Schwaben-Amok, oder auch: Ich bin Sodomit

Im September 1913 wurde das wilhelminische Deutschland durch ein Verbrechen erschüttert, das man bis dahin nicht für möglich gehalten hätte

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In der Nähe von Stuttgart hatte ein Mann 14 Menschen umgebracht, darunter seine Frau und seine vier Kinder. Der Vater des Amoklaufs in Deutschland hieß Ernst August Wagner und war kein Schüler, sondern Lehrer.

Wie sollte ein bedeutendes Werk der Weltliteratur anfangen? Vielleicht ganz knapp und die Verbindung zum Buch der Bücher herstellend wie Herman Melvilles Moby-Dick: „Call me Ishmael.“ Oder doch mit dem Wetterbericht wie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen.“ Das Kryptische, das uns unwiderstehlich in seinen Bann zieht, wenn ein großer Schriftsteller wie Thomas Pynchon am Werk war, ist auch nicht schlecht: „A screaming comes across the sky. It has happened before, but there is nothing to compare it to now“ (Gravity’s Rainbow). Gern genommen wird das einleitende Bekenntnis. „Zugegeben:“ heißt es in Zeile 1 von Günter Grass’ Die Blechtrommel, „ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt […].“

Ernst Wagner, 1934

Für Autoren, die bisher keiner kennt und die noch ihre Leser suchen, empfiehlt es sich, am Anfang die Sensationsgier des Publikums zu kitzeln. Ernst August Wagner entschied sich für folgenden Einstieg in seine Autobiographie, in der er Fiktion und Wirklichkeit miteinander verschmolz und von der er hoffte, dass sie ihm (posthum) den Durchbruch bringen würde: „Dass ich mich des Geständnisses gleich entledige: Ich bin Sodomit.“ Das, so Wagner, erkläre alles. Weil jedoch zu allem auch die Ermordung von 14 Menschen gehörte, zogen die Behörden sein Werk aus dem Verkehr, noch ehe es ein Verleger zu Gesicht bekam. Aber der Reihe nach.

Ausflug nach Ludwigsburg

Degerloch bei Stuttgart. Am 3. September 1913 sitzt der 39-jährige Hauptlehrer Ernst Wagner mit seiner Familie, der Eigentümerin des Hauses, in dem er wohnt sowie deren Tochter bis etwa 21 Uhr im Garten und genießt den warmen Spätsommerabend. Dann geht Familie Wagner zu Bett. Am 4. September, gegen 5 Uhr früh, macht sich der Hauptlehrer an die Ausführung eines Verbrechens, das er seit vier Jahren plant. Er schlägt seiner Frau mit einem Totschläger auf den Kopf und sticht dann mehrmals mit einem langen Messer auf sie ein. Anschließend geht er in die Schlafzimmer seiner beiden Söhne und seiner beiden Töchter. Die vier Kinder tötet er durch zahlreiche Stiche in Hals und Brust. Nach vollbrachter Tat zieht er das blutige Nachthemd aus, wäscht sich und kleidet sich an. Er steckt einen kleinen Revolver ein, packt zwei Mauserpistolen und über 500 Schuss Munition in eine Reisetasche. Auf eine vor der Wohnungstür hängende Schiefertafel schreibt er: „Ausflug nach Ludwigsburg usw.“. Danach verlässt er das Haus.

Von Stuttgart fährt Wagner mit dem Zug nach Ludwigsburg. Mit dabei hat er den „Elberfelder“, sein geliebtes Fahrrad. In Ludwigsburg genehmigt er sich einen Imbiss. Dann macht er einen Abstecher in seinen Geburtsort Eglosheim. Beim Haus seines Bruders trifft er nur seine Schwägerin Martha Wagner an. Er erklärt, seine Kinder aus Mühlhausen holen und in der Nacht wiederkommen zu wollen. Nachdem er knapp die Hälfte seiner Munition in der Nähe des Hauses versteckt hat, geht er zurück zum Bahnhof. Nächste Station ist Bietigheim. Mit dem „Elberfelder“ radelt er durch die Umgebung und gibt eine Reihe von Postsendungen auf, darunter eine Karte an seine Wirtin in Degerloch: „Ich bitte um Verzeihung, obwohl ich weiß, dass es keinen Wert hat, es war nicht anders zu machen. E. Wagner“.

