Weniger Freihandel wagen

Der Welthandel ist schon groß genug. Die wissenschaftlichen und empirischen Belege reichen nicht aus, um eine weitere Ausdehnung mit dem möglichen zusätzlichen Wachstum zu rechtfertigen

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Es ist schwer zu ertragen, wenn führende EU-Politiker wie Bernd Lange (SPD) von einem "Schritt zur Zerstörung der EU" reden, nur weil das wallonische Parlament seine seit über einem Jahr bekannte ablehnende Haltung zu CETA nicht ändert, bloß weil jetzt die Unterzeichnung der Verträge ansteht. Schließlich hat sich die Sozialdemokratie im Rest von Europa ja auch beruhigt, bzw. über den Tisch ziehen lassen.

Ganz offensichtlich hatte nicht nur die deutsche SPD-Basis Bauchschmerzen angesichts erweiterter Konzernklagerechte, neuer Technokratengremien, der weiteren Stutzung des Vorsorgeprinzips oder einer Ausweitung von Schweine- und Rindfleischimporten, sondern auch sozial und demokratisch gesonnene Spitzenpolitiker in ganz Europa.

Dass das Gezeter um CETA und andere Freihandelsverträge dieses Europa schwächt, davon ist auszugehen. Dafür könnte es ein anderes Europa stärken: Eines, in dem es nicht mehr nur um Konkurrenzfähigkeit und Sachzwangpolitik im Standortwettbewerb geht, sondern um Zukunftsfähigkeit. Eines, in dem es nicht um eine immer fragilere Aufspaltung von Wertschöpfungsketten geht, sondern um eine Stärkung von Regionen und regionalen Wertschöpfungskreisläufen. Grundvoraussetzung dafür: Weniger Freihandel wagen.

Handel zwischen Entwicklungs- und Industriestaaten: Nicht per se wohlstandssteigernd

Das Freihandelsdogma fußt auf einer einzigen Überzeugung: Je größer die Märkte, desto besser für alle. Oder: Mehr Konkurrenz und größere Absatzmärkte seien gut für alle. Das zu belegen, machte sich eine Armada von Wirtschaftswissenschaftlern zur Aufgabe.

Schon 1776 erklärte Adam Smith, dass Nationen sich auf das spezialisieren sollen, was sie besser und billiger herstellen können - so können sie insgesamt mehr Güter produzieren. Kurz darauf begründete David Ricardo unter aus heutiger Sicht zum Teil hanebüchenen Annahmen (z.B. Vollbeschäftigung), dass Handel und internationale Arbeitsteilung selbst für Länder vorteilhaft sind, die bei allen Produkten Kostennachteile haben. Dabei wird gern der normative Gehalt dieser Aussagen unter den Tisch gekehrt. Bei Handelsliberalisierungen bilden sich vor allem zwischen ungleich entwickelten Ländern Handelsstrukturen entsprechend deren (komparativen) Kostenvorteilen heraus. Die häufig unausgesprochene Behauptung lautet nun: Das sei auch gut so!

Vor allem für arme Länder bedeutet es häufig jedoch nichts Gutes, wenn sie sich auf Exportprodukte spezialisieren sollen, die sie (relativ) billiger herstellen können als andere. Das sind zumeist Rohstoffe, Grundnahrungsmittel oder simple Vorprodukte. Wenn Regierungen nicht korrigierend eingreifen, etwa weil gewisse Eliten (Großgrundbesitzer, Eigentümer von Minen) diese Exportstrategie gut finden oder der IWF dies zur Voraussetzung für Kredite macht, verharren Entwicklungsländer auf dem Niveau von Rohstoffproduzenten.1

Ob Deutschland oder die USA vor dem Ersten Weltkrieg, ob Südkorea, Japan oder Taiwan nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie subventionierten oder schützten aufstrebende Wirtschaftszweige bis zur Weltmarktfähigkeit.2 Die von der EU-Kommission seit 15 Jahren mit 78 armen Ländern verhandelten "Partnerschaftsabkommen" wird deren Fähigkeit zu solcherart aufholender Entwicklung weiter einschränken, u. a. weil ihnen Zollsenkungen aufgezwungen werden (auch bei sensiblen Produkten wie Milchpulver, wo europäische Molkereien der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern massiv schaden könnten). Folglich brechen den Ländern auch Zolleinnahmen (in Milliardenhöhe!) weg; bei gleichzeitigem Verbot von Ausfuhrzöllen auf Rohstoffe werden die Möglichkeiten, aufholende Entwicklung aus eigener Kraft zu finanzieren, deutlich schrumpfen.

Auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz ("Die Schatten der Globalisierung") macht immer wieder darauf aufmerksam, dass die pauschale Marktöffnung von armen Ländern deren Entwicklungsdynamik nicht erhöhen muss. Marktöffnung ist auch nicht ein "Königsweg" zur Armutsbekämpfung - die Ursachen von Armut sind ein ganzes Bündel aus staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mängeln (Grundbesitz u. feudale Strukturen, geringe Produktivität in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, Bildungsmangel, Bevölkerungswachstum und mangelnde Geschlechtergerechtigkeit, unrentable fixe oder stark schwankende Erzeugerpreise, fehlende Zuerwerbsmöglichkeiten, hohe Rüstungshaushalte, …).

Wenn es trotz des Vorhandenseins von Motoren, Computern, Logistik und einer explosionsartigen Ausdehnung der menschlichen Fähigkeiten in den vergangenen drei Jahrhunderten noch immer eine Milliarde Menschen gibt, die Hunger leiden (und wir gleichzeitig 40 % der erzeugten Nahrungsmittel wegschmeißen), dann ist schon arg zu bezweifeln, ob weitere Zollsenkungen die Misere zum Guten wenden.

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