Piratenüberfälle vor Somalia nehmen massiv zu

Die Militäroperation Atalanta konnte die Piraten am Horn von Afrika nicht abschrecken und ist womöglich Unterstützung eines neues Kolonialismus

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In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden nach Angaben der Internationalen Seefahrtsbehörde (IMB) mehr Angriffe von Piraten verzeichnet, als im gesamten vergangenen Jahr. Der Anstieg sei besonders auf die Zunahme der Piraterie vor Somalia zurückzuführen, obwohl ausgerechnet dort die Militarisierung immer stärker vorangetrieben wird. Auf französischen Fischerbooten fahren schon Soldaten mit und Spanien heuert nun Söldner an. Werden aus Entführungszielen demnächst militärische Ziele? Die Frage ist auch, wer eigentlich die Piraten sind, wenn angesichts der Hungersnot am Horn von Afrika die Europäer die reichen Fischgründe leer fischen.

Deutsche Marine verhindert Entführung. Bild: consilium.europa.eu

Deutlicher, als über den Piraterie-Report, der am Mittwoch vom Internationalen Schifffahrtsbüros (IMB) vorgelegt wurde, kann das Scheitern der EU-Militäroperation "Atalanta" eigentlich kaum beschrieben werden. Die Mission, an der auch die Bundeswehr nach eigenen Angaben mit bis zu 1.400 Soldaten beteiligt ist (Piratenjagd auch auf dem Land), wurde am 8. Dezember 2008 gestartet. Ein wesentliches Ziel ist, "Piraten am Horn von Afrika und im Seegebiet bis zu 500 Seemeilen vor der Küste Somalias und seiner Nachbarländer abzuschrecken", heißt es auf der Website der Bundesmarine.

Zwar werden auf der Website der Bundeswehr auch immer wieder "Erfolge" vermeldet, doch an der Tatsache, dass die Angriffe vor der Küste Somalia deutlich zugenommen haben, ändert das nichts. Das geht aus dem Bericht der IMB hervor, das zur Internationalen Handelskammer (ICC) gehört. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres habe es weltweit 306 Angriffe von Piraten gegeben. Das wären mehr als im gesamten Vorjahr.

Die Zunahme der Angriffe geht vor allem auf die Entwicklung vor der somalischen Küste zurück. Dort wurden von Januar bis September 47 Attacken gemeldet. Im Vorjahreszeitraum waren es nur 12. Für den gesamten Golf von Aden stieg die Zahl der Angriffe in den ersten neun Monaten auf 100 Angriffe, das waren schon fast doppelt so viele wie die 51, die in der Vorjahresperiode registriert wurden, bevor der Atalanta-Einsatz begann.

Das Operationsgebiet haben die somalischen Piraten wegen des Einsatzes ausgedehnt. Sie sind nun auch im Gebiet zwischen den Seychellen und Malediven aktiv. Mit der höheren Zahl der Angriffe gleichen sie offensichtlich aus, dass auch Angriffe abgewehrt werden. Im Schnitt konnten sie 2009 eins von neun Schiffen in ihre Gewalt bringen, während es im Vorjahreszeitraum noch 1 von 6,4 waren. Die Militarisierung führt aber dazu, dass immer öfter Schusswaffen zum Einsatz kommen. Die Zahl sei im Vergleich zu den ersten drei Quartalen des Vorjahrs um über 200 Prozent gestiegen.

Karte der Angriffe auf Schiffe. Bild: ICC

Mit der Militarisierung steigt die Zahl der Angriffe und des Schusswaffengebrauchs

Vor Somalia waren 2008 insgesamt 42 Schiffe gekapert worden, 850 Seeleute wurden dabei als Geiseln genommen. In den ersten neun Monaten 2009 waren es schon 34 Schiffe mit 661 Geiseln und gerade am Montag kam als 36. Schiff ein chinesischer Frachter mit 25 Seeleuten hinzu. Schon seit dem 2. Oktober befindet sich als 35. Schiff der baskische Trawler "Alakrana" mit 36 Besatzungsmitgliedern in den Händen von Piraten aus Somalia. So kann kaum davon ausgegangen werden, dass 2009 die Zahl der gekaperten Schiffe oder die Zahl der Geiseln zurückgehen wird. Deshalb erstaunt die Schlussfolgerung des IMB-Direktors: "Die Marineschiffe, die vor der Küste Somalias operieren, spielen weiterhin eine entscheidende Rolle, um die Piratenbedrohung einzudämmen", sagte Pottengal Mukundan. Die verbesserten Sicherheitsmaßnahmen erschwerten den Piraten erfolgreiche Angriffe, meint er.