In Bietigheim kehrt er im Gasthof zur Krone ein. Gegen 7 Uhr abends bricht er in Richtung Mühlhausen auf. Dort angekommen, versteckt er das Fahrrad in einem Maisfeld. Er ersetzt seinen Filzhut durch eine Autofahrermütze, verbirgt die untere Gesichtshälfte unter einem schwarzen Schleier, legt an mehreren Stellen im Dorf Feuer. Wagner verbindet die beiden Mauserpistolen durch Schnüre mit seinen Handgelenken – vermutlich, um sie nicht zu verlieren. Dann geht er durch den Ort und schießt 20 Menschen (sowie zwei Stück Vieh) nieder. Neun von seinen Opfern sterben.

Jede der Pistolen hat zehn Schuss. Wagner vergisst das Nachladen. Weil er sich mit den Füßen in den viel zu langen Schnüren verwickelt (eine Freudsche Fehlleistung?), kann er nicht weglaufen. Einem Arbeiter und einem Polizeidiener gibt das die Gelegenheit, ihn mit Hacke und Säbel niederzuschlagen. Dabei wird ihm die linke Hand zertrümmert, zwei Säbelhiebe treffen sein Gesicht, die rechte Hand ist schwer verletzt. Man hält ihn für tot und lässt ihn auf der Straße liegen.

Um 2 Uhr nachts stellt ein Polizist fest, dass Wagner noch lebt. Der Hauptlehrer gibt an, in Degerloch auch seine Frau und die vier Kinder getötet zu haben. Eigentlich habe er am Ende Selbstmord begehen wollen, weshalb er nichts dagegen habe, wenn man ihm nun den Kopf abschlagen werde. Am Abend des 5. September wird er in das Bezirkskrankenhaus in Vaihingen gebracht, wo man ihm den linken Unterarm amputiert. Bei der Vernehmung durch einen Untersuchungsrichter gibt er zu Protokoll, dass er alle Männer des Dorfes töten wollte und nur die Männer. Die beiden kleinen Mädchen und die drei Frauen habe er unabsichtlich getroffen. Das tue ihm sehr leid, sonst aber nichts. Dabei wird es bleiben.

Als Wagner transportfähig ist, wird er in das Untersuchungsgefängnis Heilbronn überstellt. In zwei psychiatrischen Gutachten wird ihm bescheinigt, dass er zur Tatzeit unter Verfolgungswahn gelitten habe, eine „freie Willensbestimmng“ ausgeschlossen gewesen sei. Dem damals geltenden § 51 StGB entsprechend liegt deshalb keine strafbare Handlung vor. Weil Wagner, jetzt Hauptlehrer a. D. und pensionsberechtigt, als gemeingefährlich gilt, wird er jedoch in die Heil- und Pflegeanstalt Winnental eingewiesen. Diese Einrichtung, in der Wagner die restlichen 25 Jahre seines Lebens zubringt, liegt in einem Ort, der es später durch einen anderen Amoklauf zu trauriger Berühmtheit bringen wird: Winnenden.

Einmal Lokomotivführer sein

Wir haben es uns angewöhnt, die Schuld bei Computern und dem Internet zu suchen, wenn heute ein Jugendlicher Amok läuft. Ein Vergleich mit dem Fall Wagner legt den Schluss nahe, dass das Medium eine geringere Rolle spielt als ein generelles Mitteilungsbedürfnis, das mit Hilfe der jeweils zur Verfügung stehenden Mittel befriedigt wird. Wagner hätte höchstwahrscheinlich gebloggt und E-Mails verschickt, wenn es das Internet bereits gegeben hätte. Da er aber 1913 Amok lief, war er auf die damals vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten angewiesen.

Nach der Tat glaubten sich einige der Zeugen an im Wirtshaus gemachte Andeutungen des Inhalts erinnern zu können, dass er noch auf sich aufmerksam machen werde. Am 4. September, zwischen Degerloch und Mühlhausen, gab Wagner seine Abschiedsbriefe auf, die er seit dem 26. August geschrieben hatte. Die Adressaten waren (soweit bekannt) seine Vermieterin, seine Schwester in Berlin („Nimm Gift! Ernst“), sein Schwager in Zwickau, der Rektor in Degerloch, die Allgemeine Rentenanstalt in Stuttgart, das Neue Tagblatt in Stuttgart, Hauptlehrer Holzapfel in Scharenstetten, ein weiterer Schwager in Mannheim. Die umfangreichsten Sendungen gingen an einen befreundeten Förster namens Schelling und an Christoph Schrempf, einen bekannten Religionsphilosophen.

