Spatzenhirn und Mordgedanken

Schwaben-Amok, Teil 2

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Teil 1: Schwaben-Amok, oder auch: Ich bin Sodomit

Degerloch-Monster

Das Wort „Amok“ kannte 1913 niemand. Auf der Suche nach einem Begriff für das Unfassbare stieß man auf einen Ausdruck, den einst Friedrich Schiller mit seinem Stück Die Räuber populär gemacht hatte und das kaum mehr verwendet wurde. Jemand sprach vom „Mordbrenner Wagner“, und alle anderen nahmen den Mordbrenner dankbar auf. Wagner muss das gefallen haben. In seiner Eigenschaft als Dramatiker sah er sich als einziger legitimer Nachfolger des großen Schwaben. „Neben dem Schiller und etlichen andern“, schreibt er in der Autobiographie, „bin ich’s, der das Schwabentum herausreißt!“

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wenn sich Amokläufer an medialen Vorbildern orientieren, sagt das noch nichts darüber aus, warum sie Amok laufen. Es bedeutet nicht, dass in Littleton nichts passiert wäre, wenn es den Film Matrix nicht gegeben hätte. Im Fall des Hauptlehrers Wagner, der häufig ins Theater ging und selbst Stücke schrieb, traf es Friedrich Schiller. Nach eigener Aussage las Wagner die Räuber mit „großem Genuss“. Sein Vorgehen in Mühlhausen erinnert sehr an die Taktik, mit der Karl Moor die feindliche Übermacht über die wahre Stärke der eigenen Bande täuscht (Akt 2, Szene 3). Tatsächlich glaubten die Mühlhäuser zunächst an den Überfall einer Räuberbande, als es an mehreren Stellen im Dorf zu brennen begann.

Ernst Wagner

Wenn hinterher jemand ein Verbot der Räuber gefordert hätte, wäre er ausgebuht worden. Bedrohlich wirkt meist das, was man nicht kennt (bei heutigen Politikern in Entscheidungspositionen das Internet). Und Verbote sind nur populär, wenn diejenigen, die davon betroffen sind, nicht dieselben sind, die über die Verbote zu befinden haben (respektive deren Wähler). Schiller war der Kulturheld des schwäbischen Bürgertums. Man hätte dann auch das Schillermuseum schließen und die vielen Schiller-Denkmäler in die Luft sprengen müssen, die überall in Schwaben herumstanden. Auf Wagner hatten sie eine „zur Gewalt anreizende Wirkung“, wie das im Jargon der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien heißt (diese Behörde favorisiert eine trivialisierte Version von Gaupps Erregungs-Theorie). Er wollte auch Denkmäler und ein Museum. Den Amoklauf verstand er als Teil eines Gesamtkunstwerks, zu dem er sein Leben machen wollte.

In dieser Septembernacht des Jahres 1913 hielt man den seltsam kostümierten Wagner für einen Zigeuner, als er verletzt quer über den Rinnstein lag. Dann erkannte einer von den Schlechts, dass der „Mordbrenner“ sein Schwager war. Das Mühlhausen, das sich jetzt im Internet präsentiert, will von solchen verwandtschaftlichen Beziehungen nichts mehr wissen. Wagner, heißt es, wurde in Egolsheim geboren, er starb in Winnenden, und er war der „Mordbrenner aus Degerloch“. Was ihn außer dem Amoklauf noch mit Mühlhausen verband, erfährt man nicht. Diese Form des Erinnerns ist doch sehr selektiv.

Auf der Website gibt es eine Endlos-Diashow. Man sieht Blümchen, Knospen und auch einen Maikäfer. Bei meinem ersten Besuch schaute gerade ein Pferd zum Stall heraus. Unwillkürlich musste ich an Wagners Ausspruch denken, dass sich sogar der Zufall gegen ihn verschworen habe (mit wem, erzähle ich dann gleich). Selber schuld, kann ich nur sagen. Wer sich zur Sodomie im Stall bekennt und dann die pikanten Details verweigert, braucht sich über die Folgen nicht zu wundern. Noch 1972 wies jemand mit psychoanalytischer Methodik nach, dass der Lehrer eine Kuh besprang (schuld an allem war die Mutter).