Allerdings steigt dadurch offensichtlich nicht nur der Einsatz von Schusswaffen, auch die Lösegeldsummen, die zur Freilassung der Geiseln gezahlt werden müssen, schießen in die Höhe. Im Fall des baskischen Fischerboots "Playa de Bakio" wurden den Entführern im vergangenen Jahr vom spanischen Geheimdienst CNI 1,2 Millionen Dollar als Lösegeld überbracht, berichtet die Zeitung El País. Sie steht der sozialistischen spanischen Regierung sehr nahe und ist meist gut mit vertraulichen Daten informiert. Im Fall der Alakrana soll es mindestens die doppelte Summe sein, ist aus gut informierten Kreisen zu vernehmen. Statt sechs Tage, wie im Fall der Playa de Bakio, zieht sich die Geiselname der Alakrana nun schon drei Wochen hin. Der Kontakt der Angehörigen zum Schiff ist seit fünf Tagen völlig unterbrochen, klagten sie in einem Schreiben am Dienstag an, worin sie ihr "Unwohlsein und Unruhe" beschrieben. Nachdem sie auch am Mittwoch nicht von den Verantwortlichen über die Lage informiert wurden, haben die fünf baskische Städte zu gemeinsamen Protesten am Freitag aufgerufen, aus denen ein Teil der Besatzungsmitglieder kommt. Erwartet wird, dass dies auch in den Städten Galiziens geschieht, aus denen ein weiterer Teil der Besatzung kommt.

Verantwortlich für die Verzögerungen ist wohl der umstrittene Ermittlungsrichter am Nationalen Gerichtshof Baltasar Garzón. Der lässt keine Gelegenheit aus, um auf die Titelseiten der spanischen Zeitungen zu kommen. Selten kommt aber bei seinen Anklagen etwas Positives heraus: Ob bei der Pinochet-Anklage, seinem Vorgehen gegen "Täter, Hintermänner und Komplizen" im Rahmen des "Kriegs gegen den Terror" in den US-Lagern oder das Eigentor bei den Ermittlungen gegen die Franco-Diktatur. Bisweilen wird schon mal eine Zeitung oder ein Radio das Opfer seines illegalen Vorgehens. Viel öfter, wie im Fall der Alakrana, erweist er der Sache aber einen Bärendienst.

In diesem Fall ließ er zwei mutmaßliche Entführer, welche die spanische Marine nach der Kaperung gefangen nahm, nach Madrid bringen, um sie dort wegen "Terrorismus, Entführung und Piraterie" vor Gericht zu stellen. Das führte zunächst zum Abbruch der Verhandlungen, weil die Entführer deren Freilassung forderten. Einer wurde von Garzóns Kollege Santiago Pedraz schon wieder frei gelassen, weil er offenbar minderjährig ist. Ohnehin, wäre Garzón konsequent, müsste er die spanische Regierung angesichts der Terrorismusanschuldigung wegen Unterstützung anklagen, schließlich hat sie im Fall Playa de Bakio ein Lösegeld bezahlt.

Söldner für den Schutz der Fischer

Sowohl im Baskenland als auch im Rest des spanischen Staats ist inzwischen eine Debatte über die Fischerei fern der Heimat entbrannt. Oberflächlich wird im Parlament darüber gestritten, ob das spanische Militär auf den Fischerbooten für Schutz sorgen soll, wie es Frankreich schon durchzieht. Das lehnte die spanische Regierung mit Verweis auf die Rechtslage allerdings ab. Da die spanischen Sozialisten aber so gar nichts gegen Privatisierung haben, wird nun auch das Gewaltmonopol des Staates privatisiert. Zum Schutz der Fischer werden nun bewaffnete Söldner angeheuert. Mindestens acht Boote sollen künftig von britischen Ex-Soldaten geschützt werden. Die dürfen dafür auch Langwaffen verwenden und ein großer Teil der Kosten dafür wird aus der Staatskasse getragen.