Im Oktober 1909 hatte Wagner mit der Niederschrift seiner offenbar tagebuchartigen Autobiographie begonnen: knapp 300 Seiten in zweifacher Ausfertigung. Wenn es schon möglich gewesen wäre, hätte er vielleicht ein Video-Tagebuch geführt, die geplante Tat im Wald durchgespielt und das Ganze ins Netz gestellt. In dem Fall stünden die Chancen gut, dass dieses historische Dokument noch heute zugänglich wäre. Aber Wagner war auf Stift und Papier angewiesen. Je ein handschriftliches Exemplar der Autobiographie schickte er an Schrempf und an Schelling. Beide Exemplare landeten schließlich im Archiv des Heilbronner Landgerichts. 1944 schlug dort eine Bombe ein, und sie verbrannten mit dem restlichen Beweismaterial. Was bleibt, sind die bis dahin gemachten Exzerpte.

Der Förster übergab sein Exemplar der Polizei. Von Schrempf wünschte sich Wagner, dass er als Herausgeber seiner Werke fungieren würde, weshalb auch seine anderen Schriften beilagen. Nach dem Amoklauf fand man bei Wagner, der ein ordentlicher Mensch war, den sorgsam aufbewahrten Einlieferungsbeleg. Der Empfänger erhielt darum Besuch von einem Polizisten, der das Paket beschlagnahmte. Schrempf, ein ehemaliger Pfarrer, war ein Querdenker und ein Kritiker des schwäbischen Pietismus. Bestimmt hätte er die Autobiographie ganz anders gelesen als der Psychiater, der die ihm zugedachten Schriften nun erhielt und sehr schnell die Deutungshoheit über den Fall errang. Oft ist vom Zufall abhängig, was hinterher in den Büchern steht.

In der Autobiographie war zu lesen, wie sich Wagner den weiteren Ablauf der Ereignisse vorgestellt hatte. Nach getaner „Arbeit“, wie er das Gemetzel in Mühlhausen nannte, wollte er auf offener Strecke den Schnellzug von Mühlacker nach Ludwigsburg anhalten. Weil mit widerspenstigem Zugpersonal zu rechnen war, hatte er auf dem Stuttgarter Bahnhof dabei zugeschaut, wie man eine Lokomotive bediente. Auf der Höhe von Eglosheim wollte er die Notbremse ziehen, um sodann seinen Bruder und den Rest der Verwandtschaft umzubringen:

Und ich werde ihm […] die frohe Botschaft auf den Schädel hämmern, und er wird beseligt sein. Und ich werde Würgeengel sein im Haus, der Würgeengel des Mitleids. Dann will ich die Hölle zum zweiten Mal aufrufen, ich will rächen der Sünden größte und kleinste, die an mir und den Meinen, an Witwe und Waisen begangen worden sind. Ich will euch meinen Hass in den Kopf gerben und in den Bauch löchern, und meines Hasses Flamme soll eure Häuser verzehren und mein Haus und meines Vaters Haus und das Warenhaus dazu.

Weil das von Wagner mit ihm selbst in der Hauptrolle inszenierte Drama einen spektakulären Höhepunkt vor grandioser Kulisse haben sollte, hätte ihn sein letzter Weg zum Ludwigsburger Schloss geführt. Er hatte überlegt, ob er sich am Schluss ertränken, vergiften, die Pulsadern aufschneiden oder ob er Harakiri begehen sollte und sich dann für eine Kombination aus Erschießen („mannhaft und soldatisch“) und „indischem Verbrennen“ entschieden:

Ich töte. Ins Schloss. Ich töte. Ich brenne und verbrenne […]. Und ich selbst kann mich dann in der Herzogin Bett verbrennen. Auch darum wünsche ich, dass die Herzogin jung wäre.

Umsonst müht sich der Geist, wo er den üpp’gen Reichtum schäumend beut

Nach dem Amoklauf ging bei den Behörden ein anonymer Brief ein, in dem jemand ankündigte, das von Wagner Begonnene demnächst vollenden zu wollen. Das führte zu einer verstärkten Polizeipräsenz in Mühlhausen und Umgebung. Inzwischen hatte auch der Sensationstourismus eingesetzt (zur Beisetzung der Opfer kamen 5000 Menschen). Man musste noch selber fahren, weil es kein Fernsehen und keine Live-Schaltungen zum Tatort gab. In Mühlhausen warteten schon die Postkartenverkäufer. Im Brief an Schrempf hatte Wagner vorab seinen zynischen Kommentar dazu abgegeben:

Wären sie ehrlich, so würden sie mir für die „Sensation“ noch Dank sagen. Kein einziger von all den Entrüsteten würde meine Untat rückgängig machen, wenn es auch in seiner Macht läge. Die Entrüstung ist mit so viel Selbstwohlgefallen verbunden, und jeder Lump sonnt sich dabei in seinem eingebildeten Bessersein.