Enten fraglich: Sodomie zwischen Bopserwald und Kuhstall

1910 hatte die Wiener Psychoanalytische Vereinigung eine Reihe von Veranstaltungen organisiert, bei denen über die schädliche Wirkung der Onanie diskutiert wurde. In der Fachwelt hatte das für viel Aufsehen gesorgt. Robert Wollenberg aus Straßburg, der das zweite psychiatrische Gutachten erstellte, neigte zu der Ansicht, dass es sich bei der Sodomie um Masturbation gehandelt habe. Ein Herr Gottlob Rühle war vielleicht ein Bibelkenner. Im biblischen Sodom wird nicht die Unzucht mit Tieren, sondern die gleichgeschlechtliche Liebe praktiziert. Herr Rühle schickte der Staatsanwaltschaft in Heilbronn am 15. September einen Brief. Darin berichtete er von einem Mann, offenbar einem Lehrer aus Degerloch, den er vor drei Wochen im Edentheater in Stuttgart kennengelernt habe. Dieser Mann – vermutlich der Mordbrenner Wagner – habe ihn zu einem Glas Bier eingeladen, ihm von Vergnügungen im Bopserwald erzählt (ein Schwulentreff) und ihm ein Blatt Papier überreicht, auf dem die Praktiken der homosexuellen Befriedigung skizziert waren.

In Mühlhausen wollte niemand etwas von Wagners Vorlieben gewusst haben. Nur die Tochter eines Lehrerkollegen, die ihm regelmäßig das Zimmer gemacht hatte, verstand jetzt besser, warum sie beim Ausbürsten seiner Anzugjacke einmal viele kurze, rötliche Haare gefunden hatte, wie von einer Kuh. Das müsse, glaubte sie sich 1913 zu erinnern, etwa im Mai 1902 gewesen sein. Friederike Schlecht war dagegen der Meinung, ihr Schwiegersohn habe sich die Sodomie genauso eingebildet wie die Verfolgung durch die Dorfbewohner. Trotzdem wollte die Polizei ganz genau wissen, welche Tiere sich damals im Stall befunden hatten. Frau Schlecht erinnerte sich an Kühe, Rinder, Kälber, Hühner; „Enten fraglich“, schrieb jemand ins Protokoll. Einige glaubten eher an eine Ziege. Auch dafür gab es Indizien.

Robert Gaupp

Prof. Gaupp machte die Sodomie zu einem der zentralen Punkte seines Gutachtens. Ihm war die Identifizierung von Wagners Sexualobjekt sehr wichtig. Da Wagner nichts sagen wollte, rückte man dem widerspenstigen Probanden mit neuesten wissenschaftlichen Methoden auf den Leib. Gaupp veranlasste, dass Privatdozent Dr. Busch zugezogen wurde. Dr. Busch experimentierte mit einer Vorform des Lügendetektors. Dabei wurde die linke Hand des Befragten mit einem Galvanometer verbunden (weil Wagner die linke Hand beim Amoklauf verloren hatte, befestigte man die Elektroden an seinen nackten Füßen). Dr. Busch rief die Namen von in Frage kommenden Tierarten (Hund und Gans waren auch dabei); Wagner sollte sagen, was ihm spontan dazu einfiel. Dabei wurden seine Assoziationen notiert, die jeweilige Reaktionszeit und die Veränderung des elektrischen Hautwiderstandes. Dr. Busch stellte einen allgemeinen „Sodomie-Komplex“ fest, ohne sich auf das Tier festlegen zu können: „Die Namen fast aller Tiere […] zeigen gelegentlich – nicht regelmäßig –, die Zeichen der Gefühlsbetonung […].“ Die Versuche gaben keinen Aufschluss darüber, ob Wagner ein schwuler oder ein heterosexueller Sodomit war. Dr. Busch hatte gleichermaßen eine Stute und einen Stier im Verdacht, aber auch das war scheinbar nur so ein Gefühl.

In gewisser Weise bekam Wagner doch noch sein Denkmal. Auf dem Friedhof von Mühlhausen wurde den „Opfern des Mordbrenners Wagner aus Degerloch“ mit einem eindrucksvollen Monument gedacht. Auf den Gedenktafeln war auch Platz für Wagners Frau und seine vier Kinder, die ebenfalls hier begraben wurden. In den 1960ern wurden das Denkmal und die Gräber von Wagners Angehörigen entfernt. Heute sind neue Tafeln an der Friedhofsmauer angebracht (Photos im Internet). Der „Mordbrenner Wagner aus Degerloch“ ist geblieben, Anna und die vier Kinder sind verschwunden. Jedes der „dahier“ geborenen Opfer (mit Ausnahme von Anna Wagner) hat einen eigenen Gedenkstein bekommen. Ganz links außen in der Reihe hat man die Tafel für einen Maurer aus Wendlingen angebracht, der das Pech hatte, in der Mordnacht in Mühlhausen zu sein. Sie ist nicht nur anders formatiert als die Steine für die Einheimischen, sie ist auch kleiner. Was man sich wohl dabei gedacht hat?

