Deutschland wird Schwarz(Gelb)

Der Koalitionsvertrag steht und die Versprechen des Wahlkampfs sind vergessen

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Ab kommenden Mittwoch wird das Land von Union und FDP regiert – der Untergang des Abendlands ist allerdings ausgeblieben. Auf der Regierungsbank sitzen fast ausschließlich altbekannte Gesichter, der zu erwartende Kahlschlag wird erst nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen kommen, Steuersenkungen bleiben erst einmal aus und der Normalverdiener hat noch weniger Geld in der Tasche. Hätte es die SPD geschafft, Merkels Juniorpartner zu werden, hätte der Koalitionsvertrag wohl auch nicht anderes ausgesehen.

Weniger Netto vom Brutto

Manchmal geht es Spitzenpolitikern so wie ganz normalen Bürgern. Da hat man dem Filius zum Geburtstag eine brandneue Playstation versprochen, aber leider spuckt der Geldautomat nichts mehr aus. Um den totalen Gesichtsverlust abzuwenden, verschiebt man dann die Einlösung des Versprechens auf das nächste Jahr – dann aber ganz bestimmt. Natürlich glaubt der Filius schon lang nicht mehr an derlei Versprechungen, schon zu oft wurde er enttäuscht.

Guido „Steuersenkungen oder Tod!“ Westerwelle hat dem Volk keine Playstation versprochen, sondern mehr Netto vom Brutto und natürlich Steuersenkungen in biblischem Ausmaß. Da selbst die FDP allerdings einsehen musste, dass ihr kreativer Plan, Milliardensummen in Schattenhaushalten verschwinden zu lassen, nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist, bleibt dem Normalverdiener nun weniger Netto vom Brutto und die biblischen Steuersenkungen sind nicht nur merklich geschrumpft, sondern auch um einige Jahre verschoben worden. Wer glaubt, dass Schwarz-Gelb nach einem Kassensturz 2011 tatsächlich die Steuern senken wird, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Kahlschlag ante portas

Selbst der blauäugigste FDP-Wähler hat nicht ernsthaft erwartet, dass die neue Regierung tatsächlich ihre finanziellen Versprechen umsetzen würde. Deutschland steckt in der Finanzkrise, an allen Ecken und Enden brechen die Steuereinnahmen selbst ohne Senkungen weg, gleichzeitig steigen die Ausgaben dank der schwächelnden Konjunktur und dem gierigen Bankensystem.

Dem Fiskus werden in der nächsten Legislaturperiode wohl rund 40 Mrd. Euro fehlen – für die in Aussicht gestellten Entlastungen in Höhe von 24 Mrd. Euro ist da natürlich kein Platz, wenn man nicht die Axt an nahezu jedem Haushaltsposten ansetzen will. Wohin die Fahrt nach den Landtagswahlen in NRW gehen wird, hat Michael Hüther, Advocatus Diaboli mehrerer neoliberaler Lobbygruppen, schon vorgegeben – um den Schuldenberg abzubauen, seien Kürzungen im Sozialbudget unausweichlich. Der angeschlagene und minder talentierte designierte Sozialminister Franz Josef Jung wird den Kassandrarufen der sogenannten Experten sicher nicht lange widerstehen können.

Erosion des Gesundheitssystems

Die solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems gehört ab dem kommenden Jahr zu den Reminiszenzen an eine längst vergangene Zeit, in der Politik noch mehr war, als die Erfüllung der Interessen des Kapitals. Bereits die Große Koalition hat die Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen von den Lohnkosten entkoppelt – die letzte große Beitragserhöhung wurde ausschließlich von den Arbeitnehmern getragen, während der Anteil der Arbeitgeber nicht erhöht wurde. Unter Schwarz-Gelb soll der Arbeitgeberanteil nun endgültig eingefroren werden und die zu erwartenden massiven Beitragserhöhungen werden ausschließlich dem Arbeitnehmer aufgebürdet.

Die FDP wäre natürlich nicht die FDP, wenn sie diese künftigen Belastungen halbwegs solidarisch gestalten würde – die Kosten sollen über eine einkommensunabhängige Kopfpauschale erhoben werden, die Kassierin im Supermarkt muss demnach den gleichen Zusatzbeitrag zahlen wie der Manager. Ist das gerecht? Natürlich nicht, aber wer hat schon erwartet, dass das Land unter Schwarz-Gelb gerechter werden würde. Soziale Härten bei der Kopfpauschale sollen durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen werden – der Krankenversicherte wird somit vom Kunden zum Bittsteller, und woher diese Zuschüsse kommen sollen, weiß auch niemand.

Vom Terroristen- zum Bankerjäger?

Die schwerste Aufgabe im neuen Kabinett wurde dem alten Parteisoldaten Wolfgang Schäuble aufgebürdet. Was den Juristen Schäuble für das Amt des Finanzministers prädestiniert, ist eines der vielen Geheimnisse bei der personellen Zusammensetzung der neuen Regierung. Es ist zwar bekannt, dass sich Schäuble gut mit Koffern voller Geldscheine auskennt, mit der Hochfinanz hatte er jedenfalls bislang keine Erfahrungen.

Fachlichen Rat kann sich Schäuble vielleicht von Jörg Asmussen holen – es wird in Berlin nämlich gemunkelt, dass der parlamentarische Staatssekretär trotz seines SPD-Parteibuchs das wohl wichtigste Amt in der Exekutive behalten darf. Warum sollten die Finanzinstitute denn auch unter Schwarz-Gelb rigider überwacht werden, als unter der Großen Koalition?