Zur Beisetzung der Opfer kamen 5000 Menschen

Es gab noch nicht das eingespielte Ritual, das uns inzwischen dabei hilft, mit dem Geschehenen zurechtzukommen: die Interviews mit den Einheimischen, den Aufmarsch der Experten im TV-Studio, die Forderungen der Politiker nach Verboten und Verschärfung der Gesetze. Gleichwohl lieferte manches von dem, was sich rund um Wagners „Untat“ abspielte, einen Vorgeschmack auf das, woran wir uns mittlerweile, diverse Amokläufe später, gewöhnt haben.

Die Stuttgarter Dichterin Emilie Munz arbeitete hart daran, sich einen Reim auf das Unfassbare zu machen. Dabei fiel ihr die Zeile „Es bebt der Stift. Umsonst müht sich der Geist“ ein, was aber nichts daran änderte, dass dieser Einsicht ein langes Geschwurbel folgte („Und seinen üpp’gen Reichtum schäumend beut“), als das Neue Tagblatt am 9. September ihr Gedicht mit dem Titel „Helft!“ veröffentlichte. In der Mitte des lyrischen Ergusses wird „Drum still davon!“ mit drei Gedankenstrichen kombiniert, schon geht es weiter. Im Fernsehen sagt keiner mehr ein Gedicht auf. Aber seit Winnenden gehört es zur Rhetorik der TV-Kriminologen und TV-Psychologen, kurz darauf hinzuweisen, dass der Amokläufer eigentlich ein ihnen völlig fremder Mensch ist und dass bisher zu wenig Fakten zu Tat und Täter bekannt sind, um sich ein Urteil erlauben zu können. Weil jedoch im deutschen Fernsehen unentwegt geredet werden muss, ist von den drei Gedankenstrichen der Frau Munz nur noch einer übrig. Dann wird darüber referiert, was wohl in den Köpfen von Tim K. oder Georg R. vorging, als sie zur Waffe griffen.

„Von dem Vulkan, der in mir brütet und kocht, hat kein Mensch eine Ahnung“, heißt es in der Autobiographie. Und: „Es kommt aber die Stunde, da will ich lärmen und Skandal machen, dass euch die Ohren dröhnen.“ Die Frage war 1913 dieselbe wie heute auch: Hätte man eine Ahnung haben können? Und was dann? Als die Zeitungen berichteten, dass Ernst Wagner beim Lehrerstammtisch (im noch heute existierenden Gasthof Adler in Scharenstetten) nach dem vierten Bier möglicherweise finstere Andeutungen über von ihm geplante Gewalttaten gemacht hatte, wurde über die Sperrstunde in schwäbischen Wirtshäusern gestritten. Das erinnert auf eine kuriose Weise an heutige Debatten darüber, wie lange ein Jugendlicher im Internet surfen darf, bevor eine schädigende oder gar gefährliche Wirkung eintritt. Konsequenzen für die Wirtshäuser blieben übrigens aus; dafür sorgte schon die Brauerei-Lobby. Auch die Jäger und die Schießvereine hatten nichts zu befürchten. Wer eine Waffe kaufen wollte, musste damals weder einem Verein beitreten noch vorher die Jagdprüfung ablegen.

Schießversuche mit dem Riesenphallus

Falls sich jemand für ein strenges Waffenrecht eingesetzt haben sollte, blieb dieser Teil der Diskussion so marginal, dass er sich kaum mehr nachweisen lässt. Lautstark gefordert wurde dagegen die Aufrüstung der nur mit Säbeln bewaffneten Polizei. In einigen Artikeln hieß es, dass Wagner mit zwei Browning-Pistolen um sich geschossen habe. Das kannte man aus englischen Krimis, und es ließ sich so hindrehen, dass das Böse doch irgendwie von außen kam und nicht aus Schwaben. Besser informierte Journalisten rechneten erstaunt vor, dass der Schullehrer für seine beiden Mauser-Pistolen nebst Munition etwa 100 Mark bezahlt hatte. Wagner hatte sie 1907 bzw. 1909 direkt am Fabrikationsort gekauft, beim Uhrmacher Frommer in Oberndorf (Schwaben).