Lehrerwohnung mit Abort

Meistens sind es die unspektakulären Dinge, die den größten Erkenntnisgewinn bringen. Nach der Suspendierung in Mühlhausen wurde Wagner nach Radelstetten zwangsversetzt. Neuzner/Brandstätter haben das Taufbuch des Dorfs studiert, in dem seine Kinder eingetragen sind. Jemand – vermutlich der Pfarrer – hat am Ende eines Jahres die Anzahl der unehelich geborenen Kinder durch die Gesamtzahl der Neugeborenen dividiert und den Quotienten als Prozentzahl angegeben. Das war offenbar so wichtig, dass es bis zur zweiten Stelle nach dem Komma ausgerechnet werden musste (2 von 7 = 28,57%).

Weil ihr erstes Kind „in Schande“ geboren wurde, ging Anna Wagner nach Stuttgart, um es zur Welt zu bringen (Februar 1903). Ihre Mutter sagte später aus, dass Anna den Lehrer nicht heiraten wollte, weil er ihr zu alt war. Über Wagner äußerte sich Frau Schlecht recht positiv, er habe nie Geld verlangt. Mit anderen Worten: der Schullehrer war für die Schlechts, die einen Bauernhof, eine Gastwirtschaft und eine Metzgerei besaßen, ein Hungerleider. Überall in der Geschichte taucht das Geld als zentraler Maßstab auf. An den Mauserpistolen interessierte nach dem Amoklauf vor allem, was sie gekostet hatten. Das Lesen, schreibt Wagner in seiner Autobiographie, sei für ihn die Flucht „in ein erträglicheres Milieu“ gewesen. Man fragt sich allerdings, wie gut die Flucht gelang, wenn er den jährlichen Umfang seiner Lektüre so angibt: „Ich habe, seit ich in Radelstetten bin, viel gelesen, jedes Jahr für 300-500 Mark Bücher verschluckt.“

Vor hundert Jahren gab es in einem schwäbischen Dorf oft nur zwei Personen, die von außen gekommen waren: den Pfarrer und den Lehrer. Als wolle er sein Außenseitertum noch besonders betonen, trug Wagner gelbe Schuhe und eine weiße Weste. Außerdem bestand er darauf, Hochdeutsch zu sprechen. Wie das auf die Bauern wirkte, kann man sich denken. Und wie sich wohl Wagner fühlte, der nichts besaß, weil sein Bruder den elterlichen Hof geerbt und seine Mutter den Rest verkauft hatte? Ein Bezirksschulinspektor schrieb in seine Beurteilung, Wagner sei „eitel, geziert, unnahbar gegen den Geistlichen, ehrerbietig, aber verschlossen, gegen die Gemeinde zurückhaltend“.

Wagner war also der Fremde mit den gelben Schuhen und dem mageren Gehalt, der sich offenbar für etwas Besseres hielt und die jüngste Tochter des Gastwirts schwängerte. Man muss nicht studiert haben und kein Psychiater sein, um zu ahnen, dass mit Gaupps Version von der harmonischen Beziehung zwischen den Mühlhäusern und ihrem Lehrer („gerne gesehen gewesen und in gutem Andenken geblieben“) etwas nicht stimmen kann. Zu Gaupps Dorfidylle gehört auch, dass Ernst und Anna im Heimatort der Braut Hochzeit feierten, wie es sich gehört. Das war am 29. Dezember 1903. Tatsächlich heirateten sie allerdings in Ludwigsburg, an einem Werktag. Sehr romantisch war das wohl nicht.

Ernst Wagner

Für Wagner scheint seine Frau kaum mehr als Putzfrau, Köchin und Sexobjekt gewesen zu sein. Er bescheinigte ihr „einen tüchtigen Dienstmädchencharakter“, hätte sich aber einen anderen Busen gewünscht: „Brüste nach biblischem Geschmack. Straffe Anmut ‚junger Rehzwillinge’, wie sie Salomon, der sich auf die Weiber verstand, so liebte.“ Reden wollte er meistens nicht mit ihr, weil er sie dumm und ungebildet fand. Nach der Hochzeit zog Anna zu Ernst nach Radelstetten. Das war ein Kaff auf der Schwäbischen Alb. Nach langem Streit (die Kosten!) hatte man an die Lehrerwohnung im Schulhaus einen Abort angebaut. Einen Lehrer, der freiwillig nach Radelstetten gekommen wäre, fand man trotzdem nicht. Im Sommer 1903 wurde schließlich einer, der ein uneheliches Kind gezeugt hatte, dorthin strafversetzt. Das hatte wenigstens keine Auswirkungen auf den Geburtsquotienten. Ob der Pfarrer dadurch wohl besänftigt war? Zu den außerschulischen Pflichten eines Lehrers gehörte die Leitung des Kirchenchors. Als Organist beim Gottesdienst verdiente er sich etwas dazu. Seine Dienstaufsicht im Dorf war der Pfarrer.