Transatlantiker an die Macht

Ein Amt ganz nach seinen Vorstellungen konnte sich der bayerische Baron zu Guttenberg sichern. Als Verteidigungsminister wird der weltgewandte Unteroffizier der Reserve endlich seine transatlantischen Ambitionen in die Tat umsetzen können.

In Washington gibt es keinen neokonservativen Think-Tank, in dem der Name Guttenberg nicht ein genüssliches Zungenschnalzen hervorrufen würde. Guttenberg ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem Schwesterinstitut des Council of Foreign Relations, der Atlantik-Brücke und des Aspen Instituts und Sprecher des transatlantischen Forums der CSU. Als Verteidigungsminister ist von zu Guttenberg ein stramm transatlantischer Kurs zu erwarten.

Eine Aufstockung der deutschen Truppenpräsenz in Afghanistan und eine Ausweitung des Einsatzgebietes der Bundeswehr auf den Süden des Landes hat zu Guttenberg in der Vergangenheit bereits gefordert – nun kann er dies auch in die Praxis umsetzen. Damit läuft der Shooting-Star der Union allerdings Gefahr, beim Volk in Ungnade zu fallen. Guttenbergs parteiinterne Rivalen Seehofer und Söder werden dies mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen.

Adel verpflichtet

Das Kabinett Merkel II ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Noch nie saßen so wenige Politiker mit einfacher Herkunft am Futtertrog der Macht. Mit Ronald Pofalla gibt es nur einen einzigen Minister, dessen Eltern Arbeiter waren. Zu Zeiten der SPD-FDP-Koalition der Bonner Republik stellten Arbeiterkinder noch die Hälfte des Kabinetts. Dafür sind mit dem Baron zu Guttenberg, der Ministerpräsidententochter von der Leyen und dem Generalssohn de Maizière gleich drei lupenreine Vertreter des Großbürgertums Kabinettsmitglieder. Das Pendel schlägt wieder zurück – die relativ kurze Periode, in der es im Land die zarte Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaft gab, die sich durch eine hohe soziale Mobilität auszeichnet, ist offensichtlich in den Annalen der Geschichte verschwunden. Die Postenbesetzung erinnert ansonsten mehr an das Spiel „Reise nach Jerusalem“. Zwar durften alle Unionsminister auf der Regierungsbank bleiben, während aber die Damen auch auf ihrem alten Platz sitzen bleiben durften, mussten die Herren rotieren. Schäuble wechselt vom Innen- ins Finanzministerium, den freien Platz nimmt der ehemalige Kanzleramtsminister de Maizière ein, dessen Posten nun das Unionsfaktotum Pofalla bekommt. Da zu Guttenberg unbedingt Verteidigungsminister werden wollte, musste man für den Roland Koch-Initimus Franz Josef Jung einen neuen Posten finden – und welches Ministerium eignet sich am Besten für einen Juristen, dessen Kompetenzen eher dünn gesät sind? Richtig, das Ministerium für Arbeit und Soziales.

Die Verliererin der Koalitionsverhandlungen ist Ursula von der Leyen – sie wollte so gerne ins Gesundheitsministerium wechseln, gab bei den Koalitionsverhandlungen allerdings ein so schlechtes Bild ab, dass sie im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Gerhard Schröder einst „Ministerium für Frauen und so Gedöns“ nannte, verharren muss. Ihr Lieblingsprojekt, die Internetsperren, wurde ihr bereits im Vorfeld entzogen, so dass der unaufhaltsam scheinende Aufstieg der blonden Niedersächsin erst einmal gestoppt ist.

Fünf Ministerposten konnte sich die FDP sichern. Neben dem unvermeidbaren Außenminister Westerwelle gibt es künftig noch zwei alte, einen neuen und einen überflüssigen FDP-Minister. Justizministerin wird künftig Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Es ist zu hoffen, dass die bekennende Bürgerrechtsliberale den Raubbau an den Bürgerrechten aufhalten kann. Die undankbare Rolle, den Ärzten künftig zu erklären, dass man es mit seinen vollmundigen Versprechen nicht so ernst meinte, muss künftig Philipp Rösler wahrnehmen. Wirtschaftsminister wird erwartungsgemäß der joviale und wirtschaftsliberale Pfälzer Brüderle.

Die wohl abstruseste Personalentscheidung betrifft allerdings das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ausgerechnet Dirk Niebel, der dieses Ministerium eigentlich abschaffen und dessen Aufgaben an das Außenministerium ausgliedern wollte, wird nun neuer Entwicklungsminister. Ob er sein eigenes Ministerium nun abwickeln wird? Eigentlich war Niebel für das Arbeitsministerium vorgesehen und Jung sollte den reichen Onkel aus Deutschland mimen, der weltweit Geschenke verteilt. Dirk Niebel, der stets lautstark die Abschaffung der Arbeitsagentur, den Abbau des Kündigungsschutzes und die Ausweitung des Niedriglohnsektors propagiert, wäre für das Land allerdings doch eine Spur zu schrill gewesen.

Telepolis hat eine Umfrage geschaltet: Die Tigerentenkoalition hat ihr Programm vorgelegt. Wird damit ein Aufbruch stattfinden?