Die Mauser C 96 (1896 erstmals in Serie produziert) war so etwas wie der Rolls Royce unter den Handfeuerwaffen. Sie kostete dreimal so viel wie eine durchschnittliche Pistole. Für den Nahkampf war sie ganz ungeeignet (zu groß und zu schwer), was zu Spekulationen darüber geführt hat, ob Wagner ursprünglich geplant haben könnte, die Dorfbewohner aus dem Hinterhalt zu erschießen (so macht er es in Heinar Kipphardts Exposé zu einem nicht realisierten Filmprojekt, das man im Deutschen Literaturarchiv Marbach einsehen kann). Andererseits dachte der Hauptlehrer bereits an den Nachruhm, als er nach Mühlhausen fuhr. Als Requisit in einem Drama von beinahe mythischen Proportionen, das er im Sinn hatte, war die Mauser C 96 ideal. Unter Waffennarren war sie legendär, und eine Art Phallusersatz war sie auch – vergleichbar mit der ebenfalls sehr unpraktischen Magnum, mit der Clint Eastwood in den Dirty-Harry-Filmen selbstironisch auf Verbrecherjagd geht.

Bernd Neunzner und Horst Brandstätter haben ein scharfsinniges, gut recherchiertes Buch über Hauptlehrer Wagner geschrieben (Wagner. Lehrer Dichter Massenmörder). Darin zitieren sie aus einer 1986 erschienenen Dokumentation über die Firma Mauser (siehe auch Frontline18 und g6csy.net). Wolfgang Seel, der Verfasser von Mauser. Von der Waffenschmiede zum Weltunternehmen, lässt seiner Begeisterung freien Lauf:

Den anderen Selbstladepistolen dieser Epoche ist die C 96-Pistole mit einer überragenden ballistischen Leistung und einer anstandslosen Funktion weit überlegen. Die Fachwelt reagiert daher schnell: Am 6. Mai 1897 führt der Tübinger Professor von Bruns in Oberndorf Schießversuche mit der C 96-Pistole durch. Weitere Schießversuche unternimmt er in Tübingen mit Leichenteilen als Ziele. Dabei werden zur Untersuchung der Schussfrakturen zum ersten Mal Röntgenstrahlen eingesetzt. […] In Teilen der Welt, in denen die offen getragene Waffe stolz präsentiertes Attribut des freien Mannes ist, hat die C 96-Pistole einen beachtlichen Verkaufserfolg zu verzeichnen. Die martialische Größe der Pistole stört ihren Träger nicht – im Gegenteil, die eindrucksvolle Waffe verleiht ihm Respekt und Ansehen.

Die schwäbische Realität war so: Wagner bewahrte seine beiden Riesen-Pistolen daheim in der Kommode auf wie andere ihre Pornohefte. Jahrelang bei sich trug er einen viel kleineren Revolver und einen Dolch. Zu seinem Wahn gehörte es, dass er dauernd die Verhaftung fürchtete. In dem Fall wollte er sich zuvor erschießen. Das muss ein ziemlich erbärmliches Leben gewesen sein. Aus der Autobiographie:

Auch der Revolver war in den Zeiten meines Hangens und Bangens mein steter Begleiter. Ich saß mit ihm im Wirtshaus und auf der Orgelbank, zu Hause und auf der Gasse war er bei mir, der 6läufige Beschützer. Ich saß mit ihm im Examen nebst 20 Patronen und hielt Hochzeit zu Ludwigsburg mit 2 Revolvern, 50 Patronen und dem Dolch.

Il grande silenzio

Da sich immer jemand findet, der gern schlichte 1:1-Beziehungen herstellen und Probleme durch Verbote lösen möchte, wäre bestimmt die sofortige Verbannung aller Italo-Western aus Deutschland gefordert worden, wenn Wagner seinen Amoklauf irgendwann nach 1968 angetreten hätte. Denn 1968 drehte Sergio Corbucci sein Meisterwerk Il grande silenzio, in dem Jean-Louis Trintignant mit einer Mauser C 96 bewaffnet ist. Wer nicht glauben mag, dass sich Gewalt auch durch das Mittel der grotesken Übertreibung ablehnen (und analysieren) lässt, wird in Leichen pflastern seinen Weg (dt. Verleihtitel) eine Glorifizierung dieser Waffe erkennen. Doch ein traurigeres Ende als in Il grande silenzio gab es im Italo-Western nie. Corbucci hat nicht den Amoklauf von Degerloch und Mühlhausen verfilmt. Wer allerdings versuchen will, sich dem anzunähern, was damals geschehen ist, fährt mit dem Film nicht schlecht. Zum Amokläufer wird man durch Il grande silenzio nicht. Stattdessen erfährt man viel über unseren scheinheiligen Umgang mit der Gewalt, wie wir sie rechtfertigen und zugleich verdammen.