Für die Schiffseigner ist das ohnehin zu wenig Schutz gegen "Granatwerfer, Panzerfäuste und Maschinengewehre", welche von den Piraten eingesetzt würden. Spanisch ist aber auch, dass das staatliche Schutzgeld für Schiffe ausgegeben werden muss, die gar nicht mehr unter spanischer Flagge fahren dürfen. Denn die Gesetze des Landes verbietet das Anheuern von Söldnern, deshalb müssen die Fischerboote mit den Söldnern unter der Flagge der Seychellen segeln.

Neue Form des Kolonialismus

Was dabei völlig unter den Tisch fällt, allerdings wird diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt, ist die Frage, ob es hier nicht um eine neue Form des Kolonialismus handelt, der zunehmend militarisiert wird. Die Fischer werden gewarnt, nicht an dieser Schraube mitzudrehen, weil sie alsbald als militärisches Ziel gesehen und angegriffen würden. Nicht wenige im Baskenland meinen, dass man am Horn von Afrika nichts verloren habe. Angefeuert wird die Debatte auch von den Entführern. Die sprechen ebenfalls von einer "illegalen Fischerei" durch die Alakrana: "Die spanische Besatzung sieht einer harten Strafe entgegen, weil ihre Regierung von der Europäischen Union Hilfen verlangt, um die illegale Fischerei in Somalia aufrecht zu erhalten", zitiert die Zeitung El Mundo einen Sprecher der Piraten. Sugule Ali hatte schon vor einem Jahr der New York Times in einem Interview gesagt: "We don't consider ourselves sea bandits. We consider sea bandits those who illegally fish in our seas and dump waste in our seas and carry weapons in our seas. We are simply patrolling our seas. Think of us like a coast guard."

Auch Umweltschutzorganisationen werfen den europäischen Fischern am Horn von Afrika vor, dort die reichen Fischgründe abzugrasen. Bisweilen würden ganze Schiffsladungen einfach wieder ins Meer gekippt, weil man auf eine Fischart gestoßen sei, die sich noch teurer vermarkten ließ. Während man die eigenen Fischgebiete leer gefischt habe, führe man nun den Raubbau auch noch fern der Heimat fort.

So wird zudem ein Raubbau vor der Küste eines Landes betrieben, in dem eine schwere Hungersnot wütet. Von dem Fischreichtum oder von den Einnahmen, welche die Europäer damit erzielen, erhalten die hungernden Menschen im Land nichts. Etwa fünf Millionen Menschen leiden in Somalia Hunger: jeder zweite Somali. Die Hilfsorganisation Oxfam spricht inzwischen von einer "humanitären Katastrophe", die sich in alarmierender Form verschlimmere. Seit dem Sturz der Regierung vor 18 Jahren sei die Lage nicht so schlimm wie jetzt gewesen.

Zwar habe auch der Dauerkonflikt den Hunger in Somalia verschlimmert, doch allein verantwortlich ist er nicht. Auch in Gegenden, die weit entfernt von Kampfzonen sind, ist die Lage fatal. Vor allem die anhaltende Dürre macht den Ackerbau nahezu unmöglich. Das Vieh stirbt den Nomaden weg, womit die Menschen jeglicher Lebensgrundlage beraubt werden. Ähnlich sieht die Lage auch in den Nachbarstaaten aus. Nach UN-Informationen benötigen inzwischen mehr als 24 Millionen Menschen in Somalia, Dschibuti, Äthiopien, Eritrea, Kenia und Uganda Lebensmittelhilfe und humanitäre Unterstützung. Das seien schon vier Millionen mehr als noch zu Jahresbeginn.

Und damit zeigt sich, dass der Atalanta-Einsatz auch mit dem zweiten angeblich so wichtigen Grund gescheitert ist. Schließlich wurde behauptet, dass über den Militäreinsatz "die humanitäre Hilfe für die Not leidende somalische Bevölkerung" sichergestellt werden soll. Angeführt wurde, dass die humanitäre Hilfe durch Lieferungen des Welternährungsprogramms überwiegend auf dem Seeweg erfolge. "Der Schutz durch die Operation Atalanta ist daher für die Versorgung der somalischen Bevölkerung mit Lebensmitteln von zentraler Bedeutung."