1904 nahm das Daimler-Werk in Untertürkheim die Produktion auf. Wagner (Pseudonym: „Walther Ernst“) begann im selben Jahr mit dem Schreiben von sehr bildungslastigen Dramen, die keinen interessierten. Für Aufsehen in Radelstetten sorgte der Besuch eines bei Daimler arbeitenden Verwandten in einem Automobil. Auch ein paar Kollegen vom Lehrerstammtisch in Scharenstetten waren motorisiert. Wagner konnte sich nur ein Fahrrad leisten und musste sich von seiner Frau anhören, dass es zu teuer war. Auf der Alb fühlte er sich wie auf dem Abstellgleis. Und es gab viele Schuldige: die Leute, die für seine Suspendierung und die folgende Versetzung gesorgt hatten (in der Amoknacht fragte er ausdrücklich nach dem Schultheiß); die Schlechts und alle anderen, die er für die Zwangsehe mit Anna verantwortlich machte; Anna selbst, die nicht abtreiben wollte und weitere Kinder zur Welt brachte.

1905 starb Annas Vater, ein strenger Patriarch. Es gab einen erbitterten Erbschaftsstreit. Anna scheint leer ausgegangen zu sein. Wagner dürfte das die ohnehin verhasste Verwandtschaft nicht sympathischer gemacht haben. 1906 gönnte er sich trotzdem etwas. Bei der Ulmer Zeitung ließ er 300 Exemplare von Bilder aus dem alten Rom drucken. Ebenfalls im Selbstverlag erschienen Nero (1907) sowie David und Saul (1909). Die Dramen verschickte er an Theater; keiner wollte sie aufführen. Auch Die neue Rechtschreibung, seine Reaktion auf die Deutsche Rechtschreibkonferenz in Berlin (1901), fand keine Resonanz. 1912 wurde er endlich an die Volksschule in Degerloch versetzt. Das war viel besser als Radelstetten. Aber Wagner war jetzt gerade einmal Hauptlehrer. Einige Studienkollegen waren längst Oberlehrer und hatten eine Stelle in Stuttgart.

Kastrierte Engel

Am Abend vor dem Amoklauf, bei dem er anderen die Häuser anzündete, saß Wagner im Garten seiner Wirtin. Das klingt idyllisch. Aber im Land der Häuslebauer wohnte er immer noch zur Miete. Schuld daran waren auch die Kinder. Er hatte inzwischen vier davon. In seiner Welt bedeuteten viele Kinder Armut und sozialen Abstieg. Wagners Rezept dagegen:

Ich sage euch: man soll sie totschlagen die armen Kinderlein, das ist wohlgetan an armen Kinderlein. Ich muss das wissen, denn ich zählte auch zu den armen Kinderlein.

In der Autobiographie behauptet er, Frau und Kinder umbringen zu wollen, weil er Mitleid mit ihnen habe. Die Kinder sollen nicht mit der Schuld des Vaters leben müssen, und Anna würde schrecklich leiden, wenn er nur die Kinder töten würde. Sein Psychiater nahm ihm das ab. Wagner war ein humaner Mörder. Damit seine Opfer nicht zu sehr leiden mussten, betäubte er sie mit dem Totschläger, bevor er auf sie einstach. An den Körpern wurden aber Schnitt- und Stichverletzungen festgestellt, die man nur so deuten kann, dass sich die Opfer wehrten. Gaupp spielt solche Fakten herunter oder lässt sie weg.

Mitunter treiben Gaupps Erklärungsversuche kuriose Blüten. In Mühlhausen zündete Wagner das Anwesen an, das sein Schwager vom verstorbenen Schwiegervater geerbt hatte. Er tat das aber nicht, um alle dort lebenden Verwandten zu verbrennen. Es war vielmehr – so Wagner – ein Akt der Fürsorge. Gaupp glaubte ihm:

Er nahm es nicht schwer, den Adler in Mühlhausen anzuzünden, weil er seinen Schwager gut versichert wusste. Er wollte ihm damit das Wegziehen von dort nach seinen Gewalttaten erleichtern.

