Marktwirtschaft und führte zur Degeneration des Kapitalismus:

Und so wurden denn jene Einschränkungen and Vorbehalte, die wir bei Smith selber noch finden, von seinen fortschrittsfreudigen Adepten bald vollends überhört and vergessen. In durchaus unangebrachtem Gottvertrauen versäumte man völlig, das Kamel anzubinden. Wie hypnotisiert ließ man auch die schlimmsten Dinge geschehen, ohne sich auch nur zur geringsten Reaktion aufraffen zu können. Man hatte Gott walten lassen wollen, and gab schließlich dem Teufel freie Hand, dem Teufel des Strebens nach Bereicherung auf Kosten Anderer, der Machtgier and der Herrschsucht.

Der Nationalökonom zitierte Adam Smith mit der Bemerkung, dass, wenn sich zwei Unternehmer treffen, dies selten aus einem anderen Grund als den geschieht, Preisabsprachen zu treffen. In der Tendenz zu Monopolen sah Rüstow eines der größten Probleme der Marktwirtschaft und plädierte für Verhütung statt Kontrolle, weil die Wettbewerbsbehörden leicht zum Werkzeug wirtschaftlicher Interessen werden, wenn bereits ein Monopol, Oligopol oder Kartell vorliegt.4

Liest man Rüstow, dann wird nicht nur klar, dass die seit den 1970er Jahren weltweit durchgesetzten Modelle, die unter dem Schlagwort "Neoliberalismus" verkauft wurden, nach dem Maßstab des Wiesbadeners bestenfalls ein "Paläoliberalismus" (häufiger jedoch ein Neofeudalismus) waren, sondern auch, warum sie ihre Versprechungen nicht einhalten konnten. Wenn also Beise seinen Kritikern vorwirft, sie würden den Begriff "Neoliberalismus" falsch einsetzen, dann müsste er den Ausdruck auch tunlichst für die von ihm vertretene Politik vermeiden. Und vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, die "machtwirtschaftlichen" Reformen der letzten dreißig Jahre, bei denen zwar kein Wettbewerb, aber private Monopole geschaffen wurden, und mit denen der Verbraucher heute schlechter dasteht als früher, von nun an nicht mehr als "Neoliberalismus", sondern als "Beiseismus" zu bezeichnen.

In einem idealen Markt, in dem Allen alle Informationen ohne Verzögerung zur Verfügung stehen, wäre Marc Beise spätestens im September 2008 ins Personalbüro gebeten worden. "Na, Beise" hätte es dort geheißen, "Sie können es sich ja wahrscheinlich denken ... also, um es kurz zu machen. Bis morgen ist ihr Schreibtisch leer, dann kommt Werner Rügemer, der übernimmt ihren Posten." In der Realität gibt es allerdings keinen idealen Markt. Dort muss nicht Marc Beise die Verantwortung für das übernehmen, was er über ein Jahrzehnt lang mit großem Eifer predigte, sondern seine Kollegen.