Jeder gedenke seiner eigenen Sauerei

Wie dem auch sei: Mühlhausen war zuerst, Corbucci kam viel später. Der Reflex, zwischen erfundenen Geschichten, deren Konsumenten und der Wirklichkeit einen unmittelbaren Zusammenhang herzustellen, scheint 1913 ohnehin nicht so ausgeprägt gewesen zu sein wie heute. Vielleicht lag es daran, dass Wagner über seine Kinobesuche nichts sagen wollte (man weiß nur, dass er 1913 eine Version von Quo vadis sah). Auch die von ihm aus der Stuttgarter Volksbibliothek entliehenen Bücher halfen bei der Ursachenforschung nicht weiter.

Die Liste steckt zwar voller Gewalt, aber Gewaltdarstellungen sind – falls ich das richtig verstanden habe – primär dann schädlich, wenn sie in anrüchigen Genres oder Medien vorkommen, also in Groschenromanen, Schundfilmen, Comics und inzwischen im Internet. Wagner hatte sich ganz ohne Kindle quer durch den bürgerlichen Bildungskanon gelesen: von Euripides, Homer und Marc Aurel über Herder, Goethe, Schiller, Shakespeare bis zu Grillparzer, Hauptmann und Tolstoi. Am verdächtigsten waren noch Kropotkins Memoiren eines Revolutionärs und Sherlock Holmes’ Abenteuer von Conan Doyle, aber direkte Bezüge ließen sich da auch nicht finden. Kurzum: Wer nicht die Leichen in Shakespeares Dramen durchzählen wollte (die Blütezeit des englischen Theaters ist bis heute Rekordhalter in Sachen Blut und Metzelei), war auf das angewiesen, was Wagner selbst mitzuteilen bereit war.

Am 6. September druckte das Stuttgarter Neue Tagblatt die beiden Briefe ab, die es von Wagner erhalten hatte. Der eine war „An die Lehrerschaft!“ adressiert. Wagner verglich sich darin mit dem gekreuzigten Jesus und erklärte seinen „Austritt aus dem Verein“, um die Kollegen nicht in Verruf zu bringen: „[…] ich hoffe zuversichtlich, die Leute werden so gescheit sein, die Schuld eines Einzigen nicht den ganzen Stand entgelten zu lassen“. Der zweite Brief („An mein Volk!“ – eine ironische Anspielung auf die Jahrhundertfeiern zur „Völkerschlacht bei Leipzig“) endete so:

Zum Schluss gestatte ich mir, meiner selbst freundlich zu gedenken und folgendes Urteil über mich zu fällen: Wenn ich das Geschlechtliche in meinem Leben abziehe, so bin ich von allen Menschen, die ich kenne, weitaus der beste gewesen.

Dumm nur, dass dieses Abziehen des Geschlechtlichen einfach nicht gelingen wollte. „Von allen Erzeugnissen des Menschen“, so der Brief

ist ausgerechnet der Mensch das schlechteste. […] Woher kommt das Elend? Das, meine ich, kann euch niemand besser sagen als ich. Es kommt her von der geschlechtlichen Unnatur. Das heutige Geschlecht leidet am Geschlecht. Es ist ein billiger Spaß, mit dem Finger auf mich zu deuten; jeder von euch täte besser, er gedächte seiner eigenen Sauerei.

Wagners „Sauerei“ war die in der Autobiographie eingestandene Sodomie. 1901 trat er eine Lehrerstelle im Dorf Mühlhausen an der Enz an (heute ein Ortsteil der Gemeinde Mühlacker). Er wurde Stammgast im „Adler“, dem Gasthof der Familie Schlecht. Im Sommer 1901, nach einem seiner Wirtshausbesuche, ging er in den Stall der Schlechts, um dort seinem Laster zu frönen. Was genau passierte, weiß man nicht. Nach dem Geständnis schrieb Wagner in der Autobiographie: „Es ist glücklich heraus, aber viel mehr will ich dazu nicht sagen; eure Lüsternheit wiegt auch keine Minute Selbstverachtung auf.“ Daran hielt er eisern fest.