Gaupp fragte Wagner zwar nach anderen möglichen Motiven für die Tat (Ruhmsucht, Konflikte mit Verwandten und Bekannten), ging dem aber nicht weiter nach, als der Hauptlehrer solche Motive verneinte. Wagner, so Gaupp, war „ein Mann von seltener Wahrheitsliebe […], der offenbar nichts beschönigt“. Dem Psychiater erleichterte das die Arbeit ganz enorm: „So wird die Beobachtung und Beurteilung seiner Persönlichkeit durch keine verlogenen Aussagen oder raffinierten Täuschungsversuche erschwert.“ Gaupp hatte sich vorgenommen, „alle die Fäden aufzudecken, die von der gesunden Persönlichkeit in die Krankheit hineinführen“. Übrig blieb die zu Verfolgungswahn und Amoklauf führende Sodomie im Stall, von der keiner weiß, ob sie je stattfand. Alle anderen Fäden waren nicht so wichtig.

Auch in der Heilanstalt Winnental war man von der Sodomie fasziniert. Wagner beschwerte sich mehrmals schriftlich über andere Insassen, die krähten, wenn sie ihn sahen oder dauernd dieses Lied sangen:

Auf der Alb da steht a Kuh
Macht die Augen auf und zu
Hinter der Kuh da steht ein Schwein
Schaut der Kuh ins Aug’ hinein.

Wagner antwortete mit eigenen Gedichten, arbeitete seine alten Stücke um, schrieb neue, gab sie in die Anstaltsdruckerei und schickte sie unverdrossen an Theater, die sie nicht haben wollten. Auf eine Bühne schaffte es der Mordbrenner von Degerloch dann doch noch. Im Oktober 1932, bei der jährlichen Tagung der südwestdeutschen Psychiater in Tübingen, stellte Gaupp den „berühmten Paranoiker Wagner“, wie einer der Teilnehmer schrieb, seinen Kollegen vor. Zur „echten Paranoia“ ohne Schizophrenie, so die Überzeugung der Experten, gehörte mit dazu, dass der Patient im Lauf der Jahre nicht „verblödete“. Gaupp führte mit Wagner vor versammelter Kollegenschar ein zweistündiges Gespräch, bei dem der „echte Paranoiker“ seine Schlagfertigkeit bewies. Verblödet war er nicht, aber ein bisschen doch das Monster. So wie in Young Frankenstein von Mel Brooks. Da kommen der Doktor und sein Patient zum Stepptanz auf die Bühne, und das Monster singt „Puttin’ on the Ritz“.

Young Frankenstein

Seinen größten Beitrag zur deutschen Literatur leistete Wagner wider Willen. Hermann Hesse, der 1893 auf Betreiben seines Vaters in Winnental auf „moralisches Irresein“ untersucht worden war (Hesse wollte nichts mit dem Pietismus zu tun haben, den er unmenschlich fand), verließ Anfang 1919 Frau und Kinder und fuhr in den Süden, um ein neues Leben anzufangen. Es war auch der Beginn einer neuen Schaffensphase. Noch im selben Jahr veröffentlichte er seine autobiographisch gefärbte Erzählung Klein und Wagner. Klein, ein Beamter mit Mordgedanken, unterschlägt Geld, flieht nach Italien und entdeckt Parallelen zwischen sich und dem „süddeutschen Schullehrer W. […], der seine ganze Familie auf eine furchtbar blutige Weise abgeschlachtet“ hatte. Hesse verarbeitete in Klein und Wagner Einsichten, die sein weiteres Schreiben prägten:

Beides muss sein, ohne das Tier und den Mörder in uns sind wir kastrierte Engel ohne rechtes Leben, und ohne den immer neuen flehentlichen Drang zum Verklären, zur Reinigung, zur Anbetung des Unsinnlichen und Selbstlosen sind wir auch nichts Rechtes.

Das Urheberrecht zwischen Plagiat und Wahnsinn

1932, als Wagner in Tübingen aufgeräumt plauderte, hatte er Jahre des – wieder einmal erfolglosen – Kampfes um seine Urheberrechte hinter sich. Es begann im Frühjahr 1921. Damals vollendete er ein Drama mit dem Titel Wahn. König Ludwig II. von Bayern, mit dem er seine „kleinen Verhältnisse auf die großen“ übertragen wollte (abgedruckt in Der Mensch im Wahn, Hg. Gunter Hofer, Basel 1968). Die großen Verhältnisse waren die des Erbauers von Neuschwanstein. Ein Exemplar des Werks schickte er an Gaupp. Der war begeistert. Er schrieb sofort einen Aufsatz über „Die dramatische Dichtung eines Paranoikers über den ‚Wahn’“. Darin heißt es, dass Wagner mit dem Stück versuche, „seine eigene Wahnbildung unter die kritische Lupe zu nehmen und sein eigenes Schicksal durch Umgestaltung in eine künstlerische Form mehr und mehr zu meistern.“ Das Resultat war aber ein ganz anderes, als der Psychiater es sich gedacht hätte.

Gaupp brachte auch einen Artikel im Berliner Tageblatt unter. Den las jemand vom Münchner Verlag Meyer und Jessen. Wagner erhielt einen Brief („Sehr geehrter Herr Hauptlehrer“), in dem angefragt wurde, ob er nicht Autor des Verlags werden wolle? Wagner wollte und schickte vier Theaterstücke nach München. Dazu muss man wissen, dass der Verleger Georg Heinrich Meyer unter chronischer Finanznot litt und zweimal mit eigenen Firmen Pleite ging, während er andererseits sehr erfolgreich den Kurt Wolff Verlag leitete. An Wagners Stücken war auch interessant, dass sie schon gedruckt waren, zunächst also kaum Kosten anfielen. Warum es trotzdem nicht zum Abschluss kam, ist unbekannt. Der Verlag hielt Wagner vorerst hin und schickte im Sommer 1922 schließlich eine mit der „Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse“ begründete Absage.

Meyer war ein Pionier der Branche. Er startete große Werbekampagnen (Motto: „Inserieren, Inserieren, Inserieren“) und schaltete auch für anspruchsvolle Literatur Anzeigen in den Tageszeitungen, was bis dahin als unschicklich galt. Star-Autor des Kurt Wolff Verlags war Franz Werfel. Im Januar 1923 wurde in Stuttgart dessen Stück Schweiger uraufgeführt. Der Titelheld ist kein Amokläufer, aber ein paranoider Mörder, und er ist – wie Wagner – mit einer Frau namens Anna verheiratet. Wagner wusste noch nicht, dass Meyer den Kurt Wolff Verlag leitete, entdeckte aber doch erste Zusammenhänge zwischen Wahn und Schweiger, als er davon in der Zeitung las. Bei einigen Kollegen galt Werfel als modischer Vielschreiber, der nur so produktiv sein konnte, weil er bei anderen – von Goethe bis Strindberg – abkupferte. Karl Kraus widmete dem Thema sogar eine Operette (Literatur oder Man wird doch da sehen) und stürzte sich mit Verve in eine Literatenfehde, die nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass beide, Kraus und Werfel, um die Gunst der Baronesse Sidonie Nádherný wetteiferten (mehr dazu in Franz Werfel von Peter Stephan Jungk).

1926 erhielt Werfel den Grillparzerpreis. Wagner wollte jetzt nicht länger schweigen und schickte den Juroren einen Brief, in dem er behauptete, Werfel habe von Meyer sein Ludwig-Stück bekommen und davon abgeschrieben:

Sie haben einen „Dichter“ preisgekrönt, der die Hauptsache der Dichtkunst, die Ideen, bei anderen holt; aus fremden Manuskripten holt, wenn nicht gar aus befreundeten Verlagen holt. Sie haben einen „Menschenfreund“ gekrönt, der in dem fraglichen Drama, in „Schweiger“, Teilnahme mit den Geisteskranken vortheatert, der aber in Wirklichkeit einem dieser armen kranken Menschen sein Letztes, sein geistiges Eigentum, gestohlen hat. […]
Ich bitte Sie noch, Herrn Werfel, dessen Wohnort mir nicht bekannt ist, von meiner Anschuldigung in Kenntnis zu setzen. Ich denke und erwarte, dass er darauf mit der Gerichtsklage antworten wird.

Werfel durfte den Preis behalten und klagte nicht. Wagner sah sich erneut um seinen großen Auftritt vor Gericht betrogen, gab aber so leicht nicht auf. Er forderte vom Landgericht Heilbronn seine Autobiographie an, erhielt sie und verfasste eine 68-seitige Schrift, mit der er beweisen wollte, dass Werfel außer von Wahn auch noch von seinem Schauspiel Die Landhofmeisterin (1922) und eben dieser Autobiographie abgeschrieben hatte. Werfel hatte nicht nur Wagners Ideen gestohlen, sondern diese auch noch schlecht „verwurstelt“ und seinen „Senf und Knoblauch“ hinzugetan. Wagner war nach eigener Einschätzung der größte deutsche Dichter seit Goethe und Schiller. Kein Wunder, dass Werfel da nicht mithalten konnte.

Im November 1926 ließ Wagner in der Anstaltsdruckerei ein Flugblatt herstellen, das er an ausgewählte Persönlichkeiten verschickte. In „Werfel, der Plagiator“ fasste er die wichtigsten Anschuldigungen zusammen und forderte Gerechtigkeit für sich und alle anderen, die man ihres Urheberrechts beraubt hatte. Als das nichts fruchtete, nahm er sich Werfels Gesamtwerk vor. Franz Werfel war Jude. Es kam daher, wie es kommen musste: Wagner deckte auf, dass er ein Opfer der jüdischen Weltverschwörung geworden war. 1929 ließ er ein antisemitisches Pamphlet mit den Resultaten seiner dreijährigen Detektivarbeit drucken.