Rindvieh, psychiatrisches

Nach vollzogener Sodomie, so Wagner, habe er am Verhalten und gewissen Bemerkungen der Mühlhäuser erkannt, dass man im Dorf von seiner Verfehlung wusste. Das habe seine Gewissensbisse noch verstärkt, er habe in der Angst vor Verhaftung gelebt, und die zur Schau getragene Schadenfreude der Bauern, die Verhöhnungen und Verfolgungen, denen er ausgesetzt gewesen sei, hätten ihn sehr verbittert. Schließlich habe er beschlossen, gemeinsam mit seiner Familie Selbstmord zu begehen (die Familie wurde nicht gefragt), sich zuvor aber noch an den Mühlhäusern für das erlittene Leid zu rächen. Das alles erzählte Wagner dem Untersuchungsrichter. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass niemand im Dorf von der Sodomie gewusst hatte. Zwei behandelnde Ärzte glaubten daher, dass „krankhafte Seelenvorgänge“ mit im Spiel sein müssten. Sie beantragten die psychiatrischen Gutachten, in denen Wagner ein Verfolgungswahn attestiert wurde.

Robert Gaupp

Für Robert Gaupp, Direktor der Klinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten der Universität Tübingen, wurde Wagner zum wichtigsten Studienobjekt seiner Karriere. Gaupp über die erste Begegnung:

Als er nach Tübingen kam, wusste ich nichts von ihm, als was die Zeitungen gebracht hatten. Ich hatte mir danach noch kein bestimmtes Urteil gebildet. Ich erwartete einen furchtbaren Gewaltmenschen von tierischer Brutalität, hatte deshalb besondere Schutzmaßregeln getroffen […].

Gaupp ist also ohne Vorurteile, und deshalb erwartet er ein Monster. Solche doch etwas widersprüchlichen Passagen findet man öfter in der überarbeiteten Fassung seines Gutachtens, die 1914 unter dem Titel Zur Psychologie des Massenmords. Hauptlehrer Wagner von Degerloch erschien (in der Reihe „Verbrechertypen“). Es kam dann aber keineswegs ein Unhold:

Als er am 11. November […] in mein Untersuchungszimmer geführt wurde, da sah ich sofort, dass ich von ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Ein ernster, gramgebeugter Mann in würdiger Haltung trat mir entgegen, höflich, bereit, sich in alles zu fügen, in seinem ganzen Benehmen ein gebildeter Mensch.

Damit ist gut beschrieben, was Wagner so unheimlich machte. Er sah nicht aus wie ein Monster, sein Lebenslauf war nicht der eines Monsters, er hatte über Jahre hinweg eine Tat geplant, die zum Tod von 14 Menschen führte, und offenbar war keinem etwas aufgefallen. Die Frage ist allerdings, was dabei herauskommt, wenn man trotzdem weiter in Kategorien wie „sah ich sofort“ operiert.

Umschlag der Neuauflage von Gaupps Buch von 1914, erschienen in Frickenhausen 1996

Interessant ist ein Vergleich mit dem Gutachten, das Ernst Schultze 1924 über den (dann hingerichteten) Serienmörder Fritz Haarmann erstellte. Man hat den Eindruck, dass all das, was vor dem ersten Mord in Haarmanns Leben geschah, nur der Vollständigkeit halber kurz abgehandelt wird. Gaupp, ein Schüler des berühmten Emil Kraepelin, war ein Vertreter der „verstehenden Psychiatrie“. Sein Ansatz:

Wurde bisher die Geisteskrankheit allzusehr als ein „Krankheitsprozess“ aufgefasst, der mit der Macht seiner destruktiven Kräfte alles Individuelle beseitigt, so lag es mir am Herzen, alle die Fäden aufzudecken, die von der gesunden Persönlichkeit in die Krankheit hineinführen.

Fritz Haarmann

Gaupp diagnostizierte bei Wagner eine „echte Paranoia“ (im Gegensatz zu der Paranoia, die im Rahmen einer Schizophrenie auftritt). In den Lehrbüchern wurde sie fortan mit seinem Namen verknüpft: „Paranoia (Gaupp)“. Bis heute ist umstritten, ob es sie gibt. Weil Gaupps Gutachten Wagner das Leben rettete, war die „Kopf ab!“-Fraktion empört. Gaupp erhielt eine anonyme, später oft zitierte Postkarte, die Volkes Meinung präzise zusammenfasste: „Rindvieh, psychiatrisches“. Dem Vernehmen nach ist das die zensierte Version; angeblich stand „Arschloch, psychiatrisches“ auf der Karte. Beides würde zum Fall Wagner passen. Sprechen wir also über die Sodomie.