Heiland der Gesunden

Nicht nur Schweiger, sondern auch so gut wie alles andere, das Werfel seit 1913 veröffentlicht hatte, war von ihm abgeschrieben. Zu den Verschwörern gehörten neben Meyer auch Wagners ehemaliger, angeblich jüdischer Anwalt (er hatte dem Plagiator 1913 die Autobiographie und die Gerichtsakten zugespielt) sowie ein Anstaltsarzt in Winnental, der allerdings ein glühender Nazi war. Aus „Werfel, der Plagiator“, Nummer 2 (Juli 1929):

Es hat mir einer gesagt: „Der Schriftsteller, der sich mit den Juden verfeindet, ist erledigt.“ Wahr ist das, so traurig und beschämend es auch ist. Die deutsche Geistigkeit lebt nicht in der Freiheit sondern in der Knechtschaft der Judenzensur. Verlag, Presse, Theater, Kino und Radio werden von den Juden souverän beherrscht. Die Juden – der Schriftsteller, der Verleger, der Bühnenleiter und der Kritiker – stecken alle unter einem Hut; sie arbeiten einander in die Hände und machen gemeinschaftliches Geschäft. Und das heißt man dann – Kunst!

Der „Hauptlehrer a. D.“, der diesen Schwachsinn schrieb, saß nicht deshalb im Irrenhaus, weil Werfel das so angeordnet hatte. Aber was ist von den Verantwortlichen in Winnental zu halten, die nichts dagegen hatten, dass dieses Pamphlet in der Anstaltsdruckerei vervielfältigt wurde? Die Gedanken des 14-fachen Mörders und Paranoikers wurden nun salonfähig.

In der Autobiographie erklärte sich Wagner zum „Heiland der Gesunden“:

Überall aber täte eine Sanierung der Menschheit not. […] Nach meinem Beobachten und Ermessen müsste ein starkes Drittel dran glauben, ja, ich meine, wir hätten dann erst das Gröbste weg. Wir schiffen zu sehr in übelriechenden Niederungen und müssen jetzt endlich den Ballast abwerfen, um in reiner, gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor und kein Kommabazillus soll durchschlupfen. 25 Millionen Deutsche nehme ich auf mein Gewissen […].

Das Mitleid, aus dem heraus der Hauptlehrer angeblich seine Kinder getötet hatte, wurde auch von den Verfechtern der Euthanasie bemüht. Als der tuberkulosekranke Hauptlehrer nicht mehr lange zu leben hatte, schlug er der Stuttgarter Medizinalbehörde vor, sich selbst den Gnadenschuss zu geben:

Ich habe schon letztes Jahr um einen Revolver gebeten und keine Antwort erhalten, obwohl ich seit Jahresbeginn 1930 der erste Nationalsozialist in Winnental bin. Wie Sie wissen, habe ich viele Jahre ganz auf mich selbst angewiesen einen schweren Kampf gegen den Plagiator, Fälscher und Gerichtsaktendieb Werfel geführt und überhaupt den Kampf gegen die Verjudung der deutschen Literatur geführt.

Den Revolver bekam er nicht. Ernst Wagner starb am 27. April 1938 in Winnenden an den Folgen seiner Tuberkuloseerkrankung. Der Leichnam wurde eingeäschert. Wagners Hirn schickte die Heil- und Pflegeanstalt Winnental an Prof. Spatz vom Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, zur weiteren Untersuchung. Die Berliner sandten es mit der Begründung zurück, dass es beim Verpacken beschädigt worden und für die Hirnforschung daher nicht mehr zu gebrauchen sei (wir sind jetzt wieder bei Frankenstein). Man solle es doch bei der Psychiatrischen Klinik in Freiburg versuchen, wo Dr. R. Gaupp junior das Anatomische Laboratorium leite. Prof. Spatz hielt das für eine gute Idee, weil das Hirn dann in der Familie bleiben würde.

Mördergehirn

Der Sohn wollte das Hirn nicht haben. Möglicherweise war das eine Abwehrreaktion. Vielleicht hatte Prof. Gaupp daheim immer von seinem berühmtesten Patienten erzählt wie andere Väter vom Krieg. Irgendwann kann man das nicht mehr hören. Jedenfalls ging das Hirn verloren. 1994 tauchte es wieder auf. Bernhard Bogerts entdeckte es zufällig in der Sammlung des C.-und-O.-Vogt-Institutes für Hirnforschung, unter der Nummer MD 4 (Mördergehirn 4). Gaupp junior hatte es an das damals im Schwarzwald ansässige Institut geschickt, und später war es an die Universität Düsseldorf mit umgezogen, zu der das Vogt’sche Institut heute gehört (Näheres in Bogerts’ Aufsatz in Wahn und Massenmord, Hg. Klaus Foerster et al.).

Der Senior reagierte wie immer schnell und hatte bereits Anfang Juni 1938 einen umfangreichen Aufsatz fertig, der in einer Fachzeitschrift für Psychiatrie erschien. 1913 hatte er viel Lobenswertes an Wagners Gedankengängen entdeckt, aber die „Rassenhygiene“ hatte noch nicht dazugehört. Das war jetzt anders. Wagner, so Gaupp, habe die „Aufbauarbeit des Führers bewundert und einem grundsätzlichen Antisemitismus gehuldigt“. Und weiter:

In seinen „Stuttgarter Spaziergängen“ [Teil 3 der Autobiographie] finden sich neben mancher schulmeisterlichen Verschrobenheit auch treffliche Gedanken auf politischem und sozialem Gebiete. Er hat in der Beurteilung der seelischen Entartung von Familie und Volk manche Vorstellungen scharf gefasst und formuliert, die heute zur vollen Geltung gekommen sind, besonders auf rassenhygienischem Gebiete.

Am 30. Mai 1940 fuhren bei der Heil- und Pflegeanstalt Winnental in Winnenden drei graue Omnibusse der „Gemeinnützigen Kranken-Transport-GmbH“ („Gekrat“) mit Krankenschwestern und SS-Männern vor. An diesem Tag wurden die ersten 90 Patienten nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb „verlegt“ (siehe Landesarchiv Baden-Württemberg und Harvard Law School Library). Die Aktion war Teil des Euthanasie-Programms, dem 1940/41 insgesamt 395 Insassen von Winnental zum Opfer fielen. Dr. med. Otto Gutekunst, seit 1933 Mitglied der NSDAP und seit 1935 Anstaltsleiter, nahm 1945 für sich in Anspruch, viele seiner Patienten gerettet zu haben. Gutekunst wollte der „Kulturschande“ keinen Vorschub leisten, aber zur „Kultur“ gehörten auch das Geld und die Bewertung von Menschen entsprechend ihrer Produktivität.

Zunächst, so Gutekunst, wurden vor allem Kranke „verlegt“, die an „Schwachsinn, Endzuständen von Schizophrenien und anderen Psychosen litten, das heißt blöde, unheilbar und zu keiner geordneten Arbeit zu verwenden waren“. Aber dann waren auch Patienten betroffen, die „geistig noch besonnen, nicht verblödet und brauchbare Arbeiter waren“. Das war Verschwendung. Einigen Dutzend dieser noch produktiven Kranken rettete Gutekunst das Leben. Dafür handelte er sich einen Rüffel seiner Vorgesetzten ein. Als Held der Menschlichkeit taugt er aber eher nicht.

Dr. Gutekunst nahm Anteil am Schicksal seiner Patienten. Bestimmt wollte er, dass sie nicht unnötig leiden mussten (so wie Wagner bei der Ermordung seiner Kinder). Laut Aussage vom 23. April 1948 akzeptierte er deshalb eine Einladung nach Grafeneck – unter der Voraussetzung, dass er in einem Auto abgeholt und wieder zurückgebracht wurde. In Grafeneck herrschten Ordnung und Sauberkeit. Ein Arztkollege zeigte ihm die frisch bezogenen Betten, die als Dusche getarnte Gaskammer und die Verbrennungsöfen. Dr. Gutekunst war sehr an Korrektheit gelegen. In einem Nebenraum sah er einen großen Haufen mit Knochenstücken:

Meiner Erinnerung nach verklopfte ein Angestellter in Grafeneck diese Knochenstücke gerade mit einem Hammer. Nach meiner Rückkehr sagte ich meinem Pfarrer Flachsland in Winnenden, er möge bei einer etwaigen Beisetzung der Urne aus Grafeneck nicht sagen: „Ich gebe Deine Asche zu Asche“, sondern „Ich gebe die Asche zu Asche“, um zu betonen, dass es sich nicht um die Asche des Toten handelt!

Manchmal ist die „Normalität“ viel mörderischer und verrückter, als es die Wahnsinnigen im Irrenhaus je sein könnten. Verglichen damit erscheint die Frage, was wirklich im Stall von Mühlhausen geschah, als nicht mehr ganz so wichtig. Und Friedrich Schiller, der Verfasser von Theaterstücken voller Gewalt, konnte nichts dafür.