Abnorme sexuelle Erregbarkeit

Gaupp übernahm, vereinfacht gesagt, die von Wagner selbst angebotene Erklärung für den Amoklauf. Er stellte bei seinem Studienobjekt eine familiäre Vorbelastung fest, identifizierte den Akt der Sodomie als den Auslöser für den zur Gewalttattat führenden Verfolgungswahn. Aus einem ganzen Bündel von möglichen Ursachen und Motiven griff er sich die „abnorme Erregbarkeit“ heraus. Leider muss man sagen, dass aus heutiger Sicht einige Aspekte seiner Gutachtertätigkeit wie eine unfreiwillige Parodie auf gewisse Auswüchse der Psychoanalyse wirken. Und ein paar bezeichnende Fehlleistungen unterliefen ihm auch.

Ernst Wagner wurde am 22. September 1874 in Eglosheim bei Ludwigsburg geboren. Seine Eltern waren Bauern. Der Vater starb am Tag vor seinem zweiten Geburtstag. Die Mutter begann, den Grundbesitz zu verkaufen, um sich und die Kinder (Ernst hatte elf Geschwister bzw. Halbgeschwister, von denen – bei armen Leuten war die Kindersterblichkeit enorm hoch – 1913 noch drei am Leben waren) über Wasser zu halten. Sie betrieb einen kleinen Laden, heiratete wieder, hatte wohl einige Liebhaber, wurde geschieden. Gaupp diagnostizierte eine „abnorme sexuelle Erregbarkeit“ bei der ihm unbekannten Frau (sie war 1902 gestorben), die sich – im Sinne einer familiären Degeneration – auf den Sohn übertragen hatte. Für Gaupp war sie eine „Entartete im psychiatrischen Sinne“. Zur Beweisführung gehörte, dass die Witwe die Trauerzeit nicht einhielt. „Schon 5 Monate nach ihres Mannes Tod“, so Gaupp, war Wagners Mutter wieder verheiratet. Die zweite Ehe, schreibt der Psychiater auch selbst, wurde im Februar 1879 geschlossen. Der erste Gatte starb aber 1876. Gaupp hat zwei Jahre übersehen. Schon steigt die Erregbarkeit.

Ernst schaffte es auf das Lehrerseminar in Nürtingen. Für einen wie ihn, der aus ärmlichen Verhältnissen und aus den „bildungsfernen Schichten“ stammte, war das eine große Leistung. Von 1894 an wurde er als Hilfs- und dann als Unterlehrer in verschiedene württembergische Gemeinden geschickt. Im Juli 1901 kam er nach Mühlhausen an der Enz. Dort beging er seinen sodomitischen Akt im Stall. Vermutlich irgendwann danach begann seine Affäre mit der jüngeren Tochter des Adlerwirts. Die 19-jährige Anna Schlecht wurde im Mai 1902 von ihm schwanger. Das erfuhren Wagners Vorgesetzte. Er versuchte, um eine Heirat herumzukommen, wurde vom Dienst suspendiert. Das war das Ende einer vielversprechenden Karriere.

Man kann nachvollziehen, weshalb Wagner sagte, die Stelle in Mühlhausen sei die schlechteste gewesen, die er je hatte. Die Leute dort, meinte er, konnten ihn schon vor dem Amoklauf nicht leiden. Für seinen Psychiater gehörte das zur Paranoia. „In Wirklichkeit“, so Gaupp 1938 im Nachruf auf Wagner, „war er in Mühlhausen gerne gesehen gewesen und in gutem Andenken geblieben.“ Wer von den beiden hatte also Recht? Wie war es wirklich, damals in Mühlhausen?

Immer lohnend ist ein Besuch des Friedhofs. Wer nicht selber hinfahren will, kann im Internet vorbeischauen. Auf der Homepage von Mühlhausen findet man Ernst Wagner in der Rubrik „Bekannte Personen“ (Nr. 1 von 4). Statt ihn aus der Dorfgeschichte auszublenden, stellt sich die Gemeinde der Vergangenheit. Das verdient Respekt. Allerdings wurde ein nicht ganz unwichtiger Teil der Geschichte weggelassen.

Teil 2: Spatzenhirn und Mordgedanken